Archiv für den Monat: November 2024

Ab morgen …

Mit dem 1. Adventssonntag beginnt morgen hier zwischen Himmel und Erde das Projekt „24 T. –  Der Weg.“  In diesem Jahr ist es eine Gemeinschaftsarbeit von Herrn Graugans und mir. Da Herr Graugans fotografisch immer in Serien arbeitet, liegt sein Teil des Projekts als abgeschlossene, in sich abgestimmte Bilderreihe vor. Ich erarbeite meine Texte aus dem Augenblick und werde Tag für Tag neben seinem Bilderweg hergehen und meine Spur verfolgen. Dies ist eine große Herausforderung, denn die Spur ist nicht immer gleich sichtbar, und nicht jede Fährte führt auf einen Weg. Ich ahne, daß ich durch manch unwegsames Gelände gehen muß, Schluchten durchqueren, durch Sümpfe waten, herabfallenden Steinen ausweichen und mich auf dunklen Pfaden verirren und verlieren werde. Ich werde es trotzdem wagen und mich morgen auf den Weg begeben, egal wohin er mich führt.

Vielen Dank, lieber Herr Graugans, daß Du Dich mit mir auf dieses Experiment eingelassen hast! Am Ende werden wir sehen, was daraus geworden ist!

 

# 70 „Hier, wo wir uns begegnen“

Ich stehe in der Küche und räume weg, was sich angesammelt hat, um ja keine kostbare Gesprächszeit zu vergeuden, während ein lieber Freund zu Besuch war. Unser Freund M. ist gerade wieder heimgefahren, nicht ohne vorher mitten in der Stube, an der Haustüre, vor dem Auto und dann auch noch mit schon laufendem Motor den Abschied hinauszuschieben, um das Beisammensein noch bis in die allerletzte Sekunde zu genießen … ja, bis auf bald, um Weihnachten herum, jaja, wir telefonieren bald. Servus, schön wars. Ja, schön wars. Wir haben gut gegessen und kannenweise Tee und Espresso getrunken und geredet und gelacht und geredet und sind irgendwann nachts ins Bett gefallen und haben beim Frühstück da weitergeredet, wo wir in der Nacht aufgehört hatten. Unsere Gesprächsstoffe sind ausufernd und ohne Begrenzung, es kommt alles darin zur Sprache, Kunst, Philosophie, Politik, Krankheit, Tod, Leben. Ich teile mit ihm die nahezu fanatische Liebe und den Kampf gegen Windmühlen für die Erhaltung der bairischen Sprache mit ihren unzählbaren örtlichen Dialekten und unser Herz schlägt für die Mundart, wo sie auch gesprochen wird. M. ist einer der letzten Menschen, die noch den leidenschaftlichen Mut aufbringen, in München, der bairischen Landeshauptstadt, münchnerisch zu reden, die Stadtsprache im bairischen Deutsch.

Herr Graugans teilt mit ihm die Passion für die Fotografie, für M. ist es noch mehr, sie ist sein Leben und schon deshalb steht sie mit allem, was gerade an Projekten läuft, im Mittelpunkt all unserer Begegnungen. Er spricht über sein neues Buch und Herr Graugans über seine neuesten Experimente mit Cyanotypie und wie er sich diese Technik angeeignet hat . Auch das Projekt 24 T. das ab 1. Dezember hier auf meinem Blog zwischen Himmel und Erde stattfindet, kommt zur Sprache. Herr Graugans und ich zeigen ab nächsten Sonntag bis zum 24.12. täglich unsere Arbeiten.

Müde bin ich, so ein intensives Zusammensein ist freudig, aber auch anstrengend. Als M. dann lächelnd und winkend seine Heimreise antritt, denke ich an Carsten, der heute einen Brief an seinen Freund geschrieben hat, einen letzten Brief hat er ihm nachgeschickt auf seine letzte große Reise. Ein Herz voller Liebe hat er hineingelegt, um dem Freund den Weg leicht zu machen und ein Licht der Dankbarkeit für das Glück, ihm begegnet zu sein hat er ihm angezündet, damit es hell ist, dort, in dieser anderen Welt.

Es liegt alles so nah beieinander. Wir können glücklich sein über Begegnungen, die uns Freude bringen und das Leben reich machen. Und es berührt mein Herz und mir ist, als wäre noch nicht alles verloren, solange es Menschen gibt, die ihren Freunden Dank und Liebe nachschicken, wohin auch immer sie gehen.

Und jetzt fällt mir ein, daß ich vergessen habe, M. einen Lieblingsspruch aus dem Buch eines seiner Lieblingsschriftsteller, das ich grade lese, mitzuteilen:

(Er trifft in diesem Roman in Lissabon auf irgendeinem Platz seine Mutter, die aber schon 10 Jahre tot ist.)

