Archiv der Kategorie: 24T (reloaded VI)

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 24: Finis

Wie schnell doch die Zeit vergangen ist. Jetzt ist die Vorstellung vorbei, hier in diesem imaginären Theater, alle Texte sind dargebracht und sprechen für sich, alle kreisen um die Mutter. Heute um Mitternacht beginnt die 1. Rauhnacht, den Müttern gewidmet.

Was bleibt mir zu sagen?

Habt meinen herzlichen Dank, daß Ihr meine Einladung angenommen  und mir so großes Vertrauen geschenkt habt. Ich weiß, manche Träne ist geflossen und Traurigkeiten sind aufgetaucht, vor manch einem Text bin ich heulend gesessen, überwältigt von schier grenzenloser Kinderliebe die sich aus Herzen herausgeschrieben hat und sich jetzt in die Welt verströmen darf… Ich sehe ein Bild vor mir:

Wir stehen hier zwischen Himmel und Erde und ich sehe Euere Herzen schlagen und hinter Euch allen sehe ich schemenhaft die Umrisse von Gestalten, die auch ein Herz haben, das schlägt … mir ist, als stünde hinter jedem und jeder sie, die Mutter, die uns hervorgebracht hat. Ich werde IHR heute Nacht eine extra Kerze anzünden, nur für sie … wenn Ihr wollt, macht mit … ich bin sicher, dieses Licht schickt seine Strahlen genau da hin, wo es gebraucht wird.

Es war ein sehr besonderes Projekt, ich bin glücklich über die wundervolle Zusammenarbeit, Ihr habt mich sehr reich beschenkt und ich bin sicher, nicht nur mich!

Nehmt meinen Dank mit und noch etwas:

Vor paar Wochen hat eine, die ich sehr schätze, auf Facebook ein paar Worte gepostet, die mich nicht mehr loslassen in ihrer schier unmöglichen Möglichkeit des Möglichen. Sie hat mir erlaubt, diese Worte Euch hier mitzugeben, in die Rauhnächte und in Eure Existenz:

LASST EUCH LIEBEN!

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter,Tag 23: Margarete Helminger

Eine zugesagte Textarbeit ist leider bis jetzt nicht bei mir angekommen, deshalb würde eigentlich heute die 23. Türe leerbleiben, aber es ist mir eine Geschichte zugetragen worden, die mich sehr tief berührt und die heute ihren Platz hier bekommen soll, heute, wenige Stunden vor der Heiligen Nacht, die man auch die Mütternacht nennt.

Vor einer Woche bekam ich einen Kommentar zugeschickt, der sich auf den Text „Es ist einmal  im Leben so“ bezieht, den ich hier am 7. April 2016 geschrieben hatte. Herr Michael Anton schreibt:

1946 im Viehwaggon aus meinem Geburtsort Karlsbad verfrachtet, das bin ich auch, allerdings in den Westerwald, nicht nach Bayern, Von daher waren wir mit Sicherheit nicht im gleichen Waggon, Aber in einem der beiden Zwischenlager vorm Abtransport, Meierhöfen I und II, könnten wir uns über den Weg gelaufen sein. Ich war allerdings erst sieben, tagsüber waren wir Kinder zwischen den ehemaligen Wehrmachts-Baracken uns selbst überlassen, irgendeine Art von Aufsicht wird’s schon gegeben haben, aber ich kann mich nicht erinnern, Die arbeitsfähigen Jugendlichen und Erwachsenen (außer den Alten wie meine Oma) mussten zum Ziegelklopfen und Ruinenräumen in die Stadt (auch auf Karlsbad waren einige Bomben gefallen). Jahrzehnte später erwähnte meine Mutter mal, wie die sie bewachenden ‚Revolutionsgardisten‘, mit MG bewaffnet, immer wieder die Attraktiveren unter den jungen Frauen und Mädchen herausdeuteten und hinter die Ruinenmauern führten. Aber ich habe einen Abend in Erinnerung, da hatten sich viele in der Waschbaracke versammelt, ich und ein paar andere Knirpse im Schulkindalter standen auf irgendwelchen Vorsprüngen, Fensterbänken oder an die Wand geschobene Tische. Die Waschbaracke hatte keine Wandwaschbecken, wie wir sie normal kennen, sondern über den Raum verteilt waren mehrere runde “Brunnen‘, jeder mit einer Säule in der Mitte, aus der Wasserhähne ragten. So konnten sich im Krieg viele Soldaten gleichzeitig waschen. Zwei von den jungen Männern, die aus irgendwelchen Gründen nicht deportiert oder den Russen überlassen worden waren, sondern mit ‚ausgesiedelt‘ wurden, hatten Mundharmonikas und spielten, was das Zeug hielt. Ich verfügte da weder über die Begriffe noch ein Unterscheidungsvermögen, Foxtrott sicher, Walzer /aus dem ‚Weißen Rössel‘ vielleicht, wer weiß?). Und die Erwachsenen hatten sich zu Paaren gefunden, viele Frau mit Frau natürlich, tanzten, lachten, scherzten, drehten sich im Takt, als gebe es kein Grauen, und in meiner Erinnerung haben sich die umrahmenden Locken und das strahlend offene Lächeln eines jungen Frauengesichts eingebrannt, als wäre ich in der Waschbaracke voller Harmonika-Töne, nach über 75 Jahren. Es wird kaum Ihre Mutter gewesen sein, aber was Sie berichten, vom ‚Licht durch die Hölle tragen“, da klingen die Stimmen zusammen, meine ich.

