Archiv für den Monat: Mai 2025

StadtLandFluß (H)

Heimat, mein Herz ruft nach Dir

Da wir im weiteren Umkreis von Salzburg leben, könnte man das, was seit Tagen immer wieder in Strömen vom Himmel herunterfällt, auch Schnürlregen nennen. Aber es ist schon gut, das Land ist ausgetrocknet und alles hat Durst. Die wilden Rosen und der Hollunder lassen sich nicht vom Blühen abhalten und es ist ihnen vollkommen egal, ob ihnen dabei das Himmelswasser übers Gesicht läuft. Es ist nicht kalt, aber zu nass, um die viele Arbeit, die um Haus und Hof herum auf mich wartet, anzupacken, und so sitze ich auf der Hausbank, lasse die Gedanken kommen und gehen und schaue einfach so vor mich hin.

Gestern habe ich den wunderbaren Dok.Film: „Die Klasse von Herrn Bachmann“ gesehen, über drei Stunden dauert er und ich möchte keine Minute missen. Und selbstverständlich dachte auch ich wie so viele, hätte ich doch so einen Lehrer gehabt! Eine Klasse voller entmutigter, heimatloser Kinder, die nicht wissen, wo sie hingehören. Er lehrte sie, daß es möglich ist, miteinander das Gefühl „Heimat“ zu spüren und zu teilen.

Ein Ort, ein Gefühl, eine Sehnsucht, wenn man keine findet, oder ein Dasein ohne sie jemals zu bemerken; ein Schmerz, wenn sie verloren ist, dann erst spürt man, daß es sie gab, die Heimat.

Vor langer Zeit, in den siebziger Jahren, da erbte ich mit einer Cousine zusammen den gesamten Nachlaß einer Großtante, der Schwester unserer früh verstorbenen Großmutter mütterlicherseits. Die Cousine lebte in der DDR und deshalb landete der gesamte Hausstand der Großtante bei mir. Darunter auch das, was die Tante von ihrem längst verstorbenen Ehemann aufbewahrt hatte.

Er war Handelsreisender für Damen – Nylonstrümpfe, hinterließ einen riesigen Vorrat an Werbe- und Geschäftsbriefunterlagen, Korrespondenz und Büromaterial. Die Großtante scheint ihre letzten Lebensjahre zunehmend in einer Art von geistiger Umnachtung verbracht zu haben. Ich erbte einen großen Lastwagen voll mit all dem Zeug, was sich halt so in ihrem Leben angesammelt hatte, bis sie das Haus verlassen mußte. Für mich war diese Erbschaft, was das Materielle betraf, keineswegs belastend, sondern eine riesige Freude in Dankbarkeit! Noch heute liegen die damals ererbten Teppiche in meinem Leben herum, es gibt Bilder und schönes Geschirr und ich sitze immer noch am Schreibtisch des angeheirateten Onkels und in einer der Schubläden liegt immer noch diese Schachtel, die ich einfach nicht wegwerfen kann. Immer mal wieder in all den Jahren mache ich den Deckel auf und nur an starken Tagen muß ich nicht weinen, wenn ich auf den Inhalt schaue. In dieser Schachtel liegen dokumentarische Fragmente über eine Kriegsgefangenschaft von Männern, die ich nicht kannte, die verknüpft ist mit der Herkunftsfamilie meiner Mutter, auch da kannte ich niemand. So viel gelebtes Leben, so viele Schicksale, soviele Geheimnisse, die zwischen alten Photographien zu Vergangenheit zerbröseln. Alle sind mir fremd, ich spüre keine Verwandtschaft, was interessiert mich an einem Kriegsgefangenlager in Ägypten? Es ist irritierend für mich, immer noch, aber irgendwo da draußen an den Rändern meines Seins, da berühren sich unser aller Existenzen.

 

Da liegt ein altes Skizzen – Tagebuch mit völlig zerrissenem Einband und ein verstreutes Sammelsurium von vergilbten Zetteln, brüchiges Papier, verblichene Schrift, lange Listen von Namen und Aufgabenverteilungen, Daten und kaum mehr leserliche Hinweise darauf, daß der Onkel in einem englischen Strafgefangenenlager in Ägypten etliche Jahre festgehalten wurde ohne zu wissen, wann und ob überhaupt er jemals wieder heimdurfte. Aufzeichnungen gibt es von 1944 bis 1948, ich weiß nicht, von wann bis wann er dort war. Auf alten Photos ist eine Gruppe junger Männer zu sehen, er war einer davon.

