Archiv für den Monat: Juni 2017

Im Weg …

Es ist schon finster, als ich durch den Wald zum Dorffriedhof radle, um die Blumen am Grab zu gießen. Vor über fünfzig Jahren, welchen Weg hat sie eingeschlagen damals, auf ihrem grünen Damenfahrrad, das ihr mein Vater geschenkt hatte? Sie muß in der Nacht losgefahren sein, denn am Morgen war sie nicht mehr da. Noch heute träume ich manchmal davon und werde wach mit Herzklopfen, von trockenem Schluchzen und Entsetzen geschüttelt, mit der gleichen Angst wie damals, als sie verschwand.

Die Schwanenjungfrau im Märchen wird von einem Mann eingefangen, und ihr Federkleid kommt an einen geheimen Ort, hinter Schloß und Riegel in eine Truhe. Als sie nicht mehr wegfliegen kann, ergibt sie sich, läßt ihre Wildnatur zähmen, wird eine brave Ehefrau, eine  treusorgende Hausfrau und liebevolle Mutter …

… manchmal kommt sie zur Morgendämmerung aus dem Wald zurück und bringt eine Schürze voller Pilze mit. Sie ist unglücklich und keiner merkt es, denn sie ist gut gelaunt, erzählt alte Theatergeschichten und sie hat dieses glucksende, ansteckende Lachen. Sie kann über alles lachen, auch über sich selbst. Sie kommt aus einer anderen Welt, sie passt nicht hierher und sie kann die Anforderungen an sie nicht erfüllen …  Sehnsucht bleibt.

Eines Tages findet sie den Schlüssel zur Truhe und fliegt weg.

Eine Art, die Geschichte weiterzuerzählen ist, daß die Schwanenfrau eine Zeitlang nachts kommt, um ihr Kind zu versorgen und zu trösten … eine weitere Variante wäre, daß der Mann sich auf den Weg macht, seine Frau zu suchen, und sie nach vielen Abenteuern auch findet, den wilden Zauber von ihr nimmt und sie heimholt und dann leben alle glücklich bis an ihr seliges Ende.

In unserer Variante hat sie der Vater auch gefunden, ziemlich weit oben in den Berchtesgadener Bergen, er hat sie lachend und scherzend bei der Heuarbeit  angetroffen, bei Bekannten mit einem Bauernhof am ziemlich wilden und verwahrlosten Rande der Zivilisation. Er hat sie mitsamt ihrem grünen Rad in den VW Bus gepackt und wieder heimgebracht.

Ein, zwei Jahre später ist sie gestorben, meine notdürftig domestizierte wilde Mama.

Nie hat sie mit mir gesprochen über ihr Verschwinden und im Nachhinein erscheint mir ihr Tod nur als die letzte Konsequenz ihres damals eingeschlagenen Weges …Mir ist heute, als hätte ich sie damals unwiederbringlich verloren und womöglich suche ich sie schon mein Leben lang, wer weiß das schon so genau. Ein lieber Freund sagt mir, mein Lachen sei unwiderstehlich und ich täte immer so fröhlich glucksen dabei … ich achte  darauf und auf einmal höre ich sie in mir lachen … sie lacht durch mich hindurch.

Ich plane eine Reise, dahin, wo sie herkommt und verjagt wurde, ich werde keine Spuren finden können, trotzdem werde ich hinfahren an diese verlorenen Orte in Böhmen, in die Vergangenheit, oder in eine Parallelwelt zwischen den Steinen und in den Schatten der Gräser, auf die Strassen und in die Augen der Menschen … irgendwo dort wird irgendwann durch eine Laune der Geschichte eine junge Frau auf einen Weg ins Unbekannte geschickt, sie folgt ihm, notgedrungen, und dann, als sich ihr Weg irgendwo im Süden mit einem Fremden kreuzt, entstehe ich. Und ich bin unsicher, was mich erwartet, wonach soll ich denn suchen, alle Wege führen in dunkle Vergangenheiten, Namen verhallen im Nichts, die Geschichte meiner Mutter , ihrer und somit meiner Familie … lauter lose Enden wehen im Wind … eine leise Wehmut schlängelt sich durch mein Herz und mir ist, als wäre meine Sehnsucht auch ihre gewesen … Spürungen schleichen sich an, Angst vor der großen Verlorenheit … was kann ich denn finden, wenn ich nicht mal weiß, wonach ich suche?

Ein freundlicher Reisender kommt vorbei und macht Rast auf halber Wegstrecke im alten Haus. Zwischen zwei Flügelschlägen sitzen wir am Stubentisch und unsere Geschichten setzen sich lächelnd dazu, stellen Fragen und geben Antwort. „Geh einfach los, und Du wirst sehen, es ist ganz egal, welchen Weg Du nimmst, jeder ist richtig!“ Ich höre es und schaue in kluge und sanftmütige Augen … Als wir uns verabschiedet haben, durchziehen noch lange unsere Stimmen und das gemeinsame Lachen das Haus, eine Art Vertrautheit, die entsteht, wenn aus Fremden Freunde werden …

Ja, ich werde einfach losgehen und abwarten, was passiert.

Hab Dank, lieber Zeilentiger!

