StadtLandFluß ( Q, R )

Riesige Quellwolken türmen sich am Himmel, der genauso tiefblau ist wie der Eimer, der bis zum Rand voll mit Birnen und Äpfeln im Gras neben mir steht. Die Wolken sind überirdisch strahlend weiß, so weiß, wie mein Kleid sein sollte, in dem ich zur Erstkommunion gehen würde. Alle Mädchen hatten neue weiße Kleider an am Kommunionstag, nur ich nicht, denn meines war ausgeliehen von der Cousine, war aus teuerem Stoff, hatte aber eine Art Gelbstich und führte dazu, daß ich an meinem Ehrentag unglücklich war und mich schämte vor all den strahlend weißen Mädchen. Unerfüllte Sehnsüchte gingen immer neben uns herum und manchmal haben sie sich aufgetürmt wie die Quellwolken am Himmel und manchmal rannen sie mit dem Gewitterregen herab und versanken im Boden. Mein Vater wäre gerne ein Bauer gewesen, weil er sich nach all der Anerkennung gesehnt hat, die derjenige erfährt, der genug Land besitzt und Wald und Tiere, um „dazuzugehören“, aber der Hof war viel zu klein und Armut erfährt keine Achtung … niemals. Meine Mutter hatte Sehnsucht nach dem Theater, aber der Weg auf die Bühne war für immer versperrt.
Als es damals im nahegelegenen Marktflecken noch ein Kino gab, sind sie manchmal mit dem Motorrad hingefahren und haben sich begeistert „Ben Hur“ und „Quo vadis“ angesehen.

Quo vadis?

An einem Abend schaue ich zu, wie die Sonne am Horizont zum glühenden roten Ball wird und langsam in den See eintaucht. Ich denke an die Blogfrau aus dem Waldviertel und an dieses Bild der Sonne in ihrem letzten Blogbeitrag, in dem sie ausrichten ließ, daß es sie in dieser Welt nicht mehr gibt. Ein schönes, stilles Bild mit der untergehenden Sonne … oder geht sie auf … oder ist das womöglich ein und dasselbe? Wohin gehen wir, wenn wir gehen, ins Nichts … ins Nirgendwo? Und nehmen wir da unsere ganze Sehnsucht, unsere Not, unsere Freude, unsere Liebe mit oder lassen wir sie da?
Es berührt mich, wie schnell wir verschwinden, jahrelang hab ich Ingrids Texte gelesen, dann waren ein paar Andeutungen von Krankheit, Leben und Sterben, dann nichts mehr und dann dieser letzte, von ihr beauftragte und überbrachte Satz: „Alles ist gut“. Leb wohl, Waldviertelfrau und möge die Reise leicht sein für Dich dort oben auf dem Weg durch Zeiten und Räume bis hinter die Sterne.

Der See ist rot und brennt, der Feuerball hat ihn angezündet. Bald ist alles vorbei und wie Tusche auf die Glasplatte wird die Nacht dunkelblau in den See tropfen. Das Geheimnis ist dieser Bruchteil der Sekunde des Übergangs, da soll man es sehen, der Legende nach, wenn man zu den wenigen Auserwählten gehört und ich warte … und ich würde gerne den alten Mann fragen, der neben mir auf der Bank sitzt, ober auch er wartet und ob er die Geschichte kennt . Und, daß wir jetzt zu zweit auf der Bank sitzen und schauen und warten, wie die beiden jungen Leute im Film von Eric Rohmer, die aber wie in allen Filmen von Rohmer soviel reden, daß sie es womöglich übersehen würden: „Das grüne Leuchten“. Aber ich sage nichts, sondern schaue ihn nur an und sehe ein Faltengesicht mit sehr hellen  Augen und er lächelt und ich lächle auch. Dann steht er auf, hebt seinen Hut hoch und sagt: „Gute Nacht“,  und dann geht er.

Ein kleiner heller Streifen bleibt am Horizont, ansonsten ist es Nacht geworden. Der Parkplatz ist finster und leer, nur mein Auto steht im hintersten Winkel. Auf dem Autodach liegt etwas und fällt herunter, als ich die Türe öffne. Ein winziger Blumentopf mit einer kleinen Rose.
Rosarot leuchtet sie in die Dunkelheit.

 

StadtLandFluß ( O, P )

„Kopf hoch stirbt sich leichter“
Hjalmar Ringo Praetorius
auf dem Oktoberfest

Es ist wieder Oktoberfest und die einen schimpfen 14 Tage und die anderen haben ein langes Jahr darauf gewartet und gespart, den Urlaub dementsprechend eingeteilt, bis es endlich soweit ist und sie sich gierig hineinwerfen können in den großen Rausch und in das schillernde Spektakel der großen Illusionen. Ob hierbei diejenigen, die ewig stänkern und nüchtern das Ganze als Volksverdummung entlarven, glücklicher sind als diejenigen, die sich dem großen Rausch hingeben und irgendwann wieder im Alltag erwachen mit einem riesigen Kater … ich wage es zu bezweifeln. Ich liebe Rummelplätze und habe es damals sehr genossen, ein paar Jahre in unmittelbarer Nähe der Theresienwiese zu wohnen. Man muß es halt mögen, daß zwei Wochen lang ein Geruch von gebrannten Mandeln und Steckerlfisch  über der Stadt schwebt, man von überall her das Riesenrad sieht und immer so ein Grundrauschen zu hören ist, das es nur im Zusammenklang der Rummelplatzgeräusche gibt, diese einmalige Kakophonie von Stimmen und Musik, ich mag das. Zweifellos gibt es unangenehme Auswüchse wie überall, wo Menschenmassen angetrunken aufeinanderprallen. Aber es wird ja niemand gezwungen, hinzugehen und für einen schlecht eingeschenkten Liter Bier 16 Euro zu bezahlen oder 19 Euro für ein verhutzeltes kleines halbes Brathendl oder 400 Euro für ein Steak.

