Schlagwort-Archive: Mariaschein

„Es ist einmal im Leben so…“

Am 9. April wäre meine Mama 94 Jahre alt. Unvorstellbar.

Am 09. 04. 1922 ist sie geboren, und wurde in der Wallfahrtskirche  der schmerzhaften Madonna in Mariaschein / Bohosudov, in Nordböhmen getauft. Bohosudov ist heute ein zentraler Ortsteil der Stadt Krupka in Tschechien, ca. sieben km nordöstlich von Teplitz – Schönau / Teplice.

Ihr Großvater mütterlicherseits, mein Urgroßvater, war Bäcker und Grundbesitzer. Ob das wirklich sich so zugetragen hat, daß der hundertste Erntewagen gefeiert wurde oder ob das eine der absolut glaubhaft vorgetragenen Geschichten meiner Mutter, der Märchenerzählerin, war, es ist mir völlig egal…mein Vater, der Moralist und Wahrheitsfanatiker, hat es ihr geglaubt…ach mein Vater, was wusste er schon von seiner fremden Frau?

Meine Großmutter ist mit 28 Jahren an der Schwindsucht gestorben. Vorher hatte sie zwei Mädchen geboren, meine Mama und ihre Schwester. Mein Großvater bekannte sich zur Vaterschaft, kam aber als Schwiegersohn zwecks Herkunft aus Schauspielerfamilie und deshalb mangelnder Seriosität nicht in Frage und durfte die Mutter seiner Kinder nicht heiraten.

Nach dem Tod der Mutter blieb das eine Mädchen bei den Großeltern und meine Mama wurde vom Vater mitgenommen in ein unstetes Gauklerdasein. Von Ort zu Ort, leben von der Hand in den Mund, große Saufgelage bei guter Kasse, wunderbares, aufregendes Leben, immer unterwegs, immer Applaus, immer bei ihrem geliebten Vater, dem Chef der Truppe, davon erzählte sie mir…von den Zeiten, in denen die Kasse leer war, sagte sie nichts.

Ihre Geschichten, dieser Schatz, den sie mir hinterließ, handeln immer von einem Gauklerleben mit einer Art Wanderbühne. Und ziemlich sicher ist, daß sie nie die Ophelia spielte, sondern irgendwelche Rollen in kitschigen Operetten und Boulevardkomödien, viel mit ihrem Cousin Richard, den sie liebte…es blieben nur Geschichten, in denen ich auf mich wirken lasse, was zwischen den Worten steht und davon handelt, wer sie war…

Theater-klein

Was macht die kleine Truppe eines Schmierentheaters irgendwo am Abend nach der Vorstellung…ja, ziemlich viel Blödsinn…in Sektflaschen pinkeln, die das Kind trinkt, weil es denkt, es sei Limonade…baden gehn im Attersee bei Vollmond und mein Großvater wischt sich ein paar Seegräser vom Kinn und hält den Kopf einer Ertrunkenen in der Hand…ach und all die Klamotten vom Leben auf der Bühne…

Heute werden diese Theatergeschichten nicht mehr erzählt, es hat sich alles gewandelt. Einer der letzten großen Komödianten, Maxi Böhm, der alle seine Geschichten immer damit begann: „Sie, ich kenn da einen in Reichenberg…“ hat Ähnliches erzählt wie meine Mutter, es handelt meist vom wilden Improvisieren, wenn wichtige Requisiten fehlten oder der Text oder irgendwas nicht funktionierte, dann wurde aus dem Stehgreif heraus was erfunden, was zu komischen Einlagen führte und das Publikum bestens bei Laune hielt.

Das konnte meine Mama, aus nichts ein wunderbares, wenn auch manchmal etwas seltsames Essen kochen und aus langweiligen Gästen ein fröhlich lachendes und ihr zujubelndes Publikum, das amüsiert um den Stubentisch saß und nicht mehr heimgehen wollte.

Mit 24 Jahren wurde sie aus Karlsbad verjagt und mit Viehwaggons in bayrische Sammellager transportiert und von dort in irgendeiner Gegend irgendeinem Haushalt zugeteilt. Damals war sie verheiratet mit einem, der irgendwo im Krieg verschollen ging.

Mein Vater konnte sie erst heiraten, als der erste Mann für tot erklärt war. Von ihm hat sie mir nie erzählt, kein Wort, da gab es keine Geschichte. Auch nicht von dem toten Kind, das sie angeblich geboren hatte, von dem ich aber erst viele Jahre nach ihrem Tod erfahren habe.

Als sie kam, hatte sie nichts dabei außer einem Fotoalbum mit ein paar wenigen Bildern von ihrem Vater und seiner neuen Frau und ihren Kindern, einem Bild von sich auf irgendeiner Bühne und ein paar Bildern, von denen sie mir nie sagte, wer die Menschen waren, die mich anschauen.