Etwas, John, darfst du nicht vergessen, und du vergißt ja so schnell. Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab, das mußt du wissen.“

aus: John Berger: „Hier, wo wir uns begegnen“

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

„Indes die Bäume blühn zur Nacht“

St.- Peters- Friedhof

Ringsum ist Felseneinsamkeit.
Des Todes bleiche Blumen schauern
Auf Gräbern, die im Dunkel trauern –
Doch diese Trauer hat kein Leid.

Der Himmel lächelt still herab
In diesen traumverschlossenen Garten.
Wo stille Pilger seiner warten.
Es wacht das Kreuz auf jedem Grab.

Die Kirche ragt wie ein Gebet
Vor einem Bilde ewiger Gnaden,
Manch Licht brennt unter den Arkaden,
Das stumm für arme Seelen fleht –

Indes die Bäume blühn zur Nacht,
Daß sich des Todes Antlitz hülle
In ihrer Schönheit schimmernde Fülle,
Die Tote tiefer träumen macht.

Georg Trakl

# 69 Ein großer Gott der Seele

Früher dauerte die Fastenzeit in der katholischen Kirche von Philippus (15. November) bis zur Mitternachtsmette am 24.Dezember. Vierzig scheint eine magische Zahl zu sein, Jesus hat 40 Tage in der Wüste gefastet und die Seelen der Verstorbenen brauchen nach alter Lehre vierzig Tage, um sich aus dem irdischen Dasein zu lösen und ihre ewige Heimat zu finden.  Das hat sich schon lange geändert, der Advent beginnt mit dem ersten Adventssonntag und wer da vom Fasten redet, wird laut ausgelacht oder zumindest leise belächelt. Wir leben in einer Konsumgesellschaft und die lebt von der Gier, die ja bekanntlich immer größer und unstillbarer wird, je mehr man sie füttert. Der weihnachtliche Verkaufsmarathon beginnt je schon Ende August und läuft dann ab 1. Dezember nochmal zu seiner Höchstform auf. Die Beliebigkeit kennt keine Grenzen, in den Supermärkten liegen Berge von Lebkuchen neben den gefärbten Eiern, die um diese Zeit „Brotzeiteier“ heißen. Was für ein Wahnsinn, was für eine Verschwendung, denke ich mir, als ich durch die Reihe der überquellenden Regale beim Aldi gehe und muß mich beherrschen, um nicht auch zuzugreifen. Hinter mir schreit ein kleines Kind in Augenhöhe mit Schokonikoläusen, ein paar seiner Geschwister rennen kreuz und quer herum und scheinen ganz und gar außer Fassung zu sein, die jungen Eltern beachten sie nicht weiter und bewegen sich in Zeitlupe durch die Gänge. Am anderen Ende brüllt wieder ein Kind , der Mutter ist das sichtlich peinlich, der Vater dreht sich weg. Und dann schreit noch ein Kind, so jämmerlich, es ist kaum zum Aushalten, endlich nimmt es ein junger Vater auf den Arm und tut das einzig Richtige in dieser Situation: er geht mit dem Kind hinaus und verläßt diese Stätte des Kaufwahnsinns. Und ich denke mir, daß es ja mir schon schwerfällt, mich diesem Überangebot zu widersetzen, wie muß es denn einem dreijährigen Kind gehen. Kleine Kinder reagieren mit Gebrüll auf dieses Habenwollen und nicht sofort Kriegen und die Erwachsenen laden ihre Einkaufswägen voll und schleppen wie im Rausch das ganze Zeug nachhause, was nach Übersättigung dann übrigbleibt, wird weggeworfen.

Ringsherum hängen schon diverse Lichtschnüre in Bäumen, über Fenstern und bunte Kugeln schauen hinter Tannenreisig hervor und künstliche Christbäume lehnen herum, und über den Straßen wird die obligatorische Weihnachtsbeleuchtung hinüber und herüber gespannt. Von allen Seiten weht die Werbung durch Zeit und Raum und Schaufenster und Fernsehen, es geht um das teuerste Geschnk, das leckerste Essen und überhaupt alles, was das sehnsüchtige Herz verlangt und was es jetzt bekommt. Kauft Leute, alles, alles ist käuflich. Seid gierig Leute, kauft ein, dann wird ein Event daraus. Noch scheint es diesbezügliche Firmen hier noch nicht zu geben, in Japan wendet man sich an die Family Romance Agentur und mietet sich Freunde, je mehr Geld man hat, umso mehr Freunde sitzen dann um den festlich gedeckten Tisch und dann macht man Selfies im riesigen Freundeskreis und postet in die Welt, wie beliebt man doch ist, denn nur sehr Beliebte haben so viele Freunde, nicht wahr?