Wenn es nicht schier unmöglich wäre, einen Parkplatz zu finden, würde ich gerne wieder einmal über das Festgelände gehen, dem Vogeljakob und dem Orchestrion zuhören, mit der Krinoline fahren, eine Fischsemmel essen, eine Tüte mit diesen wunderbaren quadratischen Kokosnußbonbons, Magenbrot und mir vom türkischen Honig den Mund verkleben lassen und dann nochmal eine Fischsemmel … dann hat man aber genug des Guten und die gebrannten Mandeln werden daheim verzehrt. Ich mag gerne irgendwo herumlungern, bei den Fahrgeschäften zuschauen, ein paar Rosen schießen, die Schausteller beobachten, wie sie beim Autoscooter ihrem Job nachgehen und am aller-allerliebsten beim „Schichtl“ stehen und einer Art Vorprogramm zuschauen, das die Leute in die Vorstellung locken soll, immer untermalt mit dem Song der Andrew Sisters. Der Schichtl ist das älteste Schaugeschäft auf dem Oktoberfest und der Spruch: „Auf gehts beim Schichtl!“ ist längst ein geflügeles Wort geworden für alle Lebensbelange, die angepackt werden müssen. Viele Generationen und viele Jahrzehnte hindurch wurde und wird das gleiche Programm gespielt, auf das ein Schild hinweist: „Heute Hinrichtung“!

Die Vorführung hat immer den gleichen Verlauf: im Mittelpunkt steht die Hinrichtung. Irgendwer wird aus dem Publikum ausgewählt, wird zur Guillotine gebracht und geköpft. Der blutige Kopf rollt in einen Korb. Der Trick ist so perfekt, daß man es mit der Angst zu tun bekommen könnte. Selbstverständlich kann man sagen, daß auch Kult ein Blödsinn sein kann. Ich sage, es ist bestes absurdes Theater und es ist schon ziemlich absurd, sonst wär es ja kein absurdes Theater, allein schon wegen dem Schausteller, der den Henker gespielt hat. Sie sagten „Ringo der Schreckliche“ zu ihm, sein Name war: Hjalmar Ringo Praetorius. Er war eine imposante Figur, weiß geschminkt, schwarz gekleidet mit Zylinder. Und zu den Delinquenten, die zur Hinrichtung geführt wurden sagte er immer: „Kopf hoch stirbt sich leichter.“

Vor vielen Jahren suchte die Firma Schichtl dringend einen Henker, das Oktoberfest rückte immer näher und es fand sich keiner. Durch einen Hinweis aus der Bevölkerung auf einen ziemlich besonderen Typen fragte man den Ringo, der war zwar noch nie auf einer Bühne gestanden, sagte aber sofort zu und seitdem tat er Dienst als Henker im blutrünstigen Spiel beim Schichtl auf dem Oktoberfest.
Der Chef vom Schichtl sagte über den wohl nicht ganz einfach zu handhabenden Ringo: Es war unmöglich, ihn zu mögen, aber noch viel unmöglicher, ihn nicht zu mögen. Vor ein paar Monaten ist er nun gestorben und im jetzigen Schichtlbetrieb ist sein ehemaliger Gehilfe aufgestiegen und tut seinen Henkersdienst im absurden Spiel so, wie er es vom Meister gelernt hat.
Leb wohl und ruhe sanft, schrecklicher Ringo, mag sein, daß Du eine  merkwürdige Gestalt warst, nicht einzuordnen in die gängigen Normen, ein kleiner Schausteller, der schnell vergessen ist und die Welt wird wieder einmal nicht merken, daß sie ohne Dich ein wenig ärmer geworden ist. Ich werde Dein Grab suchen und Dir eine Rose hinlegen.

Für mich ist ein Rummelplatz immer noch ein Ort freudiger Aufregung und verbunden mit der Freude der Kinderzeit, wenn ich gesehen habe, wie im Sommer auf der Bundesstraße die großen Lastwägen mit den zerlegten Karussellen in Richtung Kreisstadt gerollt sind. „Papa, das Volksfest kommt!“, hab ich gerufen und nach langem Betteln sind wir dann hingefahren. Wir hatten wenig Geld, aber für eine Portion türkischen Honig, heruntergesäbelt von einem schwarzhaarigen Mann mit Fez auf dem Kopf hats gereicht. Und eine Karussellfahrt. Und einmal ist mein Papa mit der Schiffsschaukel so hoch hinauf, daß er einen Überschlag gemacht hat. Daheim bin ich nur durch ein Riesenglück oder die Hand des Schutzengels an einer Katastrophe vorbeigeschlittert, als ich den Überschlag auf meiner Schaukel probierte, die mit Ketten an einer Eisenstange zwischen zwei Birnbäumen hing …

Ich  mag keine Bierzelt Atmosphäre und ich mag mich nicht betrinken, mich versetzen schon allein die Gerüche, die Stimmen und einfach dieses bunte Treiben in eine Art wohligen Rauschzustand und ich empfinde große Zuneigung für die  Clowns und die Schaustellerinnen und all die Narren dieser Welt, deren Arbeit es ist, uns zu unterhalten, damit wir für ein Weilchen über alles Schwere hinausfliegen und einfach nur ohne Grund lachen und glücklich sein können.