 

Ich kenne niemanden, auch ihn kannte ich nicht. Ich weiß nichts von seiner Familie, ich kenne ja nicht mal die Familie meiner Großtante, der Schwester meiner Großmutter, auch zwischen meiner Cousine und mir ist kein Kontakt entstanden. Es ist mir bis heute unerklärlich, warum meine Mutter und ihre Tante sich nicht gesucht haben, bei der Erbschaft stellte sich heraus, daß sie nur um die hundert km trennten, sie hätten sich finden können.

Lange dachte ich, daß dies halt die Geschichten von Flucht und Vertreibung mit sich gebracht haben, daß die Familien zerrissen wurden. Heute bin ich mir sicher, daß diese Trennungslinien in den Familien schon lange vor dem Krieg gezogen wurden. Diese Erbschaft bekam ich, die völlig Fremde, da meine Mutter, die eigentliche Erbin, ein paar Jahre vorher gestorben war und ich hatte ein ungutes Gefühl, als sei ich eine Erbschleicherin. Ich konnte damals mit zwanzig keine Brücke herstellen über die dunklen Flüsse der alten familiären Machenschaften, ich konnte nur weglaufen, mich in Sicherheit bringen, damit ich nicht hineinstürzte. Meine Mutter wollte anscheinend mit niemanden ihrer Familie mütterlicherseits was zu tun haben und sie ist auch nicht aus ihrer Heimat vertrieben worden, denn sie hatte keine und da, wo sie hinging, da hat sie keine gefunden.

In diesem alten verschlissenen Buch sind Portraitzeichnungen von einem, der großes Talent besaß. Ich vermute, es war mein Onkel, der Strumpfvertreter. Mit schöner Schrift hat er kleine Texte geschrieben, Fragmente eines Lebens in Gefangenschaft. Ich habe sonst nichts von ihm, weiß nichts, sitze aber an seinem Schreibtisch und frage mich wie so oft in all dieser Zeit, warum werfe ich diese Schachtel nicht einfach weg?  Ja, warum.

Da sind diese Bleistiftzeichnungen von der geliebten Frau, ihr Bild ist das erste und das letzte im Buch. Dann die Kameraden, die Haare ordentlich gescheitelt, die Minen ernst und die Augen traurig. Skizzen vom Lagerleben. Schriftliche Schilderung der völligen Mittellosigkeit von Schwester und Ehefrau nach der Vertreibung aus dem Sudetenland, Bitte an die Befehlshaber, englisch und deutsch, alles abgelehnt. Eine Zeichnung über den Schiffsweg in die Verbannung und zurück in die Heimat, Jahre später.

Und dann sind da noch Noten im Tagebuch, sorgfältigst gezeichnete Noten und mit feiner Schrift stehen Liedtexte darunter, Schlager der damaligen Machart, nehme ich an, alle komponiert von Herbert Stieber, ein Kamerad im Lager?

Soviele Schicksale, jedes dieser Leben hätte eine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Ich lege sie alle wieder vorsichtig zusammengefaltet zurück in die Schachtel und ich werde sie wieder nicht in die Mülltonne werfen, wer könnte sowas übers Herz bringen? Vielleicht verbrenne ich alles irgendwann. Dann wird mit dem Rauch dieser Schmerz endlich zum Himmel aufsteigen, dieser Schmerz, der aus allen Aufzeichnungen und in den Augen überläuft und sich in Lieder hineinkomponiert hat und der mich anweht, sobald ich die Schachtel aufmache.

Diesen Schmerz nennt man:

Heimweh.

 

StadtLandFluß (G)

Großmutter

Franziska war ihr Name, ich kann mich aber nicht erinnern, ob sie von irgendwem so genannt wurde. Für mich hat sie nur Oma geheißen. Sieben Kinder hat sie geboren, zwei Mädchen und fünf Buben. Ihr Sohn Otto, ein blonder Hüne mit strahlend blauen Augen, zwei Meter groß und bildschön, wurde von der SS angeworben, aber er wollte nicht. An einer Front ist er dann fürs Vaterland gefallen. Das heißt, er ist abgeknallt worden und irgendwo verscharrt. Der zweite Sohn, Peter, ist in Titos Rübenfeldern kläglich an der Ruhr verreckt. Ein weiterer, der Max, ist nach jahrelanger elendiglicher Pein an Knochentuberkulose gestorben. Die Mädchen haben geheiratet und der älteste Sohn wollte den armseligen Hof nicht übernehmen, er hat lieber und weitaus gewinnbringender in eine begüterte Bürgersfamilie in der Kreisstadt eingeheiratet. Also blieb nur der jüngste, mein Vater, der übernahm den total heruntergekommenen Hof und heiratete eine Flüchtlingsfrau, die aus einer k.u.k. böhmisch österreichischen Theaterfamilie stammte.

