Heute ist eine sogenannte Losnacht, „losen“ oder „lusen“ bedeutet in der bayrischen Sprache Horchen, Lauschen, also genau hinhören heute Nacht und wo hingehen oder wo sein, wo ich ungestört in die Stille des Raumes und seine hinteren Gründe hineinhorchen kann.
Und was fang ich an mit den wohlgemeinten Ratschlägen, sogar die Rauhnächte so gezielt und effektiv dazu zu benutzen, alle unerwünschten Anhaftungen, Ärger, Gedanken loszulassen, alte und neue Verbindungen auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen und abzustreifen, was nicht passt, den Ballast und ungute Menschen. Und gleichzeitig gar nichts zu tun und den Dingen ihren Lauf zu lassen, zu tandeln, verweilen, dasitzen und Löcher in die Luft starren oder „ins Narrenkastl schaun“, wie man früher bei uns sagte.
Ich gehe hinaus in den Wald zum Platz der wilden Frauen, den nur ich kenne und dort bin ich alleine, ganz alleine. Es ist Nacht und eine Nebelzunge leckt über mein Gesicht. Der 13. Mond, dem ein gewaltiges Stück an seiner rechten Seite fehlt, verschwimmt tatenlos hinter Milchglas. Und nun, was soll ich erhorchen und was soll ich wissen, welche Träume darf ich nicht träumen, weil sie sich nicht schicken für ein altes Weib, welche Illusionen zerplatzen wie Seifenblasen, wenn ich sie berühre, welche Begegnungen drohen mit schlechten Anhaftungen, was ist denn gut für mich…ach, mir wird schwindlig bei diesen ganzen Nachforschungen darüber, wo überall die Gefahren drohen und was ich alles loslassen soll und vor was ich auf der Hut sein soll, und ich höre die Vaterstimme: “ Du fällst schon wieder aus der Rolle, du bist so extrem, übertreib doch nicht so, erzähl doch nicht immer allen alles, die Menschen sind nicht so wohlmeinend wie Du denkst, Du bist eine solche Träumerin, jetzt reiss dich doch endlich zusammen und laß dir was sagen!“…nein Papa, ich laß mir nichts sagen, und zusammenreissen mag ich mich schon gar nimmer, ja, ich bin eine Träumerin, aber es ist mir alles scheißegal, ich will Musik und Tanz und Poesie, Freude und Gelächter, und ich will meine Zeit verschleudern und meine Liebe verschwenden im Übermaß, ja, auch an die Falschen, ach, welche sind denn bitte die Richtigen? Ich möchte Menschen an der Hand halten und das Verkehrte sagen und Blödsinn quatschen und mein Leben vertun mit Gaukelei und die Tage mit den Nächten vertauschen, womöglich verwahrlosen und springen und hinfallen und humpelnd weitertanzen und küssen und weinen und mich aufregen an nicht adäquater Stelle und wenn ich sterben muß, dann sollen alle sagen, sie hätten mich gewarnt vor diesem zügellosen Leben, aber ich möcht lieber an Aufregung im Herzen früher vergehen müssen, und weil alles zuviel war, als an grenzenloser ausdorrender Vernunft und einem zufriedenen und anständigen Leben.
Hinten aus dem Dickicht greift ein fahler Arm nach mir, und eine Stimme sagt, “ schau Greterl, da, an diesem Ast hab ich mich erhängt“, ach Mama, da ist gar nichts passiert, das Schürzenband ist doch abgerissen, weißt Du denn das nicht mehr und jetzt verschwinde, auch für dich stehe ich nicht mehr zur Verfügung. „Warum finde ich denn den Papa nicht? “ Meine Güte, laßt mich doch endlich in Ruhe, pfeift den „River Kwai-Marsch“ aus Euren glücklichen Zeiten, und wenn Ihr Euch trotzdem nicht findet, dann ist mir das auch egal jetzt. Ja, und ich, ich werde weiter übertreiben und meine Gefühle auslassen und herumspinnen, was das Zeug hält und Visionen in die Welt setzen, die nichts standhalten und die niemand braucht und ich werde weiterhin die Träume träumen, die sich nie erfüllen, wozu auch? Und ich werde weiterhin zu spät kommen und so verschwurbeltes Zeugs von mir geben, was kein Mensch versteht…
Und ich tanze frierend und mit Nebelhaar auf der Lichtung herum und noch bevor ich richtig sehen kann, was da hinten herumsteht, packt mich eine große, alte, mächtige Gestalt in einem bunten Fetzengewand…ich hatte sie gar nicht herankommen gehört…mit krächzender Stimme sagt sie:“ So, jetzt ist aber genug gequasselt für heut, Du gehst jetzt auch in meinen Kessel und bist still, damit ich in Ruhe umrühren kann, geh nur rein, da sind schon etliche, die Du kennen wirst, und dann schaumamoi, was wir da für ein Supperl für Euch zusammenrühren können!“ Sprichts, blitzt mich mit schwarzen Rabenaugen an und schmeißt mich in den Kessel. Durch grüntürkises Wasser sinke ich langsam auf den Meeresboden und lasse geschehen was geschieht.
Irgendwann komme ich heim. In der Stube läuft der stumme Fernseher, aus dem Hörbuch spricht „Der Mann ohne Eigenschaften“, Herr Graugans samt Kater Herbert schnarchen auf dem Sofa und öffnen jeweils ein Auge. „Ganz unrecht hatte Dein Vater nicht mit der Aussage, daß es wohl niemanden auf der Welt gibt, der so spurlos verschwinden kann wie seine Tochter“… schaut auf meine durchnässten Schuhe und schläft weiter.
Ich hole mir ein wunderbar dunkles Bier, gehe vors Haus und proste allen zu, den Sternschnuppen und den Rauhnachtsgeistern und denen, die auf dem Meeresboden noch auf die Blauen Wunder warten…
Sie werden passieren, glaubt mir!