Es passt nichts, gar nichts zusammen, ich habe keinen roten Faden durch ihre Biographie, die Zeitangaben stimmen nicht überein.

Zwischen den Zeilen der lustigen Geschichten der Boheme eines Wandertheaters scheint das traurige Schicksal eines Kindes durch, um das sich niemand richtig kümmerte und das keine Heimat hatte.

Und hier bei uns war sie auch wieder eine Fremde und das blieb sie bis zu dem Zeitpunkt, als sie für immer davonflog.

Sie konnte so wunderbar blödeln, es war ihr nichts heilig, sie hatte diesen Humor aus dem Osten, der Menschen grade dann zum Lachen bringt, wenn eigentlich alles zum Weinen ist…“Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, ja, das passte auf sie! Irgendwann schien das Weglachen nicht mehr zu genügen, da setzte sie sich auf ihr Fahrrad und verschwand…mein Vater suchte sie wochenlang, bis er sie fand, irgendwo in den Bergen auf einem verwahrlosten Bauernhof, da nahm er sie wieder mit nachhause. Dann versuchte sie, sich wegzusaufen. Eines Vormittags lag sie tot auf dem Sofa, kurz nach ihrem 46. Geburtstag.

Sie hat mir nichts zurückgelassen außer einem großen Knäuel Traumgarn, an dem Geschichten hängen und das sich, je mehr es abgewickelt wird, neu nachspinnt.

Und zwei Einträge in Poesiealben, einen für mich

Poesie1

 

und einen für das Fräulein Poldi, einer gleichfalls Verjagten, die mit ihrem Bruder in unserem Stüberl hauste – geschrieben mit dem Pelikano Füllfederhalter, den ihr mein Vater geschenkt hatte.

Poesie2

„Es ist einmal im Leben so…“ ist ein Lied aus der Operette „Zum Weissen Rössel“ und sie liebte dieses Lied, ich glaube, daß ich heute, fast fünfzig Jahre nach ihrem Tod endlich verstehe, warum.

Nicht nur in meinem Herzen wird am 9. April eine Kerze brennen für meine wilde, einsame Mama und dieses Lied schicke ich auch noch nach, hinauf zu den Sternen!

 

 

Schweres Gepäck…

„Schweres Gepäck – Flucht und Vertreibung als Lebensthema“ ist der Titel des Buches von Helga Hirsch, das ich mir gerade erlese. Eine schmerzhafte Lektüre, denn obwohl die Flüchtlinge ja „nichts hatten“, tragen wir Kinder von ihnen schwer an ihrem Gepäck.

Was weiß ich vom Weg meiner Mutter? Sie ist schon über 40 Jahre tot, weggeflogen wie die wilde Schwanenfrau im Märchen. Geblieben sind ein paar Geschichten über das Vertreiben und meine eigene Unsicherheit in den Verortungen meines Lebens. Meine Mutter wurde in einen Viehwaggon mit vielen anderen Verjagden gepfercht und und irgendwo hingebracht. Das zukünftige Irgendwo meiner Mutter war dann hier, ein Bauernweiler im südöstlichsten Winkel von Bayern, zwangsuntergebracht bei einem Bauern in einer winzigen, kalten Kammer unterm Dach. Mein Vater , blind vor Liebe zu diesem wunderschönen, rehäugigen Geschöpf, holte sie zu sich in eine zweifelhafte Heimat, Flüchtlingsweiber waren nicht willkommen, das bekam sie zu spüren. Alles wackliger Boden, sie gehörte nicht hierher, aber wohin dann?  Wo kam sie her? Ein paar Photographien sind geblieben, sie als Kind mit traurigen Märchenaugen, sie auf der Bühne in verschiedenen Rollen, sie im Nirgendwo unterwegs. Ich reise an den Ort Bohosudov (Mariaschein), nein, ich finde keine Spuren, keine Namen von Urgroßeltern am Friedhof, schon längst alles untergegangen. In Karlsbad (Karlovivary), von wo aus die Verjagung begann, keine Spuren. Ich finde einen Zettel mit einer Adresse in Berlin, ich suche die Stadt ab, nein, diese Straße gibt es gar nicht mehr, ausgelöscht, verweht, vergangen. Ihr Leben, wie Kiesel am Strand, das Wasser kommt und geht, zieht hinaus aufs Meer, spuckt wieder an Land, manchmal bleiben ein paar Kiesel liegen, eine Zeitlang, bis zur nächsten Flut…

„Reich mir die Hand, mein Leben…“ – hat sie oft gesungen.

Und ich, viel zu alt, um jung zu sein und viel zu jung zum Altwerden, um mich herum lauter Abgründe, sitze auf der Schwelle und lasse die Beine baumeln

R0012503