Das Leben meiner Großmutter war karg und die Arbeit, die sie leisten mußte, kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Sie stammte aus einer Schusterfamilie und sie hatte einen Bruder, den Schorschl, der die Schusterwerkstatt übernahm. Von der Mutter hat sie nie erzählt. Heute hätte ich so viele Fragen an sie und immer wie der ist es das Gleiche, man muß alle Fragen stellen, so lang noch Zeit ist, irgendwann ist es zu spät. Aber ich war ca. 10 Jahre alt, als sie gestorben ist, die Fragen als Kind an eine Oma sind andere als sie heute wären, da ich auch schon beinahe so alt bin wie sie damals.

Meine Großmutter mußte von daheim weg, da war kein Platz mehr. Da die Tochter eines armen Schusters niemals von einem reichen Bauernsohn geheiratet worden wäre, hat sie den armen Taglöhner mit seinem kleinen Sacherl genommen. Ein Gütel mit wenig Grundbesitz, sie konnten nur ein bis zwei Kühe füttern und blieben arm ihr Leben lang. Es ist mir ein Rätsel, wie sie sieben Kinder so ernähren konnte, daß niemand hungern mußte. Von der wenigen Milch hat sie Butter gemacht und wenn es irgendwie möglich war und sie genug zusammen bekam und mit ein paar vom Mund abgesparten Eiern ist sie mit ihrem Rad 12 km einfach und aufwärts in die Kreisstadt gefahren, um am Schrannenmarkt ein paar jämmerliche Pfennige zu verdienen, auch da versuchten die feinen Damen mit ihr zu feilschen. Heute rasen Menschen auf ihren elektrischen Rädern bei uns vorbei, so schnell, daß man nur noch flüchten kann, damit man nicht umgefahren wird. Mir gefällt das nicht, es gibt kein Fahrrad mehr, sondern nur noch E-Bikes, an die ich mich sicher nicht mehr gewöhne, auch nicht daran, daß es kein Tourenrad mehr gibt , sondern nur noch Trekking, Citybikes etc.   Eine Gesellschaft, die an den Grenzen Geflüchtete zurückschickt, weil wir uns das nicht mehr leisten können … aber wenn ich mir die Scharen von E-Bikern anschaue, die zu Tausenden herumgeistern und pro Bike zwischen 3000 und 6000 Euro aufwärts einfach so bezahlen …

Damals war ein neues Fahrrad absoluter Luxus, aber anscheinend war ein altes Radl da und meine Oma konnte damit fahren.

Sie hat mit mir gespielt und viel mit mir gesungen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme und war sicher hochmusikalisch, das hat sie allen ihren Kindern vererbt. Sie machte die besten „geschnittenen Nudeln“ (eine Art Bandnudeln) nur aus Mehl und Wasser. Ich habe sie sehr geliebt und sie hat mir ganz sicher das Leben gerettet und hat mich in ihr Bett geholt, wenn meine Eltern schlimme Kräche hatten.

Das Leben meiner Großmutter bestand nur aus Arbeit, sie hat sich gefügt und ergeben. Eine Frage, wo denn ihr eigenes Leben oder sowas wie ein eigener Raum geblieben war, hätte sie nicht verstanden. Ich habe viel mit ihr gelacht, sie hatte weiße, ganz feine Haare, bis runter zu den Hüften und meine Mutter hat sie manchmal gebürstet und einen Zopf geflochten, der dann um den Kopf gelegt wurde.

Sie hatte einen ganz speziellen Geruch, leicht pudrig und ein wenig nach Seife. Sie konnte wunderbare Socken stricken mit einer Ferse, die so raffiniert verstärkt war, daß sie jahrelang kein Loch bekam. Ich habe tatsächlich noch ein paar Socken von ihr aus dunkelgrüner  Wolle und ich bewundere noch heute diese Kunst der Ferse, ihre ganz eigene Art, sie zu stricken. Ich würde sie so gerne fragen, wie sie das gemacht hat.

Dann hat sie auch noch meinen Großvater versorgt, der stark verkalkt war, heute würde man sagen dement, bis er gestorben ist. Sie hat ihre Arbeit getan und sie war dabei allein, wie alle Frauen. An Geburts- und Muttertag kamen Vaters Geschwister und es war ein großes Mutterliebetheater um sie. Dann waren alle wieder weg und sie saß irgendwo oder stand beim Abwasch in der Küche und hat leise vor sich hin geweint. Und sie war allein mit ihren Gedanken und ich würde sie so gerne umarmen und ihr danken.