„Da klingen die Stimmen zusammen“ …  ja, das tun sie. Als ich diese irritierend bezaubernde und traurige Geschichte gelesen hatte, bin ich vollkommen fassungslos hinaus in die Nacht gelaufen und habe zu den Sternen hinauf meiner so sehr liebgehabten Mama Rotz und Wasser nachgeweint, die so ein strahlend offenes Lächeln hatte mit ihren damaligen zwanzig Jahren. Kein Zweifel, daß sie es war… nein, kein Zweifel. Was ist schon die Wahrheit? Einer erinnert sich 75 Jahre an ein Gesicht… genauso ein Gesicht hatte meine Mutter, wer sie sah konnte sie niemehr vergessen… weder ihr Lachen, noch den Glanz in ihren Augen. Und die Wahrheit … ach … das Gegenteil von allem ist ja auch wahr, oder?

Mit dieser Geschichte beende ich hier dieses Projekt. Aber, Ihr Lieben da draußen, kommt doch bitte morgen auf einen Sprung vorbei, für die letzte Türe hab ich vorgesehen, daß wir uns hier zwischen Himmel und Erde nochmal versammeln, ich möchte mich bedanken bei Euch und ein paar Worte zu Euch sagen, bevor alle sich auf den Weg machen und meine Bühne wieder luftig und leer sein wird.

Bis morgen!

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 22: Claudia Kilian

Kriegskind. Geboren im Bombenhagel einer Industriestadt. Im Mutterleib schon an das Heulen der Sirenen gewöhnt, das Krachen der abgeworfenen Bomben gehört. Den Soldatenvater als Eindringling erlebt. Sich geschämt. Für Armut und Kneipengeruch.

Herangewachsen und hübsch geworden. Kokett. Pläne im Kopf. Zukunftsfantasien.

Ein Basta stoppt jede Möglichkeit zur Ausbildung.

Sie traf den einen und zusammen genügten sie sich. „Ich war verheiratet, hatte zwei Kinder und war mit dem dritten schwanger, aber wählen durfte ich nicht.“ Sie wiederholte es oft, es schien ihr etwas auszumachen. Für Parteipolitik interessierte sie sich nicht.

Die Kinder, sie schrien zu schrill. Sie weinten zu viel. Sie lachten zu laut. Sie störten so sehr.

Nichts konnte diese Leere füllen. Nicht die neueste Waschmaschine, der Kühlschrank, die Stereoanlage, der Fernseher, die größere Wohnung, das Haus im Wald, die neue Stadt und die nächste Stadt, die Wohnzimmerwand, der immer höhere Kredit. Immer weiter, immer weiter. Neue Leute, neue Freunde, neue Leben, neue Arbeit.

Immer weiter. Nicht anhalten, nicht innehalten.

Nur keine Ruhe.

Die Kinder, sie wurden älter und gingen dann wieder. Freiwillig oder mit unverhohlenem Druck.

*********

Heute sitzt sie still.

Diese schreckliche Krankheit hat zugeschlagen. Hat ihr die Zeit und den Ort geraubt.

Sie begrüßt mich freundlich und fragt vorsichtig, wie es den Kindern geht.

Das ist klug, denke ich. Deine Kinder, wäre falsch. Sie geht das Risiko nicht ein, falsch zu liegen.

Den Kindern geht es gut, sage ich. Allen Kindern geht es gut.

Das ist schön, sagt sie. Das ist sehr gut.

Text:  Claudia Kilian

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 21: Andreas Glumm

Sag Mutter, ich hab Scheiße gebaut

Am Abend zuvor hatte ich schwer getrunken, in meinen 32. Geburtstag rein, mit Karlos und anderen Verwirrten, im Mumms, unserem großen verrauchten Wohnzimmer. Das war Usus. Das war 1992. Wenn jemand Geburtstag hatte, traf man sich am Tresen und die Zapferin spendierte zunächst ein Tablett Bier, als Starterpaket. Und dann gings weiter. Dann gings los. Bier, gekühlte Schnäpse, vor der Tür kiffen, im Auto koksen, alles was ging.

Und was nun den nächsten Morgen betraf, da gab es regelmäßig zwei verschieden verkaterte Zustände. Den einen, wo ich immer noch so betrunken und voller Speed im Blut erwachte, dass ich das Gefühl hatte, den Rock’n Roll neu zu erfinden, und den anderen, wo ich, kaum wach geworden, so deprimiert am Bettrand hockte, dass ich mich fragte, wie zum Henker ich diesen Tag überstehen sollte. Wenn in der Frühe der Blues anrollte, die Depression, das war, als übernähmen schwarze Männer das Kommando im Maschinenraum.

Eigentlich bin ich ja der Meinung, wenn schon eine Borderline-Depression, dann eine schusselige Borderline-Depression. Wo man zwischendurch einfach mal vergisst, wie mies drauf man ist. Damit lässt sich arbeiten.

*

Nachmittags überraschte mich die Gräfin, vier Tage vor ihrem eigenen 30. Geburtstag, mit einer kleinen Käsesahnetorte, obenauf 32 bunte Spaßkerzen, die sich, sobald man sie ausblies, sofort wieder selbst entzündeten. Dieses Spielchen, das kein Ende zu nehmen drohte. Ich pustete die Kerzen aus, sie entzündeten sich wieder von selbst. Egal, wie kräftig ich Luft holte.

“Die scheiß Dinger gehn überhaupt nich aus!” rief ich erbost und zweiunddreißig Jahre alt. „Das ist Sisyphus!“

Scheisse, war das anstrengend. Ich war ziemlich hinüber vom Saufen. Ich mein, ich hab mich solche Sachen nie gefragt, ich hab es stets als gegeben hingenommen, als vom Schicksal dazu verdonnert, irgendwann als Trinker zu enden, als Junkie, als Tabakraucher, doch jetzt, wo ich älter werde und nur noch das nötigste zu mir nehme, also, da frage ich mich schon, warum ich eigentlich ständig diese Drogen in mich reingeschüttet habe. Ich hätte es ja auch sein lassen können.

Oder etwa nicht.