Ich bin ein sehr seßhafter Mensch von außen betrachtet, ich fahre nicht gerne los und ich komme nicht gerne an, aber ich liebe es, unterwegs zu sein auf der Straße, wie die Fahrenden… unterwegs …unterwegs …  einfach unterwegs …

StadtLandFluß (N)

Die Reise des Hutmachers ins Niemandsland und Nemesis, eine Tochter der Nacht, Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit.

Links und rechts neben dem Bahngleis sind schmale Streifen Niemandsland. Da wachsen üppig die Goldreben und allerlei wildes Pflanzenzeugs, sich selbst überlassen so vor sich hin und wiegen sich im Fahrtwind der durchsausenden Züge. Vor ein paar Wochen kam der junge Hutmacher zum Bahnhof, zog sich im Fahrgasthäusel aus, faltete seine Kleidung sorgfältig zusammen auf der Bank, ging ein paar Schritte an den Schienen entlang und legte sich dann auf das Gleis vor den einfahrenden Zug.

Es hat in der Zwischenzeit geregnet und alle sichtbaren Spuren sind weggewaschen. Die Goldreben wiegen sich im Fahrtwind und alles ist wie immer im Niemandsland und schaut aus, als sei nichts gewesen. Das Entsetzen und das Gerede darüber haben aufgehört, zumindest hört man nichts mehr. Ob die Stimmen innendrin auch schweigen, weiß man nicht, denn man kann ja in die Innenräume der Menschen nicht hineinhören.

Ein Niemand ist ein namenlos, herrenlos niemandem zugehörig seiendes Etwas – die Verneinung von Jemand, dazu gehören z.B. Findelkinder und Fahrende. Es ist mir dieser „Niemand “ ein Rätsel, ich benutze den Ausdruck sehr oft, ohne genau zu wissen, was er bedeutet, wir benutzen ihn für etwas nicht vorhandenes und doch ist es ja da und gegenwärtig, allein schon durch seinen Namen. Das wunderbarste Lied, „einen Walzer für niemand“ hat Sophie Hunger geschrieben, es entspricht meinem Gefühl als Niemand unterwegs im Niemandsland zu sein …

Auch hier im Netz bewegen wir uns ja in einem Niemandsland. Eine ehemalige Bloggerin, die „Stattkatze“ hat eine Art Abschiedsrede gehalten, als sie ihren Blog geschlossen hat. Sie erzählte von den Anfängen dieses Bloguniversums, damals ohne Kommentare oder Likes, aber mit diesem starken Gefühl der Anwesenheit anderer, deren Texte miteinander kommunizierten, da waren lautlose Stimmen aus dem Nirgendwo … ein ganz spezieller Zauber und eine vertraute Verbundenheit ohne persönlich miteinander zu sprechen. Eine ganz eigene Welt, eine eigene Wirklichkeit. Dann hat man wohl begonnen, Bloggertreffen zu organisieren und sofort war der Zauber verflogen und konnte nie mehr wieder hergestellt werden, die verschiedenen Formen der Wirklichkeit haben es schwer miteinander. Ich glaube nicht, daß die eine Wirklichkeit ehrlicher ist als die andere, aber wir haben in jeder Wirklichkeit eine andere Existenz, die sich mitunter sehr sehr fremd sind. Das Netz hat vollkommen andere Gesetzmäßigkeiten im Niemandsland seiner Daseinsberechtigung.

Die Nemesis kommt allerhöchstens mal im Kreuzworträtsel vor, womöglich auch da als Rachegöttin, zu der sie im Laufe der Jahrhunderte mutiert zu sein scheint. Im äußerst komplizierten Götterhimmel der griechischen Antike ist sie die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit und der Zuteilung des Gebührenden.  Ihre Attribute sind ein Zweig vom Apfelbaum und an ihrer Seite als Begleitung ein Greif. Es gibt kaum Beweise für eine große kultische Bedeutung. Sie war eine Tochter der Nyx (Nacht), die mit Chronos die Moiren erschaffen hatte, das waren die drei mächtigen Schicksalsgöttinnen Lachesis, Klotho, Atropos., von denen die Etrusker sagten, daß diese drei weit über allen Göttern stünden.

Diese mächtige weibliche Dreiheit kommt aus uraltem  Menschengedenken und hat viele Namen. Hier im Alpenraum konnte das Christentum trotz aller Bemühungen den magischen Kult des Volkes um die drei alten Göttinnen nicht ausrotten und so werden bis heute Barbara, Margarete und Katharina immer noch zum Kreis der 14 Nothelfer gerechnet.

Ob noch was übriggeblieben ist von uralten naturmagischen Ritualen, wo es um das Ehren, die Achtung und die Dankbarkeit für Hilfe in der Not von diesen helfenden heiligen Geistwesen geht … ich wage es zu bezweifeln. Man kennt ihre Namen, aber welche Hilfe bräuchte man von ihnen in Zeiten der alles beherrschenden toten Rasenflächen und der Industriegraswiesen ohne Glockenblumen und Margeriten?