Der alte Kirschbaum hat soviele Früchte, daß ihm ein Ast abgebrochen ist.
Aus den Kakteen quellen unzählbar viele Knospen und schicken sich zum Blühen an
und ich habe endlich herausgefunden, wo der Tatzelwurm (die bayrische Variante des Drachen) hausen soll: in der Gumpe unterhalb des Wasserfalls nämlich, dies gilt es demnächst, genauer zu erforschen.

 

 

 

„… pour un flirt …“

Den Film habe ich mir nur deshalb angesehen, weil ich beim Umschalten bei ARTE hängenblieb und die magische Atmosphäre dieser Bilder und die Musik mich förmlich aufsaugten.

In irgendeinem krankenhausähnlichen Raum liegen Menschen in Betten oder hängen in Rollstühlen herum , werden an Tische geschoben und werden von freundlichem Personal versorgt. Viele sehen teilnahmslos vor sich hin, manche reden irgendwas. Ein kleiner alter Mann geht herum, sagt unverständliche Sätze. Ein Besucher steht an der Eingangstür und sieht ihn an, so lange, bis sein Blick erwidert wird. Der Besucher weicht nicht von seiner Seite, distanziert und doch nah … wie ein Schatten, der alles mitmacht … der kleine Mann spricht und aus dem Besucher wachsen Bewegungen dazu heraus … irgendwann erklingt Musik im Hintergrund … wunderschöne französische Chansons … der Besucher … offensichtlich ein Tänzer … bewegt sich weiter und weiter, sanft, anmutig zur Musik, gleitet um die Menschen herum und läßt sie teilhaben an dem, was sich aus ihm heraus entwickelt. Finger an starren Händen fangen an zu tanzen, verkrümmte Körper wollen sich dehnen, Köpfe nicken, Füsse wippen zur Musik … und manche wollen sprechen, dann setzt er sich zu ihnen und hört zu … er wirkt ganz ruhig und entspannt, obwohl er fast ständig in Bewegung zu sein scheint … alles, was er hört oder spürt wird zu Bewegung, alles fließt ineinander und umeinander und mündet in einen Fluß des Lebens …

irgendwann tanzt er mit Blanche , und nicht er bewegt sie sondern:  Es bewegt sich … so beginnt dieser Film …

Ich hätte ihn mir nicht angesehen, allein schon der Titel:  „90 Jahre sind kein Alter“ hätte mich eher abgeschreckt. Und was die Inhaltsangabe betrifft … ein Choreograph macht ein Tanzprojekt mit Alzheimerpatienten und holt sie aus ihrer Starre und eine alte Frau verliebt sich in ihn und wird wieder zu dem jungen Mädchen, das sie mal war, das hätte ich sicher nicht sehen wollen, und dann noch die Frage: „Hilft Musik bei Alzheimer?“ Ob das so oder so ist, das ist mir vollkommen egal.

Das ist ein Film der Spürungen, es ist eine Dokumentation über die  Arbeit des Choreographen Thierry Thieû Niang, sie zeigt, wie einer seine Passion lebt: er tanzt … mit offenen Armen, begehbaren Augen, umarmt, trägt, lehnt sich an und stützt … nichts wirkt gekünstelt oder auch nur beabsichtigt … alles ist … alles darf sein … wie eine lauwarme Sommerbrise, die die Haare im Nacken kräuselt … Liebe leuchtet auf in aufgewachten Augen und strömt ihm entgegen, sie bringt auch ihn zum Leuchten, er läßt sie fließen … im Hintergrund diese wunderbare Musik, alte Schlager, Chansons …

Dieser Film nimmt mich mit hinein in den Tanz des Lebens und berührt mich tief in meiner Existenz.  Was genau da passiert, dafür braucht es nicht viel Worte, nur die Bereitschaft, sich von der Lust auf das Leben tragen zu lassen …

Auf seiner Homepage:  http://www.thierry-niang.fr
stehen Texte, die meinen Herzschlag treffen und sicher in die Richtung deuten, woher die Bestätigung seiner Arbeit kommt.

Körper, erinnere dich nicht nur daran, wie oft du geliebt
wurdest, Nicht nur an die Betten, in denen du lagst, sondern
auch an jenes Verlangen nach Dir, Das aus offenen Augen
strahlte, An das Zittern der Stimmen – und wie Ein zufälliges
Hindernis es vereitelte. Jetzt, da alles der Vergangenheit
angehört, Scheint es fast, als ob du dich auch Jenem Verlangen
hingabst – wie es strahlte, Erinnere dich, aus Augen, die auf
dich gerichtet waren, Wie die Stimmen nach dir zitterten,
erinnere dich, Körper (1918)
Constantin Cavafy

O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief-,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht:-
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh-,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit-,
will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Friedrich Nietzsche

Der Film: „Une jeune fille de 90 ans“
Regie: Valeria Bruni Tedeschi
Yann Coridian

ist in der ARTE – Mediathek noch bis Anfang August zu sehen!

Ich weiß, daß es bei Dokufilmen meist keinen Soundtrack zu kaufen gibt,
hier bedauere ich das wirklich sehr, sehr!
Nachfolgend eines meiner Lebenslieblingslieder, bei dem ich mich seit Jahrzehnten frage, ob es wohl irgendwo eine Frau gibt, die solche wunderbaren Worte schon mal geschenkt bekam … naja, wahrscheinlich gibts sowas nur in Frankreich … seufz …!