Ich erinnere mich an einen Tag in den späteren Neunzigern, als ich innehielt und dachte: wenn du dir heute noch ein Pack besorgst, dann kannst du nicht mehr zurück. Dann schaffst du es nicht mehr. Dann ist es zu spät. Dann bist du genau in dem Kreislauf gefangen, der dich einst so abgestoßen hat, weil all die süchtigen Bekannten am Ende nur noch tumb und wächsern rüberkamen. Und schon stapfte der Desperado in mir los und besorgte sich Pulver. Fast schon ein bisschen stolz, eine Entscheidung getroffen zu haben. Zwar eine, die in den Untergang führte, aber immerhin, eine Entscheidung.

*

Später an meinem Geburtstag im September 92 holte meine Mutter mich zu Hause mit dem Wagen ab und wir fuhren in die Stadt, Schuhe kaufen. Unser jährliches Ritual. Es gab zum Geburtstag ein Paar Schuhe oder eine neue Hose, eine neue Jacke – irgendwas Praktisches. Für den Jung. Ein Ritual, das irgendwann in dieser Zeit endete. Möglicherweise war es 1992 das letzte Mal, dass wir den Geburtstag auf diese Art begingen, Mutter und ich.

Es gab Dinge zwischen uns, die sich unnatürlich lange hinzogen. Dazu gehörte das Schneiden der Fingernägel. Weil wir keinen Knipser im Badezimmer hatten und ich nicht in der Lage war, mir selbst (mit links) die Fingernägel der rechten Hand zu schneiden, mit der Nagelschere, übernahm meine Mutter die Grundpflege, die Nagel-Toilette, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wo ich von zu Hause auszog. Da war ich 21. Aber es hatte auch etwas, es war eine schöne kleine Intimität, die wir uns bewahrt hatten. Ich legte meine Hand in ihre, und sie begann die Nägel zu schneiden – nicht zu schnell, nicht zu langsam, und vor allem: nicht zu kurz die Nägel, genau richtig eben. Ich glaube, wir haben uns dieses kleine Ritual so lange bewahrt, weil es einen Moment der Nähe gestattete zwischen Mutter und Sohn. Ich roch gern das Nivea auf ihren Wangen, und ich schaute mir gern ihre Hände an, so wie ich als Kind nicht genug von den Händen meiner italienischen Großmutter bekam. Von den Adern, den blauen Schlangen.

Wir parkten in der Tiefgarage des Turm-Zentrums, wo ich nachts im Turm-Hotel als Nachtportier arbeitete. Mutter erzählte irgendwas von Tante Sonja, ihrer Schwester, ich saß auf dem Beifahrersitz. Ich war ziemlich mundfaul. Platt vom Saufen, kein Pulver in der Tasche. Im Karstadt wurden wir schnell fündig. In der Schuhabteilung. Ein Paar dunkelrote Wildlederhalbschuhe Landlord Italy, 179 Mark.

(Schuhe sind wie Zähne. Jeder achtet beim Anderen darauf, wie sie in Schuss sind.)

Im Karstadt-Restaurant tranken wir noch eine Tasse Kaffee, als zwei Tische weiter plötzlich Kilian Platz nahm, mit dem Tagesgericht auf dem Plastiktablett. Kilian, mein damaliger Heroindealer. Wir grüßten uns überrascht per Handzeichen, und mein Herz tat einen Sprung. Ich war auf der Stelle so scharf auf Schore, dass ich automatisch gute Laune bekam. Kilians Anblick hatte den Knopf in mir gedrückt. Den Überbringer von Rauschgift zu sehen war für mich gleichbedeutend mit seiner euphorisierenden Ware. Da saßen plötzlich 70 Kilo Lebend-Morphin in meiner direkten Umgebung, nur zwei Tische entfernt, im Warenhaus. Ich fieberte wie im Tagtraum. Mein Mutter hatte mir zum Geburtstag etwas Geld geschenkt, obenauf zu den neuen Halbschuhen. Ich konnte mir also eine Kleinigkeit leisten. Genug, um auf die Beine zu kommen und den Nachmittag mit Mutter erträglicher zu gestalten.

„Ich geh mal jemandem hallo sagen”, sagte ich und schwang rüber zu Kilian. Er schwitzte. Er sah schlecht aus.

“Ich glaub, ich krieg grade einen Affen,” sagte er und riss die Augen auf. Er hatte Pupillen wie Wagenräder.

Ich verstand nicht.

“Hast du was dabei?” ließ ich mich nicht beirren.

“Nee, jetzt muss ich mich erstmal um mich selbst kümmern“, zischte er. „Das sieht man doch wohl, oder?!”

Er stand genervt auf, packte das Tablett mit dem vollen, noch nicht angebrochenen Teller (Nudeln mit Sahnesauce) und brachte es zur Kasse zurück. Er redete mit der Kassiererin. Ich hörte was von „Warmstellen“ und dass er in 10, spätestens 15 Minuten wiederkäme. Kilian drehte sich kurz zu mir um, machte ein Handzeichen: ruf mich später an, während ich schlechtgelaunt zu Mutter zurückkehrte.

“Was ist denn mit deinem Bekannten?”

“Dem ist schlecht geworden. Dem geht’s nicht gut.”

“Ja, aber nicht vom Essen, oder? Der hat doch gar nichts gegessen. Der hat sich doch gerade erst zum Essen hingesetzt.”

“Ja. Weiß nicht. Keine Ahnung.”

Scheisse. Arschloch. Irgendwas stimmte da nicht. Wahrscheinlich hatte er eine Lieferung nicht bekommen und nun rationierte er sein Pulver so drastisch, dass er mit beginnendem Affen unterwegs war. Aber, um im Karstadt etwas zu essen…?! Kein Junkie hat je Hunger, wenn er affig ist.

*

Um 22 Uhr am selben Abend begann meine Nachtdienstwoche. Sieben Nächte am Stück. Auf dem Weg zum Hotel klingelte ich bei Kilian, der über der Pizzeria wohnte, doch er öffnete nicht. Es war auch kein Licht zu sehen im Dachgeschoß. Mir blieb nichts anderes übrig, als die erste Nacht im 32. Lebensjahr clean zu verbringen.