Und wer mag mit Nemesis was zu tun haben … wo um Himmelswillen sollte sie auf dieser Welt anfangen, ausgleichende Gerechtigkeit auszuüben und dort Gebührendes zuzuteilen, wo es von Nöten ist…?

Oder passiert Gerechtigkeit schon, aber ganz anders, als wir vermuten …

Ich gehe im Niemandsland der fallenden Äpfel herum und pflücke Dir ein Zweiglein, Nemesis, bevor ich Dich wieder vergesse und hinter dem Baum steht Niemand und sagt: komm, laß uns den Niemandswalzer tanzen, unbedingt auch linksherum, sage ich.

 

 

StadtLandFluß (M)

Mutter (Ein Gemurmel), von Kate Zambreno

Kaum hatte ich das Buch in der Hand, wußte ich sofort, das ist es, das ist genau DAS Buch, das ich auch schreiben möchte!  Die wunderbare Elke Mützenfalterin hatte es auf ihre unnachahmlich wahrhaftig-poetische Weise vorgestellt und ein paar Sätze daraus zitiert … und da schon kamen mir ein paar Sätze von mir in den Sinn, die ich danebenstellen konnte. Auf dem hinteren Buchdeckel steht: „Was ich suche, sind keine Fakten. Was ich suche, ist etwas Unaussprechbares über meine Mutter. Ich will Bernstein und grünes Glas und Gold . Wie ihre Augen. Unsere Augen.“

Ja.

Und darunter spricht Siri Hustvedt von Assoziationen um eine Frau, die lang schon tot ist,  „aber als Geheimnis und Wunde weiterlebt. …Text, der es wagt, sich der immensen Macht der Mutter zu stellen.“

Ich lese dieses Buch und stelle leise meine Sprache neben die Sprache von Kate Zambreno und suche nach Erinnerungen, die es nicht gibt und wenn sie dann doch auftauchen, frage ich sie, wer sie sind und woher sie kommen und wer sie erfunden hat und was sie denn aussagen über die Mutter. Kate sucht um ihre Mutter herum und ich um meine, beide finden wir nicht das, wonach wir suchten, sondern etwas Diffuses, was in uns lebt, nicht existiert und uns doch ausfüllt bis über den Rand der Existenz.

Dieses Buch liest nur, wer es sich antun will, dieses Gemurmel und das Kreiseziehen um etwas Verlorenes, was man schmerzlich vermisst, ein Leben lang  … die Kreise werden enger und enger aber man kommt nicht wirklich auf eine Spur, die dahin führt, wo es noch nicht verloren war, dort, wo alles begonnen hat, denn es muß doch irgendwann begonnen haben, nicht wahr?

Seit vielen Jahre traue ich mich nicht, es zu schreiben, das (mein) Buch: Mutter. Kate Zambreno hat es gewagt, über zehn Jahre hat sie daran geschrieben. Ich hänge jetzt in der Mitte  fest … irgendwo sagt sie, daß sich die Erfahrung des Scheiterns ihr ganzes Leben lang wiederholt. Schmerzhaft ehrlich.

Fünf Bussarde schweben am Himmel. Mit ausgebreiteten Schwingen ziehen sie kleine und größere Kreise, manchmal stoßen sie dabei spitze Schreie aus … wie elegant sie sich auf die Winde legen … irgendwann sind sie verschwunden. Am Fußabstreifer liegt ein kleiner toter Vogel.

Neben der Straße liegt am Hang ein Baumstumpf, ein paar Meter weiter oben klafft ein tiefes Loch in der Wiese, dort wurde er ausgerissen.

Der Herbst schleicht sich langsam an, die Farben verändern sich. Ich mag gerne die Zeiten des Übergangs, wenn die eine Zeit  nicht mehr und die andere noch nicht ganz da sind, ich bin eine Schwellenhockerin und liebe das nebulöse und das diffuse Licht und das Ineinandergleiten von Werden und Vergehen.

Seit dem Hohen Frauentag am 15.August ist ja jetzt der „Frauendreissiger“.

 

In diesen magischen Tagen und Nächten sammeln die Kräuter ihre Kräfte und die Drachen verlassen ihre Höhlen und fliegen mit den Wolken. Barbara mit dem Turm, Margarete mit dem Wurm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madl, so heißen die drei Ewigen bei uns. Ich bin mir sicher, daß die Margarete mit dem Drachen getanzt hat, damals in uralter Zeit, lang bevor die Christenheit den Hl. Georg erfunden hat, der den Drachen ermordet hat. Leider wollen seitdem die Drachen mit den Menschen nichts mehr zu tun haben und deshalb will auch keiner mehr tanzen, nicht mal mit einer Margarete wie mir. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, warte weiter auf ein Massl(Glück) und winke ihnen zu, wenn sie über das Tal fliegen und sie winken zurück, indem sie ein wenig goldgelbes Feuer spucken.

Manchmal sehe ich im Baum mit den leuchtend roten Äpfeln ein Herz aus Zweigen, man sieht es nur in der Blauen Stunde, wenn die Schatten miteinander spielen. Tagsüber ist es unsichtbar.

 

 

StadtLandFluß (L)

Lufuzi

Mein Vater hatte ein paar Prinzipien, denen er unter allen, aber wirklich auch allen Umständen treu geblieben ist. Er weigerte sich standhaft, zu einem Schnitzel Pommes frites zu essen. Für ihn waren diese trockenen Kartoffelstäbe niveaulos und ein Beweis für den Niedergang der Eßkultur, niemals hätte er auch nur einen davon gegessen.

