Archiv für den Monat: Oktober 2023

„Nachruf auf die Leere“ (Yamen Hussein)

Ich höre den Schlafenden träumen:
Teile dein Brot mit dem Fremden,
das Herz mit der Liebsten,
den Wein mit Vertrauten,
die Sitzbank mit Wolf und Derwisch.
Wirf keinen Stein ins Becken,
du verschreckst durstige Schafe.
Scheuche keine Vögel vom Weizenfeld.
Schließe die Tür nicht hinter dir,
lass deinen Schatten folgen.
Kaufe nur so viel du verdauen kannst.
Säe am Fenster,
was du nicht verkaufst, nicht einmal pflückst.
Betrachte dein graues Haar,
es zeigt, wie sehr die Eltern gealtert sind.
Begehe die Erde behutsam,
sie spiegelt deinen Körper.
Unterwirf dich nicht –
weder Gott, den Eltern noch einer Idee.
Glauben bedeutet zu lieben, nicht unterworfen zu
sein
und nicht zu unterwerfen.

Aus dem Buch: „Nachruf auf die Leere“
von Yamen Hussein

aus dem Arabischen von Leila Chammaa und
Jessica Siepelmeyer

Vielen Dank an Dincer Gücyeter, der mir erlaubte, dieses Gedicht von Yamen Hussein, das mich bis in den hintersten Herzwinkel getroffen hat, hier zu veröffentlichen! Yamen, der Dichter aus Homs/Syrien, hat 2014 sein Land verlassen.

mehr im www.elifverlag.de 

Foto: Michael Helminger

#26 Mein Vater und „der Wieland“ oder: wo wohnt das Glück?

Mein Sinn ist heute voll mit den Eindrücken des gestrigen Abends. Ich bin so voller Gefühle und muß mir noch mühsamer als sonst die Sätze darüber zurechtformen, vorsichtig, behutsam über eine Begegnung erzählen, die mir zu kostbar ist, um sie mit unbedachten Worten zu entzaubern.

Der Heimatverein einer unserer Nachbargemeinden, bei dem wir Mitglied sind, hatte eingeladen zu einem Abend mit Dieter Wieland. DER Dieter Wieland, eine Art Hausgott meines Vaters, der leidenschaftlich alle seine Filme im Bairischen Fernsehen gesehen hatte und die Bücher „Grün kaputt“ und „Bauen und Bewahren auf dem Lande“ so sehr und oft in der Hand hatte, daß schon die Seiten herausgefallen waren. Auch mich begleitet diese weiche, leicht melancholische Stimme, in der er in den siebziger Jahren über die katastrophale Zerstörung des Bauernlandes mit Flurbereinigung und der ersehnten Verstädterung, angeblich pflegeleichte Oberflächen, große Fenster, asphaltierte Dörfer, Glasbausteine, Eternitfassaden, monotone Rasenflächen und viel viel Krüppelkoniferen sprach. In seinen Filmen wollte er „den Zustand vor der Zerstörung, die Zerstörung und dann den Zustand nach der Zerstörung und was dann entstand“ zeigen, so sagt er. Den Blick schärfen für das, was mal war und was dann daraus entstand. Eine seiner Antriebsfedern sei ein Spruch von Hilde Spiel gewesen: „Wenn man es hinnimmt wie es ist, dann heißt das , daß man sein Land nicht mehr liebt!“  Er hat viel Ärger bekommen, und ist heftigst angegriffen worden, auch mein Vater hatte es mit haufenweise Unverstand und Kopfschütteln zu tun, wenn er bei jeder Gelegenheit Dieter Wielands Filme zitierte, weil er dachte, vielleicht glauben sie dem Mann im Fernsehen mehr als ihm. Weit gefehlt. Der Nachbar saß da und schimpfte, daß schließlich der Bauer auch mal nach der Stallarbeit eine heiße Dusche wolle., worauf mein Vater sagte: aber die kannst Du doch auch ins alte Bauernhaus hineinbauen, aber das hat nichts genützt, Abreißen und neu bauen war die Devise, mit großen Fenstern. Ein Lieblingssatz von meinem Papa war: Da wollen sie alle diese großen Fensterlöcher, möglichst nach Süden und was passiert dann? Dann werden diese Fenster sofort mit Stores zugehängt, weil ja niemand reinschauen soll und überhaupt ist es ja im Sommer viel zu heiß.