Die Rezeption befand sich oben im 11. Stock des Turm-Zentrums, bei klarer Sicht konnte man bis Köln gucken, oder bis Leverkusen, aber wer wollte schon bis Leverkusen gucken. Was gab es da schon zu sehen, außer das beleuchtete Bayer-Kreuz in der Nacht und ein paar tausend Industrie-Arbeitsplätze. Freunde, die im Hotel zu Besuch kamen, standen gern am Panoramafenster im Frühstücksraum und genossen die Aussicht. Sie wollten wissen, wo Köln lag, wo Düsseldorf. Sogar nach Holland fragten die Leute. Aber nach Leverkusen? Nie fragte jemand, wo liegt Leverkusen. Ich meine, es leuchtete das rote Bayer-Kreuz in der Nacht, es funkelte so frostig, dass jeder sofort wusste:

Leverkusen.

*

Ein paar Tage nach dem Geburtstag besuchten die Gräfin und ich meine Eltern, wir standen auf dem Balkon. Die Sonne schien auf die Tannen, sie dampften in Reih und Glied. Die Gräfin fummelte mir eine ausgefallene Wimper von der Backe und hielt sie mir hin, auf einer Fingerkuppe, zur Begutachtung. Dann durfte ich die Wimper wegpusten und mir dabei etwas wünschen. Noch bevor ich fertig war, rief sie erschrocken: „Scheiße! Jetzt hab ich mir aus Versehen auch was gewünscht..! Ich meine, nicht dass das eine Rückkopplung gibt, hinterher!“ Sie verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas Saures gebissen.

Später stand ich mit Mutter auf dem Balkon. Nur wir beide alleine. Sie kam auf das Paar Schuhe zurück, warum ich es nicht anhatte. Nur so, sagte ich. Dann fragte sie mich aus heiterem Himmel, ob ich Heroin nähme. Sie fragte nicht, Andreas, mein Sohn, nimmst du Drogen? Rauchst du Hasch oder so ein Blödsinn. Nein. Sie fragte mich schnurgerade ins Gesicht: Nimmst du Heroin? Ihr Ton war nicht böse, auch nicht ängstlich, nein, einfach neugierig. Ich war so baff, die Frage von Mutter zu hören, dass ich ihr aufrichtig ins Gesicht lügen konnte. Ich? Heroin? Bist du verrückt? Ja, wie kommst du denn darauf?

Nichts ist abstoßender im Leben als sich selbst beim Lügen zuzuhören.

Text:  Andreas Glumm

 

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 20: Christiane

Sie war Anfang 20, als sie Königsberg/Ostpreußen Richtung Deutschland verlassen durfte, und ich habe lange gebraucht, um zu begreifen: Das Schlimmste im Leben hatte sie (vermutlich) da schon erlebt. Ihr Vater war ein seefahrender, prügelnder Alkoholiker, ihre Mutter brachte den Mut auf, sich scheiden zu lassen, arbeitete als Straßenbahnschaffnerin und brachte sich und das Kind irgendwie durch. Die Folgen der Inflation. Hunger. Die Nazis. Der Krieg. Die Bomben. Die Zerstörung. Die Besetzung. Die Russen … »Es gab auch Gute«, in Details ging sie nie, aber sie lernte spätestens in jener Zeit das Unsichtbar-Werden, und ich fürchte, es war sehr nötig.

»Mama, was war mit den KZ?«
»Christiane, es wurde hinter vorgehaltener Hand darüber geredet, und wir haben gesagt: Das ist Feindpropaganda, ein Deutscher macht so was nicht.«

Meine Großmutter war politisch skeptischer, erfuhr ich. Die Thüringer Familie meines Vaters angeblich auch: Es gab ein Außenlager von Buchenwald in der Nähe, und Gefangene sollen auf dem Weg zum Arbeitseinsatz durch die Straßen der Stadt marschiert sein.

Meine jugendliche Mutter hatte mit aller Kraft an die Nazis geglaubt, und sie hat verstanden, wie sehr sie verraten wurde, wie groß die Märchen waren, die man ihr erzählt hat. Ihre Welt brach in jeder Hinsicht zusammen.

»Mama, was wolltest du mal werden?«
»Gutsrendantin.«
»Und warum bist du es nicht geworden?«
»Ich hätte weit weg in eine Schule gehen müssen, und dann kam der Krieg. In der Molkerei gab es immer was zu essen.«

Als mein Vater Anfang der 50er in ihr Leben trat, muss er unglaublich anziehend gewesen sein: ein großer Junge, zwar mit Kriegserlebnissen, aber relativ unbeschwert, humorvoll, feingeistig. Nicht bedrohlich, kein Draufgänger. Zugewandt. Liebevoll. Als Kind habe ich gedacht, er liebt sie mehr als sie ihn, aber möglicherweise konnte er es auch nur leichter (bzw. überhaupt) zeigen.
Gegensätze ziehen sich an, zum Glück wollten sie in die gleiche Richtung. Sie sind miteinander durch dick und dünn gegangen (zuerst in den Westen) und haben ansonsten sehr viel mit sich allein ausgemacht …

 

Wie war sie, die Mutter, die ich kennengelernt habe?