Ein weiteres Prinzip war, man putzt sich sorgfältig die Schuhe ab, wenn man eine fremde Häuslichkeit betritt, aber man zieht auf keinen Fall die Schuhe aus. Sollte das eine Dame des Hauses von ihm verlangt haben, konnte sie noch so charmant lächeln und auch noch klug sein, das war dann egal, er bezeichnete sie später als Putzteufel und niemals mehr betrat er diese Wohnung. Er empfand es als Demütigung eines Gastes, der dadurch praktisch halbnackt und hilflos in Socken, seiner Würde beraubt als hilflose Witzfigur auf irgendeinem Sofa oder an einem Tisch sitzen sollte … in manch einer Begegnung wurde dadurch unwiderruflich der Keim zur Freundschaft erstickt.

Aber das Allerschlimmste, was passieren konnte war es, einen schlechten Kaffee zu bekommen. Das Prinzip meines Vaters war: ein Kaffee muß heiß wie die Liebe und schwarz wie die Nacht sein. Früher, als meine Eltern kein Geld hatten, gab es trotzdem Bohnenkaffee. Meine Mutter nahm die Mühle zwischen die Knie und setzte sich aufs Sofa und mahlte die Bohnen. Ich kann dieses Geräusch heute noch hören und habe diesen wunderbaren Duft in der Nase, der sich langsam um sie herum ausbreitete. Sie zog dann die kleine Schublade aus der Mühle und kochte einen Haferlkaffee, den man durch ein silbern glänzendes Sieb in die Tasse goß. Dazu gab es immer ein Glas Wasser. Für meinen Vater war dünner Kaffee ein Gräuel, und auch als er schon längst eine Kaffeemaschine mit Filter hatte, schmeckte der Kaffee immer noch ein wenig nach Haferl, er war stark und schwarz und kräftig.  Es gab nicht viel, was ihn mehr verärgerte, als wenn er dünnen Kaffee vorgesetzt bekam. Er nannte ihn dann abgestuft entweder Blümchenkaffee, oder Muckefuck oder, wenn es ganz schlimm war und man das jeweilige Gebräu kaum trinken konnte, sagte er „Lufuzibrühe“ dazu, das kam dann schon einer Beleidigung gleich und auch da vermied er in Zukunft Besuche. Merkwürdig ist, daß dieses Wort Lufuzibrühe in unserer regionalen Mundart nicht vorkommt. Ich habe es noch nie von einem anderen Menschen gehört. Womöglich hatte es meine österreichisch/böhmische Mutter mitgebracht … finden konnte ich es nirgends. Seltsam ist, daß es im Netz ein paar Photographien von 1932/33 gibt, auf denen vollbesetzte Fähren über einen Fluß in Sambia/Afrika zu sehen sind und dieser Fluß ist auf ca 1000 Meter ü.M. und heißt Lufuzi. Wie gelangt nun die Brühe vom Fluß Lufuzi in Afrika in so manch eine hiesige Kaffeetasse? Sprache geht seltsame Wege und die Lufuzibrühe auch, wie letzthin wieder einmal feststellbar beim Italiener als grottenschlechter Espresso.

Lughnasadh oder Lammas, wie die alten Kelten dieses erste Erntefest im Jahr genannt haben sollen ist schon vorbei. Aber die Zeit der Schnitterin ist jetzt gekommen, sie geht übers Land mit ihrer Sichel und schneidet das ab, was zuviel ist. Auch wir mußten das Wilde beschneiden und kürzen, weil aus den vielen beim Spazierengehen eingesammelten Zweiglein riesige wilde Rosenbüsche geworden sind und durch das Werkstattfenster und etliche andere fast kein Licht mehr kam, und weil wir langsam aber sicher komplett umschlungen werden. Das ist immer ein wenig wehmütig, auch der Illex mußte dran glauben. Und da mußte ich an das Haus des Dichters denken.

In dem ganz wunderbaren Blog Lyrikzeitung habe ich mich sofort in ein Gedicht verliebt, das Róza Domašcyna für den Dichter Kito Lorenz geschrieben hat, wie muß er sich gefreut haben darüber! Beim Schneiden der wilden Pflanzen habe ich es vor mich hingesagt:

Dieses haus
für Kito Lorenz

ist das haus eines dichters
man erkennt es daran
dass der rosenbusch über das
hausdach guckt
und daran
dass die tomatenpflanzen in den
giebeltöpfen
so hoch wachsen dass der dichter
nur die hand
aus dem fenster zu strecken
braucht
um die paradeisäpfel zu ernten
an der sonnenseite unter dem
unsagbar
blühenden eingriffeligen
weißdorn
steht ein tisch mit bank und
stühlen
darunter hat der hund seinen
platz

auf der schattenseite am
türpfosten
triumphiert die brennessel
über den gast
der sich zu bücken hat wenn er
ins haus will

ich pflanze sagt der dichter
wie beiläufig
und sieht kurz vom
schreibtisch auf
weiter müssen die setzlinge
sich selber kümmern

Rōza Domašcyna
aus: Stimmen aus der Unterbühne. Gedichte 2020
Leipzig, Poetenladen

Vielen herzlichen Dank an den Poetenladen für die Erlaubnis, das Gedicht hier zu veröffentlichen!