Die meisten Filme von Dieter Wieland kann man inzwischen auf YouTube anschauen, die Bücher gibt es auch immer noch, und leider sind sie alle hochaktuell, die Zerstörung auf dem Land schreitet in schrecklichen Ausmaßen voran und ich bin sicher, das gilt nicht nur für Bayern. Wenn ich übers Land fahre und die Zersiedelung sehe, all die Solitärbauten … ein Zeichen unserer Zeit … Solitär-… all die Scheußlichkeiten, der Jodlerstil (ein sehr treffliches Wielandvokabular), nach wie vor der Deutschen Lieblingspflanze, die Krüppelkonifere … ich könnte die Liste der unbedachten Grauslichkeiten endlos weiterführen … wenn ich mir vorstelle, durch diese abstoßenden Haustüren zu müssen, nach dem Durchschreiten der widerlichen Schotter – „Gärten des Grauens“, da wundert es mich keineswegs, daß so viele Menschen in Depressionen verfallen. Geld allein ändert natürlich keineswegs das Bewußtsein. Wir bräuchten eine neue Aufklärung, sagt Wieland, wahrscheinlich hat er Recht, aber bis die kommt, sind alle alten Häuser abgerissen.

Einer meiner Lieblingssätze: „Alte Häuser brauchen Liebe, wie alles, für das wir Gefühl aufzubringen vermögen. Das ist vielen lästig geworden.“ (D. Wieland)

Und gestern Abend sitzen wir im vollen Pfarrsaal in Waging am See. Unser lieber Freund und Vereinsvorstand wollte uns eine Freude machen und hat uns Plätze reserviert am Tisch zwischen dem Chefredakteur der wunderbar aufmüpfigen oberbairischen und weit darüber hinausreichenden Zeitschrift „MUH“, einem Journalist der FAZ, dem Leiter des Landesverbands für Heimatpflege, der gerade einen grandiosen Artikel in der MUH über den bedauernswerten Zustand des vor fünfzig Jahren gegründeten Denkmalschutzes geschrieben hat und … mir gegenüber sitzen ein sehr freundlicher alter Herr mit Gattin. Dieter Wieland, ich erkenne sofort seine Stimme, alt geworden, aber immer noch so wohlklingend wie früher. Wir sehen den Film: „Unser Dorf soll häßlich werden“ aus dem Jahr 1973 und danach  sitzt Dieter Wieland auf der Bühne und erzählt.

Und nachher verlassen alle den Saal und wir sechs Leute bleiben sitzen und reden einfach weiter, und wir erzählen uns gegenseitig unsere Geschichten und dann geschieht das, was man niemals planen kann, wir unterhalten uns und wir verstehen uns, weil wir Ähnliches empfinden und für die gleiche Sache eintreten. Und wir haben lang nichts mehr zum Trinken, das ist völlig egal, weil wir einfach erzählen und zuhören und erzählen. Dieter Wieland und seine Frau sind freundlich und menschenzugewandt und solche Gespräche sind pures Glück. Irgendwann sagte er zu seiner Frau, glaubst du nicht auch, wir sollten dann mal ins Bett gehen? Da war es schon lang nach Mitternacht. Aber bevor wir uns dann langsam auf den Weg machten, hab ich zur abgrundtief scheußlichen Decke des Pfarrsaals hinaufgewunken und gesagt: Schau Papa, Du hast ihn so verehrt und  hast immer gesagt, das ist ein ganz besonders Guter, und jetzt sitz ich ihm gegenüber und freu mich auch für Dich mit und dann sag ich:

Herr Wieland, ich glaub, ich soll sie jetzt grüßen von meinem Papa!