Reserviert. Distanziert. Kontrolliert.
Die, die die Arbeit macht.
Die, auf die man sich verlassen kann.
Sie versuchte, aus allem das Beste zu machen.
Sie ließ sich nur von ganz wenigen duzen.
Sie war stolz darauf, im Alter von über 50 noch den Führerschein gemacht zu haben.
Sie strickte und häkelte gern, bis die Fingerknöchel dick wurden und zu weh taten.
Sie hatte ein Händchen für Kuchen (nicht Torten) und Weihnachtsplätzchen. Und Christstollen!
Sie hatte einen grünen Daumen und fand das selbst erstaunlich. An ihren Fenstern gedieh alles.
Sie las. Buchclub zumeist, aber hey! Dicke Bücher!
Sie liebte im Fernsehen Serien mit Herz, Traumschiff und Quizshows.
Sie empfand »Pflicht« nicht als Schimpfwort, sondern als Selbstverständlichkeit.
Sie war gern unabhängig gewesen und hatte ihren Job als Laborantin geliebt. Sie war zumindest anfangs keine begeisterte Hausfrau und Mutter. Nachdem es dann aber sein musste, hat sie Leben und Haushalt organisiert und die Kleinfamilie zusammengehalten, Aufzucht der Tochter inklusive.
Sie hat sich eigentlich erst nach dem frühen Tod meines Vaters in ihre Nachbarschaft integriert – nachdem sie dort schon 24 Jahre wohnte.  Sie machte einen Unterschied zwischen »Heimat« (Ostpreußen) und allem anderen. Sie fühlte sich immer bisschen fremd.
»Was sollen denn die Nachbarn von uns denken?« (Ja, was wohl.) »Ding Moder war immer so fein aahn« (»Deine Mutter war immer so fein an« (-gezogen)), sagte unsere Nachbarin bewundernd. Sie hielt auf sich: Nach der Hausarbeit kam die Kittelschürze an den Haken und sie lief in Rock und Pulli herum. Heute liegen die beiden auf dem Friedhof nebeneinander. Erst Nachbarn, später befreundet, und ich freue mich, dass sie im Leben wie im Tod einander Gesellschaft leisten.

 

Meine Mutter interessierte sich für vieles nicht, eine bewusste Entscheidung – die ich ihr übel nahm und erst heute besser verstehe, wo ich akzeptiert habe, dass Mauern (auch/gerade im Kopf) Sicherheit bieten, nicht nur einsperren.
Sie ist in ihrem Leben in keinen Verein und in keine politische Partei mehr eingetreten, die örtliche Kindertanzgruppe ausgenommen.
Sie war selten überschwänglich, der Verstand kam vor dem Gefühl. Heute kann ich das nachvollziehen, aber dem Kind prägte sich ein, dass jede Form von lauter Ausgelassenheit nicht richtig ist.
Liebe war keine Frage, aber sie hätte mich nicht gebraucht.
Sie wollte, dass ich so werde wie sie. Überraschung – ich nicht.
Ich habe Kinderfotos von ihr und mir vergleichen können, die Übereinstimmung ist frappierend.
Ich weiß weder, wer sie hätte sein wollen, noch, wer sie hätte sein können. Ich bin ziemlich überzeugt, dass sie unter ihren Möglichkeiten geblieben ist, und das kann ebenso ihre eigene Entscheidung gewesen sein wie das Ergebnis einer unglücklichen Verkettung der Umstände.
Manchmal frage ich mich, ob sie glücklich war, alles in allem, und dann höre ich ihre Stimme sagen: »Glücklich nicht, aber zufrieden.«

Als Vatertochter begreife ich inzwischen, wie sehr ich auch die Tochter meiner Mutter bin, manchmal schmeckt mir das gar nicht, manchmal bin ich stolz darauf. Ich trage sie in mir, wie ich auch die schräge Familie meines Vaters in mir trage – was keine einfache Mischung ist – aber das ist auch ein weites Feld.

 

»Mama, wer ist die Frau auf dem Bild?«
»Das bin ich.«
Das Kind erkannte die lachende Frau auf dem großformatigen Foto, das über dem Sessel in der Wohnung der Großmutter hing, vielleicht nicht, aber ich liebte sie.

Text und Bild: Christiane

24T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 19: Silvia Springer

Mutmaßungen über meine Mutter? Eher ein … Hm?

Die Graugans hat gerufen, und was für ein Ruf das war!
Als sie zusagte, wusste sie, … dass es nicht leicht würde? Dass es praktisch unmöglich war, über die Mutter zu schreiben, daran dachte sie nicht.
Das war eine große Liebe, eine Symbiose, eine Abhängigkeit, ein Durchgang davon in ein neues Leben, in dem sie sich selbst gebären musste. Es kam der Moment, in dem sie keine Eltern hatte, nicht weil sie wütend, sondern … so erwachsen wie nie zuvor war. Zumindest in Momenten. In anderen tauchten wieder Muster auf. Die Stimme der Mutter, die keineswegs nur freundlich und liebevoll, sondern selbst bedürftig und stets erschöpft ihre schreibende Tochter eindringlich mahnte: „Das Schreiben wird dich unglücklich machen!“ Das hörte sie jetzt fast ununterbrochen. War der Mutter je bewusst gewesen, dass Schreiben für sie in Quell großer Freude war und sie nie daran gedacht hatte, nicht einmal annähernd, irgendwelche fürchterlichen Geheimnisse zu enthüllen? Durfte sie jetzt diesen Bann brechen?
Sie durfte nicht nur, sie tat es. Geheimnis hin oder her.
Das Schreiben war ihr Stab. Den holte sie sich jetzt zurück. Nicht zornig rachevoll, sondern: einfach liebend. Sie war ja selbst nicht mehr jung, und kannte mehr. Sie wusste, es gab nichts, egal wie schmerzhaft, das nicht … einfach nur vergangen, vergeben und sogar vergessen sein konnte. Ihre Mutter hatte sich die letzten sieben Jahre ihres Lebens durch ihre Demenz in die Vergesslichkeit einerseits und ins erbarmungslose Erinnern andererseits begeben müssen. Zuviel hatte sie unter den Teppich gekehrt in ihrer Not, denn nie war die Zeit für Reflexion gegeben. Es waren andere Zeiten, Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsjahre mit Verletzungen, die so tiefe Wunden schlugen, die niemals auch nur annähernd heilten.
Was sollte sie sich aufregen, dass sie nicht so geliebt worden war von der Mutter, wie … ja wie denn? Mittlerweile glaubte sie nicht mehr an viele Mythen, welche Mutterschaft umrankten, dazu wusste sie zu sehr, wie viele Kinder einfach erzeugt und in die Welt geschickt wurden, ohne je auch nur einen Tag Liebe, Zuneigung oder Zärtlichkeit zu empfangen.
Das Ringen um die Unabhängigkeit der Seele bei so hingebungsvoller, fast blinder Liebe von Tochter zur Mutter, das war ihr Thema, und sie, die Tochter, wohl eine Melodie in der Sinfonie ihrer Mutter. Loyalität, Hingabe, ja, Gehorsam. Die Stimme der Mutter begleitete sie tatsächlich auch bei jedem geleisteten Widerstand, mochte der nun sinnvoll sein oder auch nicht. Freiheitsliebend, selbstständig und dennoch immer der Mutter kleines, großes Mädchen.
Die Mutter liebte nicht nur, aber sie liebte doch. Und die Tochter liebte die Mutter zurück. Trotz Zorn, Wut, Trauer, Verständnislosigkeit über Verrat und Verlassenheit, beides so real und die größten Lehrmeister: liebst du? Trotzdem?
Ja. (Auf beiden Seiten ein Ja.)
Vor Jahren, Jahrzehnten mittlerweile hatte sie einen Traum, der enthüllte ihr den Wesenskern ihrer Liebe. Ihrer Liebesgeschichte, wenn man so sagen will. Das ist der Traum:
***