Es ist Löwezeit, aber der „Mond der reifenden Beeren“, mein Mond, nimmt schon wieder ab, die Beeren sind längst geerntet und stehen in rot schimmernden Gläsern im Hauskasten. Alles geht seinen Gang, nimmt ab, nimmt zu und vergeht, kommt wieder in welcher Form auch immer. Die Schnitterin geht übers Land. Der Löwe in mir streckt sich im Schatten und gähnt laut mit offenem Maul und dann räkelt er sich und prüft die Schärfe seiner Krallen und dann pflegt er sein Fell und er liebt diesen Geruch, nach warmem Pelz und Erde und dem Harz der Bäume und dem lauen kleinen Wind und da nimmt er die Witterung auf zum Unsagbaren, das blau vom Himmel tropft und sich in seinen Augen spiegelt …

StadtLandFluß (K)

Wenn ich sagen sollte, welche Bücher, Filme, Musik und Bilder mich in meinem ganzen Sein am nachhaltigsten beeinflußt haben und mitgeholfen haben, der Mensch zu sein, der ich heute bin, dann käme ganz schön was zusammen und immer mehr noch, je länger ich darüber nachdenke. Wenn ich ohne nachzudenken sagen sollte, was mich am meisten erschüttert hat bis in die tiefsten Gründe meiner Seele, dann würde ich sagen: „Die tote Klasse“ von Tadeusz Kantor.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Ausstellung in welchem Gebäude (Pinakothek der Moderne?) und wann genau es war, daß ich in einem kleinen Raum stand mit vier  Schulbänken, in denen acht Kinder saßen. Ich war ganz alleine in diesem Raum mit diesen Bänken und den lebensgroßen Puppen, deren Köpfe ungut nach hinten in den Nacken gepresst waren und alle mit starrem Blick nach vorne. Eine merkwürdig steife Haltung, wie von etwas Bedrohlichem zurückgeworfen. Ich wußte nichts über diese Skulptur und ich kann mich nicht erinnern, was mir bei ihrem Anblick durch den Kopf ging. Ob mir damals schon aufgefallen ist, daß diese Kinder merkwürdig greisenhafte Gesichter haben und wirre, spärliche Haare … daß sie barfuß sind und mit Lumpen bekleidet  und …

und … daß sie tot sind.

Erinnern kann ich mich nur an den Anblick der weit aufgerissenen Augen in diesen erstarrten Puppengesichtern, ja, mir war schon klar, daß da Puppen saßen, da gibt es keine Frage nach Leben oder Tod, es sind nur Puppen. Und doch, ich spüre es heute wie damals, das Gefühl, daß da was nicht stimmt, daß da eine Verlorenheit im Raum herrscht, die so stark und präsent ist, daß man schier in ihr untergeht. Etwas kaum zu Beschreibendes geht von dieser Skulptur aus, ich spüre es immer noch, wenn ich mir die Bilder der „toten Klasse“ im Netz ansehe. Was genau es ist, was eine direkt bedrohliche Beklemmung auslöst weiß ich nicht, aber ich weiß, daß sie kaum auszuhalten ist.

Tadeusz Kantor ist  am 6. April 1915 in Wielopole, einem jüdischen Schtetl geboren und am 8. Dezember 1990 während einer Theaterprobe  gestorben. Er hat während der Besatzung ein Theater im Untergrund geführt, das Theater „Cricot 2“. Er war einer der ganz Großen des Absurden Theaters. Diese Art des Theaters zieht mich magisch an, obwohl ich noch nie verstanden habe, um was es in diesen Stücken geht. Es fällt mir immer noch schwer zu begreifen, daß es nicht nur um das verstandesmäßige Erfassen geht, sondern um Nichts, dem man sich ergeben muß. Erklärungsversuche zum Absurden Theater sprechen von der Sinnfreiheit des Lebens, in dem Menschen orientierungslos herumirren … da liegt die Frage nahe, ob nicht das Leben selbst das absurdeste Theater ist …

Kantors Stücke sind wohl ohne ihn nicht mehr aufführbar, denn er war als Regisseur immer dabei und hat seine Stücke während des Spielens erfunden und weiterentwickelt. Die Schauspieltruppe hat er geführt, als seien es Puppen in seiner Hand, die ohne ihn als Puppenspieler nicht funktionierten.

Andrzej Waida hat 1976 eine Aufführung „Umarla Klasa“ (Die tote Klasse) von Kantor mit seiner Gruppe „Cricot“ gefilmt. Man kann den Film auf YouTube sehen. Leider gibt es weder Synchronisation noch Untertitel in Deutsch, das ist sehr schade, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dadurch mehr begreifen würde vom Inhalt.  Puppen werden von SchauspielerInnen herumgetragen, man weiß kaum, wer Mensch, wer Puppe ist. Erklären läßt sich da nichts, man muß es anschauen und man muß sich hineinfallen lassen, wenn man den Mut dazu besitzt. Immer dabei die hagere Gestalt Kantors, der alles genau beobachtet und dirigiert und in dessen tiefen dunklen Augen sich die Geschichte erfindet und in die sie wieder zurückgesaugt wird.

Ich wäre diesem großen polnischen Theatermann gerne begegnet, er hatte so eine tiefe Liebe zu dem, was er tat, sie schien durch alle scharfen Kanten dieses Gesichts hindurchzuquellen. Eins der wenigen Bücher, die es auf Deutsch über Tadeusz Kantor gibt, heißt „Er war sein Theater“ , wunderbar erarbeitet und geschrieben von Uta Schorlemmer.