Es ist aber noch gar keine Weihnachtszeit und auch kein Advent, sondern vorgestern war Volkstrauertag und nächsten Sonntag ist der Totensonntag.

Den Tod wollen wir nicht in unserer Nähe haben, wir vergraben ihn unter Marzipankartoffeln und Lebkuchen und schütten Glühwein darüber. Vielleicht ist der Tod spürbarer in einer kargen Zeit des Fastens? Was um Himmelswillen bringt uns denn diese Gier nach allem und immer mehr und zwar sofort, auf der Stelle, wenn ich was sehe, was ich will, dann hol ich es mir. Ist es eine Art innerer Leere, die in einer Konsumgesellschaft zu immer mehr, immer schneller, immer höher, besser, aktiver, schöner gesünder führt. Ach ich weiß es auch nicht.

Ich möchte mich wieder auf die Mandarinen freuen, nach denen ich als Kind ein ganzes Jahr lang mich sehnte. Die lagen dann an Nikolaus in einem alten Strumpf vor dem Fenster. Zwei, drei Stück, viele Kerne hatten sie und manchmal ist mir so eine Köstlichkeit vertrocknet, weil ich sie mir so lange aufgehoben habe, um sie zu bewahren, bis sie nicht mehr eßbar war. Und ich möchte mich auf Plätzchen freuen, die vor Weihnachten nicht gegessen werden. Und ich werde am ersten Adventsonntag eine Laterne vors Haus stellen, da brennt durch jede Nacht eine Kerze, um uns auf dem Weg zu leuchten. Auf dem Weg nach innen will ich sein, in Stille und Einkehr. Was für ein schönes Wort. Und ich denke jetzt an meine AhnInnen, die hier im alten Haus gefastet haben, obwohl sie eh ein karges Leben hatten, und die sich am strengsten Fasttag, am 24. Dezember den ganzen Tag über auf die Nudelsuppe gefreut haben um Mitternacht, nach der Mette. Da sind sie um unseren Tisch gesessen und haben die Mettensuppe gegessen.

Vor ein paar Tagen habe ich in dem Stück „Der Tor und der Tod“ von Hugo von Hofmannsthal einen Satz gefunden, der den Tod in dieses alles Irdische durchdringende Föhnlicht tauchte, das heute hinter den Bergen aufgeflammt hat und aus dem Inneren Urgrund unseres Seins zu stammen scheint und alles in einem großen Lächeln auflöst.

 

Der Tod


Steh auf! Wirf dies ererbte Graun von dir
Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe!
Aus des Dionysos, der Venus Sippe,

Ein großer Gott der Seele steht vor dir.

Hugo von Hofmannsthal

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

 

# 68 Das Maul der Zeit

 

An der Wäscheleine hängt der zerknitterte Mond aus Alufolie.

Immer noch.

An zerfetzten Schnüren baumelt hier und dort ein Stern.

Die goldene Sonne ist lange schon heruntergefallen.

Im Nebel verschwimmen Tag und Nacht.

Stunden und Jahre werden zu Schlieren auf der Fensterscheibe.

Das Maul der Zeit hat keine Zähne.

 

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 67 Das Wispern der Dinge

Das Jahr geht langsam in die Knie und alles versinkt im Nebel. Pluto, der mächtige Herrscher der Unterwelt, dem das Zeichen Skorpion untersteht, arbeitet gerne im Verborgenen. Man könnte ihn auch den Chef des Geheimdienstes nennen, wenn man aus dem Horoskop eine Geschichte erzählt, die in einem Märchenschloß spielt. Man sollte ihn niemals unterschätzen, auch wenn es da leise ist in der Unterwelt, heißt das noch lange nicht, daß hier nicht gearbeitet wird. Hier laufen die Fäden zusammen und irgendwann kommen die Dinge ans Licht und können schmerzhafte Umwälzungen mit sich bringen, immer verbunden mit tiefen Wahrheiten, denen man sich stellen muß.

In Geschichten aus uralten Zeiten wurde mir einst von den „Skorpionmenschen“ erzählt. Bevor die Menschen nach ihrem Tod vom Fährmann … in älterer Zeit von den Fährfrauen … über den Styx hinüber ins Totenreich gerudert wurden, waren sie in Begleitung der Skorpionmenschen. Die brachten sie dorthin, wo sie dann das Boot besteigen konnten. Nur die Skorpionmenschen hatten den Mut, mit den Verstorbenen in diese Grauzone zwischen Leben und Tod zu gehen und ihnen den Weg zu weisen. Niemand sonst hätte das gewagt. Nur sie konnten den Verstorbenen die Hand geben, um über diesen schrecklichen Abgrund der Furcht mit diesem einen Schritt hinüberzusteigen und dann die Hand loszulassen …

Mehr wird nicht berichtet über diese geheimnisvollen Skorpionleute an der Schwelle zwischen den Welten.