Eine Seele suchte eine menschliche Mutter, um zur Welt zu kommen. Sie, die Seele, hatte die Form eines Minotaurus in der Größe eines Daumens. Ein Däumling-Minotaurus also.

Sein menschlicher Körper sah nicht übel aus. Er hatte hübsche, kräftige Waden und Schenkeln auf weder zu großen noch zu kleinen wohlgeformten Füßen. Sein Oberkörper war ebenso muskulös wie seine Arme, mit schönen, ja, fast zarten Händen. Er war biegsam wie eine Weide und dennoch kraftvoll. Sein Körper wirkte wie der eines Mannes, welcher sich viel und gerne in der freien Natur bewegte, ein Waldläufer etwa.

Von den Schultern aufwärts allerdings war er ein Stier, mit einem Fell so schwarz und glänzend wie poliertes Ebenholz, großen, feucht schimmernden Augen, leuchtend wie Bernstein in der Sonne, langen Wimpern und blähenden Nüstern, seidig weich und weiß. Seine anmutig geschwungenen Hörner ließen eher an Europas Stier denken als an das Ungeheuer aus dem Labyrinth des Minos, welches angeblich Dutzende von Jungfrauen und Knaben verschlungen hatte. Dieser Däumling-Minotaurus war auf der Suche nach einer menschlichen Mutter, um erneut in der Welt der Menschen zu leben. Er huschte durch die Räume des Universums und gelangte in ein Haus mit vielen Zimmern, verbunden durch Türen und Fenster, die teilweise offenstanden. Die Räume standen leer, lediglich weiße Vorhänge blähten sich in der Zugluft. Schatten, hervorgerufen von diffusen flackernden Lichtern im Hintergrund, huschten über die nackten Wände und Säulen.

Der Minotaurus wusste, er bräuchte eine Mutter, die zu besonderer Liebe fähig wäre, denn es war ihm klar, was er war: wenn auch nur daumengroß, so doch ein Monstrum.

Er sah aus wie ein Ungeheuer, das ließ auf einen verkommenen Charakter schließen, wenn er den Erzählungen Glauben schenkte, die über ihn, den Minotaurus, kursierten. Anfangs, bevor er diese haarsträubenden Gerüchte gehört hatte, bewegte er sich völlig ahnungslos in Bezug auf sein Äußeres vor anderen Reisenden. Deren Reaktionen auf seine Erscheinung ließen ihn zum Schluss kommen, dass er wahrlich verabscheuungswürdig sein musste. Er konnte Angst und Ekel auf den Gesichtern derer erkennen, die ihm begegneten. Das erschreckte ihn und stürzte ihn in tiefe Verzweiflung. Er vermied seitdem sein eigenes Spiegelbild. All die schmerzhaften Erfahrungen mit anderen hatten ihn scheu gemacht, und er vermied Begegnungen so gut er konnte. Er war sehr einsam.

Er erinnerte sich allerdings an keine einzige der Gräueltaten, die über ihn berichtet wurden und ihm zu Ohren kamen. Er ernährte sich keineswegs von Menschenfleisch, sondern aß Gras, liebte saftige Blätter und mochte auch Wurzeln und Beeren.

So huschte er verstohlen und scheu durch die Räume auf der Suche nach der richtigen Menschenfrau. Ein Lichtstrahl fiel durch eine Tür, die nur einen Spalt offenstand. Der Däumling-Minotaurus hörte eine Frauenstimme, die ihn zusammenzucken ließ, so schön und ergreifend klang sie: seltsam tief und dennoch sanft, wie das zärtliche Brummen einer Bärenmutter. Sie summte eine Melodie vor sich hin. Die Töne lockten ihn an. Er lugte neugierig durch den Spalt in das dahinterliegende Zimmer. Er sah einen Tisch und einen Stuhl, eine Frau saß da und nähte im Lichtkegel einer Lampe. Ansonsten war es dunkel.

Der winzige Minotaurus vergaß vor Freude und Aufregung zu atmen: er hatte sie gefunden, die Frau, von der er wollte, dass sie seine Mutter wurde! Sie war so schön mit ihrem vollen, dunklen Haar, das sie aufgesteckt trug. Sie hielt ihre sanften braunen Augen konzentriert auf das Kleidungsstück gerichtet, an dem sie nähte. Ein Ausdruck heiterer Gelassenheit lag auf ihrem Gesicht, welches ebenmäßige Züge aufwies. Sie hatte eine angenehme Stimme, die Melodie klang heiter und leicht. Der Frau ging es offenbar gut in diesem Moment, sie schien glücklich und mit der Welt im Reinen. Sie nähte, zupfte an dem Stoff herum, hielt es ein wenig weg von sich, um ihr Werk zu betrachten, zupfte wieder daran herum und nähte weiter. Sie sang.