Damit das aber nicht zu peinlich wird für alle und dem Papa oben im Himmel hinter der Pfarrhausdecke und ich sowieso schon mit den Tränen kämpfe, gehe ich erstmal aufs Klo und dann verabschieden wir uns alle voneinander. Und wie das so ist, nach so einem wundervollen Abend, stehen wir noch vor der Türe und die Gespräche hören erst auf, als es regnet und mit guten Wünschen trennen wir uns in die schwarze Nacht hinaus … und Herr Graugans geht auf die Suche nach dem Auto, das geheimnisvollerweise nicht mehr da zu stehen scheint, wo er es abgestellt hatte.

 

Und da träumt die liebe Kraulquappe

#25 La linea lumaca dell tempo

Die Kraulquappe und ich werden auch weiterhin parallel zueinander das aufschreiben, was uns an einem bestimmten, gemeinsam festgelegten Zeitpunkt grad so in den Sinn kommt. Dieser Punkt soll beweglich bleiben und darf sich im Raum der Zeit einen neuen Ort suchen. Ab heute ist sein Platz der Mittwoch um 16.35 Uhr, da bleibt er vorerst bis auf weiteres.

Es dämmert schon, und es ist erst halb fünf am Nachmittag. Es geht auf Allerheiligen zu. Vom alten Nußbaum fallen die Nüsse herab. Ich sammle sie auf und lege sie zum Trocknen dorthin, wo sie seit vielen Jahren immer schon liegen. Auf einem alten Gitter, auf das man früher, lang bevor es die heutigen Lattenroste gab, im Bett die dreiteiligen Roßhaarmatratzen legte. Mindestens einmal am Tag müssen die Nüsse hinum und herum gewendet werden, damit sie nicht schimmeln. Heuer klebt an sehr vielen noch die schon eingetrocknete, zähe Schale, die man schlecht runtermachen kann. In den letzten Jahren, die extrem trocken waren, gibt es viel Abfall und außergewöhnlich viele taube Nüsse, die man aber meist erst erkennt, wenn sie später aufgeknackt werden. An der Beschaffenheit seiner Früchte erkennt man, ob es dem Baum gut geht oder ob er leidet. Unser alter Walnußbaum hat schon viel ungute Wetterlagen erlebt, aber diese Trockenheit Sommer wie Winter scheint ihn besonders zu schmerzen. Seltsamerweise kommen seit einigen Jahren auch vermehrt die Elstern und picken mit ihren scharf geschliffenen Schnäbeln große Löcher in die Nüsse. Wer aber haufenweise die Nüsse feinsäuberlich in zwei Hälften gespalten hat, die unterm Baum heute herumliegen, entzieht sich vorerst noch meiner Kenntnis.

Nachts gehen die Geister durchs alte Haus, auf und ab … manch eine Hand greift nach dem Stiegengeländer, begleitet Stufe für Stufe schwere Schritte,  Balken knarren, leises flinkes Tappen auf Holzböden, etwas streift an Wänden entlang, Kinder wimmern, Sterbende atmen schwer … manchmal ein Seufzer, selten ein Lachen. Der Kater Herbert scheint nichts davon zu bemerken, er schläft seit paar Nächten auf dem Sand im Katzenklo, was nicht mehr viel Hoffnung läßt, daß er sich vom Kranksein wieder ganz erholen könnte. Er nimmt alles so, wie es kommt, rollt sich zusammen und schnurrt  seiner weiteren Bestimmung entgegen.  Ich spüre die Geister, wenn sie da sind. Sie kommen zu ganz unterschiedlichen Zeiten, im Hochsommer, zur Erntezeit oder jetzt im Herbst, auch manchmal tagsüber, aber am liebsten zur Zeit nach Mitternacht. Ich frage sie nicht, sie lassen mich in Ruhe und brauchen keinen Kontakt, ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt bemerken.  Es ist, als hätten die, die hier gelebt haben, so etwas wie eine Art Schatten hinterlassen, etwas Schemenhaftes, einen Abdruck ihrer selbst, eine Parallelwelt, ein Hauch nur. Sie gehen durchs Haus, immer wieder gehen sie durchs Haus, treppauf treppab.