Ich stehe nicht gerne am Familiengrab. Ich bin gerne auf Friedhöfen, aber ich mag es nicht, wenn ich dabei beobachtet werde. An Allerheiligen ist der Unterschied Stadt/Land besonders zu spüren. Ich verweigere seit Jahren den sogen. Gräberumgang auf dem dörflichen Gottesacker, aber ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, nicht vor dem Familiengrab zu stehen, wie alle anderen. Ich mag diese Blicke nicht, mit denen ich taxiert werde und ich spüre sie, auch wenn mich niemand anstarrt dabei. Da ist dieses alte Gefühl, nicht hier und auch nirgendwo anders zu genügen und dazuzugehören, außerhalb aller Gemeinschaften zu stehen. Das ist ein altes Dilemma, ich kenne es schon aus Kindertagen und immer noch ist es schmerzhaft und geht einfach nicht weg. Zu Gemeinschaft in ländlicher und dörflicher Umgebung nicht zu gehören ist ungleich schmerzhafter als das anonyme Nichtdazugehören im urbanen Raum, das mir auch sehr vertraut ist. Früher hab ich mich manchmal auf irgendeinen städtischen Friedhof vor ein verwaistes Grab an Allerheiligen gestellt und gehofft, die eigenen Altvorderen mögen mir diesen Fauxpas vergeben.

In einer kleinen Anzeige in der heutigen Regionalzeitung schreibt ein Mann, daß er einst als Soldat hier stationiert war und jetzt auf der Suche nach einer bestimmten, heute ca. 80 jährigen Frau ist, weil er einen Fehler von damals wieder gut machen möchte. Ich wünsche ihm sehr, daß er sie findet, egal, was passiert.

Bei einem weiteren Versuch, in Haus und Hof aufzuräumen und Überflüssiges  wegzuwerfen, damit die angesammelten Berge der „Schaddrums“ sich endlich reduzieren, fallen von irgendwo her ein paar kleine blecherne Engelsflügerln heraus. Wahrscheinlich ein Prototyp, noch unbemalt, die mein Vater mit einem Reißnagel an den Rücken eines seiner selbstgeschnitzten kleinen Engel angenagelt hätte. Er hatte Freude daran, aus Holz diese frech lachenden Engerln zu schnitzen, aber wie bei allem, was mein Vater herstellte,  war immer irgendein Teil aus Blech, er war halt Kunstschmied und in großer Leidenschaft dem Eisen und sonstigen Metallen zugetan.
Und dann ist da noch diese alte, total verbeulte unbrauchbare blecherne Gießkanne, Spritzkrug sagte man in der alten Sprache dazu. Und mit einer roten Farbe, die die vielen Jahrzehnte überdauert hat, steht MAX drauf. Der Max, ich glaube, das war der Lieblingsbruder von meinem Papa. Ein künstlerisch hochbegabter, sehr sanfter und stiller Mensch muß er gewesen sein. Er ist elendiglich an Knochentuberkulose zugrunde gegangen, weil sie dem Krankenhaus nicht vertraut haben, und ihn deshalb nicht einweisen ließen, das warf mein Vater seinen Eltern vor. Vielleicht konnten sie es auch nicht bezahlen, ich weiß es nicht. Es ist eine sehr traurige Geschichte und auf einem alten Foto sind da große Schmerzen und viel Traurigkeit in einem lieben Bubengesicht zu erkennen. Meine Großmutter hat oft geweint, wenn sie mir von der schrecklichen Auswegslosigkeit des Schicksals ihres Kindes erzählt hat.
Und dann finde ich auch noch die alte graue Joppe aus der Zeit, als mein Papa noch ein junger Kerl war; er war ein 25iger Jahrgang, nächstes Jahr würde er 100 Jahre alt, wie alt ist dann diese Joppe? Vor mindestens 80 Jahren hatte er sie bei Festen und Tanzveranstaltungen an.

Ach ja, und hier liegt das ganze Zeug herum und verströmt Erinnerung und Vergänglichkeit, niemand braucht diese Sachen und doch bring ich es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen.

Manchmal strahlt ein Licht aus dem Inneren der Dinge heraus und leuchtet in die geheimen und verborgenen Räume, die es in und um uns herum gibt und läßt alles glänzen und wenn man in sich hineinhorcht, dann ist da ein leises Wispern…

 

Und hier schreibt die Kraulquappe