Ich komme von irgendwo her und fahre nachhause. Es ist der Abend vor Weihnachten und stockdunkle Nacht. Dampfende Nebelsuppe füllt das Tal, ich sehe kaum ein paar Meter, die Scheinwerfer ersticken im Wasserdampf. Alle Autos vor oder hinter mir biegen irgendwann ab und verschwinden, morgen ist Weihnachten, jeder möchte nachhause.
Nur ich fahre einfach weiter und immer weiter hinein in diese klebrig feuchte Nächtlichkeit. Ich gebe ihr nach, dieser Streunerin in mir, die sich herumtreiben will, wenn es dunkel ist und die Grenzen verschwimmen und die eine Welt sich mit anderen Welten vermischt und alles , was Orientierung gibt, verschwindet. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl von Freiheit durchströmt mich in diesem schier schwerelosen Gleiten durch Raum und Zeit…ich liege im Fluss und lasse mich mit der Strömung treiben…
Vor mir taucht eine Gestalt auf am Straßenrand, ein Mann mit einer Art Umhang und einem Hut. Mit Lederstiefeln watet er durch den Nebel und sieht aus wie ein Schäfer. Er kommt mir so bekannt vor und deshalb halte ich an, was ich sonst nie tue und frage, ob ich ihn irgendwohin mitnehmen kann. Sehr freundlich schaut er mich an mit sehr hellen Augen und nennt mir einen Ort, den ich nicht kenne, ein paar Kilometer weiter.
Im Radio läuft ausnahmsweise schöne Weihnachtsmusik, die Stimmung im Auto wird feierlich, mir ist ein wenig sentimental zumute und der freundliche Fremde riecht nach nasser Wolle und ein wenig nach Zimt und Glühwein. Ich überlege ständig, wo ich diesen Mann schon mal getroffen haben könnte, aber da mir weder das noch sonst was halbwegs Intelligentes einfällt, sage ich nichts und wir schweben schweigend durch die Nacht.
Auf einmal weiß ich es wieder: „Sie sind doch der, der mich damals fragte, wo es denn zum Meer ginge und der, als ich ihm die Richtung gezeigt hatte, mir aus einem Buch vorlas…?“ „Man begegnet sich immer zweimal im Leben“, sagt er und lächelt. Dann deutet er zum Waldrand und ich halte an. Im Radio singt Freddy Mercury: „Thank God, its Christmas!“, und während ich den Fremden frage, ob er denn das Meer damals gefunden hätte, versuche ich nicht zu heulen bei diesem Lied…vergeblich, ich merke schon, wie meine Wange nass wird . Er sieht mich an und sagt: „Nein, damals nicht, aber jetzt habe ich es gefunden, es bilden sich erste Rinnsale, die Flut ist nahe“…und dann wischt er mir behutsam mit den Fingerkuppen die Tränen weg…die Autotür geht auf…was war das denn, hat er mir jetzt einen Kuss auf die Lippen gehaucht, kaum spürbar…nein, das war sicher der hereinquellende Nebel …
Der Fremde wird sofort von ihm verschluckt, dort vorne am Waldrand…wohin geht der denn eigentlich, da ist doch nichts, nur Wald, sehr merkwürdig, oder hab ich das alles nur geträumt…wenn da nicht am Beifahrersitz ein zerfletterter Zettel läge mit dem ersten Satz eines Gedichtes:
„Wenn man ans Meer kommt, soll man zu schweigen beginnen…(Erich Fried)
Im Radio singt immer noch Freddy Mercury mit engelsgleicher Stimme und ich singe mit ihm und dann fahre ich noch ein wenig im Nebel herum, aber irgendwann zieht es auch eine Streunerin nachhause , dann ist nämlich Weihnachten, thank God!
Es ist Weihnachten!
Das diesjährige 24T- Projekt ist hiermit zu Ende.
Vielen vielen Dank an alle, die mitgemacht haben und an alle, die täglich in die Türen hineinsahen!
Es war eine große Freude für mich!
Ich wünsche allen wundervolle und glänzende Tage und, daß wir uns alle gegenseitig an unseren Herzen wärmen können!
Viele liebe Grüsse und auf Wiedersehen hier, zwischen Himmel und Erde…
Eure Graugans