Ach ja, es wurde gewählt.
Die Welt ist kompliziert geworden und deshalb stehen die Parteien hoch im Kurs, die einfache Lösungen für schwierige Sachlagen anbieten, das war immer so und wird auch weiterhin so bleiben, auch hier im so ziemlich reichsten Bundesland. Vor den Ergebnissen der Europawahl hier im wohlhabenden oberbayrischen Landkreis BGL kommt mir das kalte Grausen und ich bin wieder heilfroh, daß wir (noch) freie, geheime Wahlen haben, denn womöglich könnt ich vielen Menschen nicht mehr unbefangen begegnen oder in ihren Geschäften einkaufen, wenn ich wüsste, was sie gewählt haben. Der bairische Landesvater, der ein Franke ist, schaute erstaunlich entspannt in die Kameras. Jetzt ist natürlich, wie immer nach einer Wahl landauf landab die Stunde derer, die wissen, was alles schiefläuft in diesem Land und was „die Ampel“ alles falsch macht und wer alles schuld ist an unserer Misere usw. usw.
Ich bin immer noch heilfroh darüber, daß dieses Land, in dem ich lebe, zumindest derzeit noch demokratisch und ohne Krieg regiert wird, mit allem was dazugehört und mit allen Fehlern, die Menschen machen können, mit allem Drum und Dran. Noch dürfen Menschen den größten Blödsinn von sich geben, ohne daß ihnen der Kopf abgeschnitten wird oder sie in den Kerker geworfen werden. Daß ich immer zu wenig Geld habe und daß wir uns nicht leisten können, auf unser uraltes Haus ein neues Dach zu setzen liegt sicher nicht an der Ampelregierung, sondern daran, die Abzweigungen im eigenen Leben, die zu Wohlstand und Sicherheit geführt hätten, verpasst oder verweigert zu haben.
Grad ist mir ein Buch untergekommen, das der leider längst verstorbene österreichische Psychiater Erwin Ringel herausgegeben hat, es handelt von „Politverdrossenheit und Identität“. Erwin Ringel war ein überaus kluger Mann mit Charisma, ich habe ihn sehr geschätzt. Für dieses Buch mit Aufsätzen verschiedener Autoren hat er einen Titel gesucht und ist an einem Ausspruch von Viktor Matejka hängengeblieben:
„Ich bitt Euch höflich, seid´s keine Trottel!“
Eine wahrlich weise Aufforderung.
Tempora mutantur
et nos mutantumur in illis – hat irgend ein alter Römer irgendwann gelehrt von sich gegeben.
Oder – wie unsere alte ehemalige Pächterin immer sagt: „Heit is ois anders“ (Heut ist alles anders) Sie mußte aus ihrem Leben alleine in der Küche in ein winziges Zimmer im Altenpflegeheim wechseln. Es wurden praktisch die Einsamkeiten ausgetauscht. Nach dem Schlaganfall regeln sich manche ansonsten selbstverständliche Abläufe ihrer Körperlichkeit nicht mehr normgerecht, sondern entwickeln eigene Gesetzmäßigkeiten, was Ein- und Ausfuhr von Flüssigkeiten und Nahrung anbelangt. Sie bräuchte viel Betreuung, gutes Zureden, Trösten und Ansprache. Die ist extrem erschwert, denn die Hörgeräte funktionieren nicht, das Gehör hat sich verschlechtert. Ich schreie mir förmlich die Seele aus dem Leib, wenn ich bei ihr sitze und wir so plaudern wollen, wie wir das seit vielen Jahren tun. Man sagt mir, die Demenz sei fortgeschritten. Ob das so ist, kann man erst feststellen, wenn sie wieder besser hört, glaube ich.
Das Heim tut sicher, was ein Heim leisten kann, z.B. im Kreis sitzen und Kindergartenspiele machen und dann zur Belohnung ein kleines Eis, das alle freudestrahlend aus den Bechern löffeln, die Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben und Teil der Gesellschaft waren, die Kinder großgezogen haben und die Alten in der Familie versorgt, sitzen jetzt da und nach dem Stuhlkreis werden sie wieder in ihre Zimmereinsamkeiten verfrachtet. Das Haus ist groß und die langen Gänge glänzen und hallen bei jedem Schritt und ich frage mich, wie man sich da in diesem Zimmer – Wirrwarr auskennen soll und ich bewundere M. wie sie den richtigen Knopf drückt im Aufzug und dann sofort mit ihrem Rollator die richtige Richtung findet und nach ein paarmal ums Eck rum auch in ihr Zimmer. Ich gehe hinter ihr und sehe, daß die Hose inzwischen naß ist.
Ich mag sie sehr, bald hat sie 83. Geburtstag. Sie hat so schwer gearbeitet, nicht nur daheim, sondern auch als Pächterin um unseren Hof herum. Sie war eine Meisterin im Mähen mit der Sense, flink und fleissig war sie ein Leben lang, hat ihre Schwiegermutter 17 Jahre lang gepflegt und mußte immer den Mund halten und das tut sie jetzt auch, sie fügt sich in ihr Schicksal, wie sie das schon immer getan hat, was sollte sie auch anderes machen.
Das Regnen wird zwischendurch unterbrochen von glühender Hitze, wir hatten ein paar Tage um die 30 Grad, dann wieder Regen und wieder und wieder Regen. Langsam schlägt mir das aufs Gemüt. Wie das die Rosen nur machen? Eine hat jetzt mitten im Dauerregen ihre prachtvollen Blüten geöffnet, wie ein Wunder. Ich habe gelesen, daß man anhand fossiler Funde nachweisen kann, daß es die wilden Rosen schon vor 25 Millionen Jahren gegeben hat. Das Geheimnis der Rosen dringt mit ihrem Duft in mein Herz und überflutet es mit Liebe zur Schöpfung.
Die Rose,
…
die Rose der Perser und des Ariost,
die immer allein ist,
die immer die Rose der Rosen ist …
Jorge Luis Borges
irgendwo im Großstadtdschungel treibt sich die Kraulquappe herum.
ich bin berührt von der alten frau, der ehemaligen pächterin. so geht es, deshalb sollten wir solange es geht alles selbst regeln für die zeit, in der wir hilfe brauchen. nicht aufschieben, handeln, inkl. patientenverfügung und testament. und als gesellschaft versagen wir kläglich, solange es wie beschrieben läuft. das personal arbeitet am anschlag, altenheime als geldanlage sind pervers. ein hörgeräteakustiker könnte ja auch ins heim kommen, schlecht hören beschleunigt demenz.
du sprichst mir aus der seele, liebe Roswitha!