Heute vor fünfzehn Jahren ist mein Papa gestorben, um 0.30 Uhr in seinen 85. Geburtstag hinein.

 

Und heute, am Tag der kalten Sofi, vor genau hundert Jahren, hat meine Großmutter ihr siebtes Kind zur Welt gebracht: meinen Vater.

 

StadtLandFluß (F)

Flieder

Früher war neben dem Flieder eine Schneeballstaude. Sie haben zusammengehört und ziemlich gleichzeitig geblüht, der weiße Schneeball und der Flieder mit seinen blaßlila Blüten, die ausschauen, als hätte der letzte Regen die Farbe etwas herausgewaschen. Den Schneeball hat der Vater schon vor vielen Jahren ausgerissen, weil er während seiner kurzen Blühzeit schwarz wurde vor lauter Läusen. Der Flieder hat bis heute überlebt, geduldet an der Außenseite des Gartens. Er wird schon an die 50 Jahre alt sein. Man sieht ihn kaum noch, er verschwindet hinter wild wuchernden Kornelkirschen und diversen anderen Gehölzen. In den letzten Wochen war es kalt und nass. Trotzdem ist dieser feine, süße Geruch durch den Regen geschwebt, kaum wahrnehmbar und doch vorhanden und erfreuend.

Wie immer, wenn ich etwas abschneide, das draußen blüht und duftet, bereue ich es, sobald die Vase auf dem Stubentisch steht. Auch beim Flieder war es ein Fehler, er hat sofort Blüten verloren und sein feiner Geruch wurde zum süßlichen Verwesungsgeruch, wie bei allen Pflanzen, die man abschneidet und sie dann tot in Vasen stellt. Ich mag sie viel lieber draußen anschauen und riechen in ihrem Werden und Vergehen und wieder Werden, das sie ihrer Natur gemäß selber bestimmen und nicht zur Unzeit verwelken müssen, weil  sie die Schere abschneidet von ihren Wurzeln und vom Leben.

Gestern war Muttertag, auf den Straßen wurden die Mütter herumgefahren zu den diversen Berggasthöfen mit viel Torten und Kaffee und schöner Aussicht ins Gebirge. Die ansonsten halbleeren Parkplätze vor den Altenheimen waren belegt bis in den hintersten Winkel, auch da wurde Müttern mit Pralinenschachteln und riesigen Schnittblumensträußen, mit herzförmigen Torten und Kaffee und Glückwünschen Kinder- und Enkelliebe überbracht, hinein in die trostlosen Aufbewahrungsstätten. Manche Mütter haben umsonst gewartet, sie bekamen auch am Muttertag keinen Besuch und wo ist denn die Liebe geblieben … ach die Liebe, manchmal weht sie heran, wie der zarte Duft des Flieders durch den Regen … aber jetzt ist er verblüht und der Duft verflogen, aber die Sonne scheint und bald werden die Akeleien blühen.

Ich stehe am Abend am Grab, über mir der volle Mond, ich gieße die Hornveilchen und hole den kleinen Engel unter dem wuchernden Cottoneaster hervor, damit er in die Nacht hinausschauen kann und sich am Mond erfreut. Ach Mama, so lang bist Du schon tot, 57 Jahre lang. Ich kann mich kaum mehr an Dich erinnern, aber die Andeutung eines, Deines Geruchs habe ich mir bewahrt, wie den Duft des Flieders, der längst verflogen, doch noch in mir gespeichert ist.  Und Dein Lachen, Mama, das hast Du mir da gelassen, dieses hellklingende Lachen, wie Perlen, die auf die Tischplatte kullern, wenn die Schnur reißt. Ein Lachen, so lebensfroh und glücklich, dieses Trotzalledemlachen, und ich sehe Dich irgendwo auf der Wiese, die Arme übervoll mit Blumen und Gesträuch. Du warst ein mutterloses Kind, heimatlos bist Du durch die Welt getrieben worden und auch ich bin ohne Mutter zurückgeblieben und erst jetzt, da ich alt bin, weiß ich, was das bedeutet.

Weißt Du, Mama, der Flieder schaut aus wie Deine Kittelschürze, da war auch die Farbe so herausgewaschen. Ich lege Dir nichts aufs Grab, denn ich trag Dich ja eh in mir, tief drin in meinem Herzen und manchmal, wenn ich lache, dann ist mir, als würdest Du aus mir lachen, Du weißt, was ich meine, nicht wahr, Mama.