Ich halte mich dann ganz still und mein Stift zeichnet Linien, immer nur Linien, Schneckenlinien, die sich schlängeln und kreisen, die Zeit läuft unter ihnen hindurch, dreht Spiralen und dreht sich und dreht sich um uns herum, wir rasen durchs Weltall, auch wenn wir uns nicht bewegen, rasen wir durch Raum und Zeit und auf dem Flug verglühen wir.

Wir hinterlassen eine Blutspur von abgeschlagenen Köpfen, die einzige Spezies werden wir sein, die sich selbst ausgerottet hat.

Mein Stift kreist und kreist, Blatt für Blatt füllt sich mit Linien der Zeit. Gestern, auf einer kleinen kulturhistorischen Wanderung hat sich eine steile Schlucht gezeigt unterhalb eines Hügels, auf dem einst eine Burg stand, deren Rittergeschlecht längst vergessen ist und eine kleine Kapelle, die sich an den Burgberg presst. Ein Ort der absoluten Stille, nur ein paar km von hier, ein Geschenk, dort endlich hinzufinden.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn …“ (Rilke)

Ja.

 

Und hier das Paralleluniversum der Kraulquappe und was ihr so in den Sinn kommt am Mittwoch um 16.35 Uhr

#24 Hierhin und dahin

Man kann es doch verstehen, sagt die Nachbarin am Abend des Wahlsonntags nach Bekanntwerden der Ergebnisse. Ich hab „sie“ ja nicht gewählt, aber man muß sie halt verstehen, die Leute, sie sagen, wir haben immer noch mehr Ausländer hier und denen wird alles reingeschoben und wir  bekommen nichts … nein, das versteh ich ganz und gar nicht. Ja, mir ist das auch klar, daß diese Völkerwanderung über den ganzen Erdball große Probleme macht, Millionen Menschen sind unterwegs, suchen eine neue Heimat, weil sie es in der alten nicht mehr aushalten oder schlichtweg verhungern müssten. Ja, wir haben selbstverständlich Probleme mit den ganzen EinwanderInnen, da liegt sehr viel Arbeit vor uns und manches scheint unlösbar. Die Grenzen zu schließen, das ist mir zu einfach. Aber ich will keine Diskussionen mehr darüber, warum diese beiden Parteien populistisch so erfolgreich waren mit dem Verabreichen ihrer einfachen Antworten auf komplizierte Fragestellungen und den anfälligen Leuten honigsüßes Gift ums Maul schmierten, daß sie jetzt zweit- und drittstärkste Kräfte im Land sind.  Wir leben hier immer noch wie im Schlaraffenland. Ringsherum ist Krieg und Menschen werden gequält und umgebracht. Ich einige mich mit der Nachbarin drauf, daß die am meisten jammern, die Geld auf der Bank haben, die haben Angst, es könnt weniger werden. Es ist immer das Gleiche, die populistischen Schreier sind beliebt wie der Rattenfänger von Hameln. Wenn ich mir das Wahlergebnis hier vor Ort im Bergland anschaue, dann wird mir schlecht. Ich bin froh, daß die Wahl geheim ist, denn ich tät mich davor fürchten, wer alles sich der rechtsradikalen Marktschreierei zuwendet und an deren Giftinfusion hängt. Meine Güte! Aber ich denke nicht daran, die Hoffnung aufzugeben, denn es existieren auch noch andere Stimmen und andere Ansichten und es gibt immer mehr und mehr junge Menschen, die an konstruktiven Lösungen arbeiten, egal wieviel Steine ihnen von den ewiggestrigen Betonköpfen in den Weg gelegt werden.

Heute kommt plötzlich sandsturmartiger Wind über die Berge und fällt herunter auf den staubtrockenen Platz vor dem Haus. Flirrende Hitze und ratloses Verglühen zwischen Sommer und Herbst. Aus den Hagebutten fließt rote Farbe und läuft über den wilden Wein. Das Blut des Weißdorns rinnt am Stamm der Birke hinab, an die er sich schmiegt. Langsam verblutet das Jahr in der Illusion von Sommer, der längst schon Herbst ist.