Der kleine Minotaurus schmolz dahin. Er lehnte völlig selbstvergessen an der Türe und empfand eine unendliche Sehnsucht nach dieser Existenz: glücklich, zufrieden, schön und liebevoll. Denn das alles schien auf die Frau zuzutreffen. Nach Jahrhunderten der Einsamkeit als Seele in einem hässlichen Körper, der Furcht einflößen konnte, sehnte er sich nach diesen Attributen. Ein Mensch von solcher Schönheit und Anmut musste geliebt werden, denn das war es, wonach der Däumling-Minotaurus sich am allermeisten sehnte: er wollte endlich auch einmal geliebt werden. Er spürte tief in seinem Herzen, das sowohl menschlich als auch tierisch war, dass ihn die Liebe erlösen würde, wovon auch immer, denn er wusste eigentlich nicht genau, was dies sein sollte.

Er seufzte tief und zuckte zusammen: er durfte die Frau nicht erschrecken, unter keinen Umständen durfte sie erfahren, wer er war. Er musste unerkannt in ihren Bauch schlüpfen, denn sähe sie ihn vor der Empfängnis, sie würde zu Tode erschrecken. Sie würde ihn ablehnen. Ganz sicher.

Er hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, als er sich an sie heranschlich. Allerdings wusste er, wenn sie ihn einmal empfangen hätte, würde sie ihn lieben. Und während der Zeit in ihrem Bauch würde er eine Verwandlung durchmachen, er käme in menschlicher Gestalt zur Welt, denn die Liebe hätte ihn geheilt, und alles wäre gut, er wäre ebenso schön und sanft wie seine Mutter, denn schließlich: Liebe gebar Liebe, nicht wahr?

Die Frau war tatsächlich bereit zu empfangen und so war es für den Däumling-Minotaurus ein Leichtes, seine Seele unbemerkt in ihren Uterus einzuschmelzen. Dort würde er auf den richtigen Zeitpunkt der Verkörperung warten, was in einer der kommenden Nächten tatsächlich der Fall war.

Wer der Vater sein würde, daran hatte er in seiner Aufregung und Freude über die Entdeckung seiner Mutter allerdings nicht gedacht. Die Unaufmerksamkeit oder vielmehr die Vergesslichkeit des kleinen Minotaurus bezüglich dieses wichtigen Details  gab dem weiteren
Geschehen eine Wende, mit der er nicht gerechnet hatte. Aber das ist eine neue Geschichte. Die steht auf einem ganz anderen Blatt.

***
Die Frau im Traum war tatsächlich meine Mutter. Mit den Wesenszügen, die ich besonders an ihr liebte. Sie war auch ungeduldig, überkritisch, hatte nie Zeit, musste immer arbeiten, selbst wenn alles bereits getan war. Hatte viel erduldet, das macht nicht nur zart.
So ist das. So sind wir. Alle sind wir geboren worden und ich glaube, rückwirkend, bei allem, was auch schmerzhaft war, habe ich dank der Tatsache, eine von meiner Mutter Geborene zu sein, gelernt, dass die Liebe die Kraft im Universum ist, die heilt. Alles.
Denn ihr gehört die Ewigkeit.
Danke fürs Dabeisein. In diesem Leben und in diesem speziellen Projekt. Ach. Graugans! Herzlich. Nein, Allerherzlichst. (Aber eine Mutmaßung ist’s wohl eher nicht …)

Text: Silvia Springer

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 18: Petrus Akkordeon

gänseblümchen

( bellis perennis )

diesen korbblütler gibt es nicht
dachte ich
die mutter
hat sich das ausgedacht
wie alles
andere irrtümer
später
verlor sie die wörter
jetzt ist sie tot
und eine baufirma
vernichtet
den garten
meiner kindheit
es gibt
keine gänseblümchen
und
niemand wird jemals sterben

petrus akkordeon
06122021

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 17: Kaschpar

als die mutter von den toten auferstand

„oh mutter der barmherzigkeit“

weißt du noch wie du mir die hand halten musstest am abend wenn ich krank und nie war zeit genug?

gei moidl des wiad schou

pommerland ist abgebrannt

mutter liegt im komaland

wir sind deine 3 töchter

alles mädchen <4 frauen> 1 quartett

wir teilen uns auf + bitten <beten> dich zurück

„hilf uns allen aus unsrer tiefen not“

wir stehen wACHe <sprechstunde der seufzer>

wir reden mit uns selbst

wir halten fremde freunde von dir (uns) ab

„es ist halt die mutter“

du hast mich befreit vom druck der entscheidung

die schwestern tragen die last

(ich könnts anders sehen aber so ist mirs lieber ich sehs so wie dus sagst was du auch meinst)

faißeln kann dei katja

gei spring schnöi

mir hom zvü ahwat khoot koa zeit zum gai

während wir mit dir durch dich an den maschinen hängen rennt die wichtigkeit der welt draußen emsig vorbei

wir aber sind rausgefallen

unsere köpfe stecken tief in intensiver sorge

„lass uns nicht verderben“

geschichten die zu schreiben sind: über den unterschied zwischen ersehnen+erwarten

wir erINNERn uns der vergangenzeit

kann man 1 gefühl speichern + später vergleichen?