Ein wenig erinnert mich Kantor an George Tabori, auf den hätte der Titel auch gepasst.

Würde ich ein paar wilde und leidenschaftliche Theaterversessene kennen, die sich in ein Spiel mit Puppen hineinwerfen täten … ein Theatervorhang ist schnell genäht und Puppen sind wir selber und absurd ist das Leben … also … was braucht es denn mehr, um zu spielen?

 

 

 

StadtLandFluß (I,J)

Der Igel, die Illusionen, und in Salzburg gibts wieder einen Jedermann.

Es war heiß, sehr heiß. Den Gedanken war es zu anstrengend, sich zu Wörtern zu formen, sie zogen durch mich hindurch und lösten sich auf im großen Flirren über der staubigen Straße. Im Schatten träumte ich von El Paso, vom Rio Grande und dann klang plötzlich die Stimme von Paul Simon in mir : “ The Mississippi – Delta was shining like a national guitar“… und ich dachte an die lebenslange Sehnsucht, auf dem Highway unterwegs zu sein in diesem freien weiten Land… ich habe sie geerbt, diese Sehnsucht, unzählige Western, doppelt und dreifach angesehn mit meinem Vater, haben diesen Keim in mir gelegt. Mein Vater war glücklich hier im Voralpenland immer in Sichtweite der Berge, und doch … sie war da, diese Sehnsucht, und wenn wir von den blauen Bergen gesungen haben, dann meinten wir die in Amerika … lebenslang ist diese Sehnsucht auf mich übergegangen, aber ich bin mir keineswegs sicher, ob es gar so sinnvoll wäre, sie zu stillen, indem ich mit ihr in einen Flieger steige.

Mit manch einer Sehnsucht muß man leben, glaub ich. Es ist eine Illusion zu glauben, daß der Mississippi noch der von Huck Finn ist und daß am Rio Bravo Dean Martin als versoffener Sherif mit Ricky Nelson dieses Lied singt: „my rifle, my pony and me“, zum Heulen schön … oder ähnlich unvergessliche Szenen aus unzähligen Western. Außerdem lähmt mich Hitze und der Sommer wird maßlos überschätzt und hält der Wirklichkeit nicht stand.  Aber als Illusion ist er wunderschön, die Welt ist in Ordnung, riecht nach Staub und wilder Kamille und auf den Wiesen blühen Margeriten und Glockenblumen und über der Straße schwebt dieses geheimnisvolle Flirren … „Trenne dich nicht von deinen Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben“, hat der wunderbare Mark Twain irgendwo geschrieben.

In der Nacht kühlt es ein wenig ab, die kleine Fledemaus ist wieder da und zieht Kreise um mich. Glühwürmer fliegen durch die Dunkelheit und suchen dringend liebesfähigen Anschluß zum Erhalten der Gattung. Im Schein der Hoflaterne glänzt eine kleine feuchte Schnauze, der Igel tippelt durch das Gras und sucht schnaufend die Stelle, wo das Pflaster so niedrig ist, daß er auf die Terrasse kommen kann, wo die Katzenteller stehen. Ich würde mich sehr gerne mt ihm unterhalten, aber als er merkt, daß da zwei Füsse stehen, macht er sofort kehrt und sucht einen anderen Zugang. Ich würde ihn gerne fragen, ob das Igelkind den Winter überlebt hat, was er so denkt über den Zustand der Welt und … warum er eigentlich immer den Teller über die ganze Terrasse schiebt und die Wasserschüssel umwirft.  Und, daß es einfach zu gefährlich ist, über die Bundesstraße zu gehen, denn eine stachelige Kugel zu machen ist keine Rettung vor Autoreifen.

Vor ein paar Tagen lagen eine schwarze Katze und dann ein Igel zerquetscht am Straßenrand und ein weiterer Igel lag ein paar Meter vor dem Baum, an dem sich erst kürzlich ein Autofahrer totgefahren hat. Am Baum ist die Rinde abgeplatzt und es schaut so aus, als hätte der Mann sein Auto auf den Baum zugelenkt, um dort zu sterben. So ist es dann auch gekommen. Möge er jetzt seinen Frieden gefunden haben.

Früher standen dort zwei Bäume und davor eine Bank. Meine beste Freundin und ich waren nach der Schule oft dort, um Theater zu spielen, abwechselnd stand eine auf der Bühne und die andere saß als Publikum auf der Bank. Wir haben uns nur lauter lustigen Blödsinn ausgedacht und lachten uns halbtot dabei, wir lachten und lachten, bis uns die Tränen runterliefen und der Bauch wehtat und bis wir nicht mehr konnten.

Eines Tages war alles vorbei, wir hatten unsere Geschichte auserzählt und leergelacht.

In Salzburg wird wieder das Mysterienspiel vom Jedermann geprobt. Ein kongenialer, für seine Passion lichterloh brennender Schauspieler (Philipp Hochmair) wird ihn darstellen. Letztendlich bleibt hinter dem ganzen Prominenzgehabe und diesem Festspielzirkus etwas als Essenz zurück, egal, wie sehr über den angeblichen Kitsch von Hofmannsthal auch die Nase gerümpft wird, was bleibt, ist die Frage: Wer geht mit, wenn die letzte Stunde gekommen ist? Auf einem großen protzigen Festgelage erscheint dem Jedermann ein dunkler Herr, der ihn bittet, mitzukommen. Es ist der Tod. Mit Müh und Not kann er von ihm eine einzige Stunde Verzögerung erbitten. In dieser Stunde versucht er, einen Freund zu finden, der ihn auf seinem letzten Weg begleitet und ihm vor dem Großen Gericht zur Seite steht.