Viele Weintrauben haben wir heuer, so viele wie noch nie, sie werden immer süßer. Weintrauben gab es früher nur, wenn jemand im Krankenhaus lag. Bei einem Besuch brachte man sie mit als Trost und Aufmunterung zum Gesundwerden. Manchmal, vor allem zum heiligen Muttertag, wurde meine Oma von denen besucht, die meine Mutter „Deine Mischpoke“ nannte und mein Vater „die ganze Bagage“. Da kamen dann seine Geschwister mit Anhang angereist und verwöhnten die Oma mit allen möglichen selbstgetöpferten Krüglein und anderen Merkwürdigkeiten, aber manchmal auch mit ein- zwei Weintrauben oder einer Orange. Das war auch für mich ein Festtag, denn die Oma schenkte mir gleich nach Verschwinden der Verwandtschaft einen Teil der Köstlichkeiten.

Daheim wuchsen keine Trauben, wir sind kein Weinland und es gibt auch an einem an den Hügel hingeduckten Bauernhaus hier im Voralpenland kaum Fläche, wo ein Weinstock wachsen könnte. Unserer ist deshalb auch ziemlich ungeschickt gepflanzt, wächst  über der Garage und wuchert gefährlich bis unters Dach und in die Dachrinnen hinein. Es erfordert schon heldenhaften Mut, ihn zu beschneiden, man muß hoch hinauf mit wackeligen Leitern und deshalb wuchert er überall herum und man kriegt das Garagentor nur noch mit Mühe auf und zu. Das Ernten kommt einer Mutprobe gleich, man hängt irgendwo im buschigen Nirgendwo und hat die süßen Trauben vor der Nase und wünscht sich ausfahrbare Arme …  das Glück ist groß, wenn man dann ein paar dieser wunderbaren, schwer erkämpften dunkelblauen Trauben in der Hand hat und sie beim Zerplatzen im Mund diesen göttlich-süßen Nektar freigeben!

Es ist  doch so … das Schöne und das Schlimme gibt es immer gleichzeitig. Im nahen Osten gehen die Bomben hoch, Menschen sterben, oder haben gräßliche Angst um die gefangenen Geiseln und wer kann sagen, wie kommen beide Seiten aus der Schuld, die man sich gegenseitig mit Raketen an den Kopf schießt, wieder heraus…

Und ich sitz mit der Freundin  zusammen und wir trinken einen Capucchino nach dem anderen und wir müssen soviel erzählen und soviel lachen und gleichzeitig könnten wir jederzeit auch weinen.

Die Dämmerung hat im Herbst eine ganz andere Farbe als im Frühling oder Sommer und es riecht ganz anders. Die Rosen nicken mal hierhin – mal dorthin im Abendwind.

Und hier schreibt die zwischen Wörtern und Bergen herumgehende Kraulquappe:

 

 

 