wir halten deine hand/uns an dir fest/durch

holz schLichten/steine klauben/knödel drehen

dou na schei langsam – oans nachm andan

aitz schauts schou herwarts

aitz homma des a wieda gschafft

all meine texte webst <lebst> du

wir warten (auf) dich

wir haben uns die wundeR <h|offenbar|ung> verdient

30 tage lang

wir werden

a) erwachsen

b) guter hoffnung

c) von der erde losgelöst

moagn schauts schou wieda anders as

„morgen früh wenn gott will“

als die mutter von den toten auferstand

konnte sie ihr glück nicht fassen

es brachte sie fast um

unseren verstand

sie hat uns nicht erkannt

wir aber lassen nicht mehr los

wir schieben dich <unbeirrt> durch die station

wir zwingen dich <reanimiert>

rehABILItation

schöüb aa zaich aa druck draaf des geit schou

bis du wieder – – –

aitz watt zerscht – schau na aaf di

gei na zou i kumm schou zrecht

gemma schei langsam waida

– – – weißt wer wir sind

mi hod aa koana gfraugt

ihr kinnts des schnöi so a lächln aafsetzn

leech des hi woustas heahoust

1 lebenswillen muss man haben den kriegt man nicht geschenkt den muss man aus sich selbst erzeugen

weißt du noch wie du sagtest mir den so starken willen habest irgendwie brechen müssen (weils wohl so brAuch)?

des moidl spurt einfach niad

„dein wille geschehe“

mutmaßlich hab ich ihn von dir

wie die stärke die strenge die sturheit die stimme die stummheit die steifheit die stabilität die statur

nur die angst ist mir+uns von allen teil geworden

liebe mutter halte noch ein bisschen meine hand ich bin doch chronisch krank

foast mit mir nummoi in urlaub?

was haben wir hast du für 1 glück?

als die mutter von den toten auferstand

waren wir wieder

kinder

Text: Kaschpar

24T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 16: Maren Wulf

Liebe Margarete,

als du mir im Sommer schriebst und mich fragtest, ob ich einen Beitrag für deinen diesjährigen Adventskalender schreiben mag, habe ich erstmal eine Runde geheult. Das ist an sich nichts Besonderes, es passiert mir öfter in diesem kräftezehrenden Jahr.

„Mutmaßungen über meine Mutter“ – noch vor gar nicht so langer Zeit hätte ich wahrscheinlich gesagt, da brauche ich nicht zu mutmaßen, ich kannte sie ja. Ich war immer Mutters Tochter, später auch Mutters Vertraute, gelegentlich mehr, als für uns beide gut war. Sie gehört zu meinen absoluten Herzensmenschen. Noch heute, vier Jahre nach ihrem Tod, vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Spätestens seit dem Sommer spüre ich aber immer deutlicher, dass ich sie vielleicht doch nicht so gut gekannt habe, wie ich meinte, dass es da einen Teil gab, den sie ganz für sich behielt. Lag diese noch recht nebulöse Erkenntnis so sehr in der Luft, dass sie bis zu dir ins Berchtesgadener Land geweht ist? Ich staunte – und heulte.

Voller Elan trug ich die Kiste mit den persönlichen Dingen der Eltern vom Dachboden ins Wohnzimmer. Jetzt, Jahre nach beider Tod, wollte ich endlich einen genauen Blick auf den Inhalt werfen, auch auf die vielen Briefe aus der Zeit, als die Eltern noch keine Eltern waren. Ein paar Wochen später trug ich die Kiste unverrichteter Dinge wieder auf den Dachboden. Es war doch noch nicht der richtige Zeitpunkt. Nicht fürs Lesen. Und auch nicht fürs Mutmaßen. Was womöglich weniger mit meiner Mutter als mit mir selbst zu tun hat. Schließlich kriege ich auch sonst wenig zu Papier in diesem Jahr, wenig Eigenes zumindest.

Am 23. Dezember würde meine Mutter 90 Jahre alt. Und auch wenn es mit einem Beitrag nicht geklappt hat, freue ich mich sehr über deine Einladung – und über das Projekt sowieso, dem ich viele LeserInnen wünsche!

Sehr herzlich
Maren

P.S. Wenn du magst, kannst du diesen Brief gern in „meine“ Tür stellen. Du kannst sie aber auch leer lassen. Ganz wie es dir lieber ist.

 

Text und Bild: Maren Wulf

 

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 15: Blaue Feder

Als die Mutter geboren wurde, da leuchtete das Sternenbild der Jungfrau am dunklem Nachthimmel. Sie vermutete ihre Mutter war eine Meer-Jungfrau, eine Robbenfrau und sie ihr Robbenkind.
Stand die volle Luna am Himmel, so wurde erzählt, dann legte die Mutter ihr Seehundfell ab und tanzte nackt mit ihren Schwestern im Mondenlicht. Sie lachten vor Vergnügen und sangen mit zauberhaften Stimmen.
Dann war sie wohl wahr, die Geschichte von der Seelenhaut.
Die Mutter war nun schon lange heimgekehrt in das Land ihrer Seele. Blaue Feder webte sich eine Kuscheldecke, ein Seehundfell und sie webte in ihre Seelenhaut, was sie aus den Geschichten, die am Feuer erzählt wurden, erinnerte.
Ließ sie der Alltag ein wenig frösteln oder fühlte sie sich alleine, kuschelte sie sich in ihre Seelenhaut. Dann spürte sie die Umarmung der Mutter, als wäre sie selbst zugegen. Dann öffnete sich der weite Raum in ihrem Herzen. Im klaren Meereswasser erblickte sie dann die weisen, wilden, seelenvollen Augen der Glänzenden und sie tauchte tief mit ihr hinab, bis zum tiefsten Meeresgrund. Dort hielten sie Zwiesprache und sie verweilte solange im Land ihrer Mutterseele, bis auch ihre Augen wieder glänzten, ihr Herz lachte und sie erfüllt in ihren Alltag zurückkehren konnte.

Frei erzählt nach der Geschichte ‚Soulskin‘ von Clarissa Pinkola Estés

Bild und Text: Blaue Feder