#23 Die Krähen sind auch wieder da

Nachdem ich den doppelt knieerneuerten Herrn Graugans in der täglichen Reha abgeliefert habe, fahre ich einen kleinen Umweg und setze mich auf einen großen Capucchino ins kleine Café beim Lieblingsbäcker. Ein angenehmer Platz in diesem völlig unscheinbaren Dorf direkt an der Salzburger Autobahn. Neben der Bäckerei ist die Kirche und neben der Kirche ist das Wirtshaus, so wie es sich gehört. Lange Zeit gab es keinen Bäcker mehr, der letzte einer alten Bäckerfamilie mußte aufhören und hatte keinen Nachfolger. Auch der kleine Edeka, Metzgerei, Friseur und Dorfdoktor sind weitergezogen. Aber welch ein Glück, der Bäcker, der die besten Brezn in der Region macht, nicht zu vergessen, die unwiderstehlich guten Nußbeugerln, hat hier eine Filiale eröffnet und einen Lagerraum,der früher ein Café war, wieder dahin zurückgebaut. Manchmal fahre ich mit unserer früheren Pächterin, einer alten Bäuerin hierher, es gibt einen Parkplatz direkt am Haus und sie muß mit ihren wehen Füssen nicht so weit gehen. Dann sitzen wir da und sie erzählt von dem Bittgang am Ulrichstag von Dorf zu Dorf, da haben sie auch hier gesessen, damals, vor so langer Zeit. Sie waren junge Mädchen und mit ein paar Pfennig konnten sie sich ein Kracherl (Limonade) leisten und dann haben sie aus dem Fenster eingehend die jungen Männer draußen am Kirchplatz angeschaut. Wenn sie davon erzählt, hat sie kleine Blitze in den Augen. Da lag das ganze Leben noch vor ihr. Sie mußte damals schon schwer arbeiten und so ist es auch geblieben. Jetzt ist sie 82 Jahre alt, krank und sitzt alleine in ihrer Küche. Und wenn ich sie abhole, dann sagt sie: „Gell, heut lassen wir es uns gutgehen!“ Und dann suchen wir eine Torte aus und sie vergißt für ein Stünderl den blöden Diabetes und alles andere, was innen und außen das Leben schwer macht. Und manchmal hört man durch den Lautsprecher den Pfarrer, der bei einer Beerdigung zu den Angehörigen spricht und man sieht, ob es eine „schöne Leich‘ “ ist, d.h. daß viele festlich gekleidete Menschen der/dem Toten das Geleit geben. Vor paar Tagen haben wir Geleitmusik gehört, einer hat die Zieharmonika gespielt, so wunderschön, daß mir weh ums Herz wurde, weil ich an meinen Papa, den Ziacherer, denken mußte, da hätte sich das genauso schön angehört.

Ich empfinde es als Ehre und Würdigung für ein gelebtes Leben, mit einer so schönen Musik in die Erde, die letzte Heimstätte des Körpers, hineingleiten zu dürfen.

Ich sitze gerne neben der Kirche und höre ihre Turmuhr schlagen und ihre Glocken bei den verschiedenen Ereignissen am Lebensweg, ob zu Beginn oder am Ende und, daß sie wie anderswo der Muezzin, die Gläubigen zum Gebet ruft. Und ich empfinde dabei meine christliche Prägung keinesfalls als Belastung, sondern als Glück.

Andere sehen das komplett anders, vor allem die, die in touristischer Absicht unterwegs sind und sich dann, wie die Verkäuferin berichtet, beschweren, weil sie sich bei der Übernachtung im Wohnmobil auf dem Dorfparkplatz vom Kirchturm beträchtlich in ihrer verdienten Urlaubsruhe gestört fühlen.

Manchmal hab ich den Eindruck, das oberbairische Bergland ist ein großer Ferienpark, leider gibts noch keine Chipkarte, wo man sich seinen Aufenthalt nach Erlebnis-Bedarf zusammenstellen kann … mit oder ohne Glocken, mit „Weißwürstchen“ zu jeder Tageszeit und mit Ketchup, wo die Brez „Brezzel“ heißt und man zu jeder Tag- und Nachtzeit „einen Maaas“ trinkt und die Mädels und Buas sich auf Knopfdruck drehen, bis man unter die Röcke kucken kann und leckere Jungs bei krachlederner Volxrocknroller- und zu Herzen gehender Gabaliermusik herum springen und Schuhe plättern… Hulapalu … hüben wie drüben ein Renner.

Beim nächsten Cafébesuch probier ich mal einen schwarzen Kuchen, sagt meine alte Freundin, schaumamoi, wer alles ins Geschäft kommt und ob ich jemand kenne … und ob sie mich kennen … Du weißt, wie ich das mein, Grete, gell!

The heart wants what it wants,
or else it does not care“…
Emily Dickinson, 1892 

Es ist mir ein Rätsel, wie die Kraulquappe trotz Radl- Hunde- Gepäcktransfer in unpünktlich- vollgestopftem Zug noch zum Schreiben kommt… Sie kann´s, weil sie sie ist! Gruß an dieses Wunderwesen!