Wer geht mit, wenn es soweit ist.

Der Igel kommt ums Eck, für Kommunikation hat er weder Zeit noch Lust, auf seinen Stacheln glitzern kleine Kugeln … es regnet.

 

StadtLandFluß (H)

Heimat, mein Herz ruft nach Dir

Da wir im weiteren Umkreis von Salzburg leben, könnte man das, was seit Tagen immer wieder in Strömen vom Himmel herunterfällt, auch Schnürlregen nennen. Aber es ist schon gut, das Land ist ausgetrocknet und alles hat Durst. Die wilden Rosen und der Hollunder lassen sich nicht vom Blühen abhalten und es ist ihnen vollkommen egal, ob ihnen dabei das Himmelswasser übers Gesicht läuft. Es ist nicht kalt, aber zu nass, um die viele Arbeit, die um Haus und Hof herum auf mich wartet, anzupacken, und so sitze ich auf der Hausbank, lasse die Gedanken kommen und gehen und schaue einfach so vor mich hin.

Gestern habe ich den wunderbaren Dok.Film: „Die Klasse von Herrn Bachmann“ gesehen, über drei Stunden dauert er und ich möchte keine Minute missen. Und selbstverständlich dachte auch ich wie so viele, hätte ich doch so einen Lehrer gehabt! Eine Klasse voller entmutigter, heimatloser Kinder, die nicht wissen, wo sie hingehören. Er lehrte sie, daß es möglich ist, miteinander das Gefühl „Heimat“ zu spüren und zu teilen.

Ein Ort, ein Gefühl, eine Sehnsucht, wenn man keine findet, oder ein Dasein ohne sie jemals zu bemerken; ein Schmerz, wenn sie verloren ist, dann erst spürt man, daß es sie gab, die Heimat.

Vor langer Zeit, in den siebziger Jahren, da erbte ich mit einer Cousine zusammen den gesamten Nachlaß einer Großtante, der Schwester unserer früh verstorbenen Großmutter mütterlicherseits. Die Cousine lebte in der DDR und deshalb landete der gesamte Hausstand der Großtante bei mir. Darunter auch das, was die Tante von ihrem längst verstorbenen Ehemann aufbewahrt hatte.

Er war Handelsreisender für Damen – Nylonstrümpfe, hinterließ einen riesigen Vorrat an Werbe- und Geschäftsbriefunterlagen, Korrespondenz und Büromaterial. Die Großtante scheint ihre letzten Lebensjahre zunehmend in einer Art von geistiger Umnachtung verbracht zu haben. Ich erbte einen großen Lastwagen voll mit all dem Zeug, was sich halt so in ihrem Leben angesammelt hatte, bis sie das Haus verlassen mußte. Für mich war diese Erbschaft, was das Materielle betraf, keineswegs belastend, sondern eine riesige Freude in Dankbarkeit! Noch heute liegen die damals ererbten Teppiche in meinem Leben herum, es gibt Bilder und schönes Geschirr und ich sitze immer noch am Schreibtisch des angeheirateten Onkels und in einer der Schubläden liegt immer noch diese Schachtel, die ich einfach nicht wegwerfen kann. Immer mal wieder in all den Jahren mache ich den Deckel auf und nur an starken Tagen muß ich nicht weinen, wenn ich auf den Inhalt schaue. In dieser Schachtel liegen dokumentarische Fragmente über eine Kriegsgefangenschaft von Männern, die ich nicht kannte, die verknüpft ist mit der Herkunftsfamilie meiner Mutter, auch da kannte ich niemand. So viel gelebtes Leben, so viele Schicksale, soviele Geheimnisse, die zwischen alten Photographien zu Vergangenheit zerbröseln. Alle sind mir fremd, ich spüre keine Verwandtschaft, was interessiert mich an einem Kriegsgefangenlager in Ägypten? Es ist irritierend für mich, immer noch, aber irgendwo da draußen an den Rändern meines Seins, da berühren sich unser aller Existenzen.

 

Da liegt ein altes Skizzen – Tagebuch mit völlig zerrissenem Einband und ein verstreutes Sammelsurium von vergilbten Zetteln, brüchiges Papier, verblichene Schrift, lange Listen von Namen und Aufgabenverteilungen, Daten und kaum mehr leserliche Hinweise darauf, daß der Onkel in einem englischen Strafgefangenenlager in Ägypten etliche Jahre festgehalten wurde ohne zu wissen, wann und ob überhaupt er jemals wieder heimdurfte. Aufzeichnungen gibt es von 1944 bis 1948, ich weiß nicht, von wann bis wann er dort war. Auf alten Photos ist eine Gruppe junger Männer zu sehen, er war einer davon.

 

Ich kenne niemanden, auch ihn kannte ich nicht. Ich weiß nichts von seiner Familie, ich kenne ja nicht mal die Familie meiner Großtante, der Schwester meiner Großmutter, auch zwischen meiner Cousine und mir ist kein Kontakt entstanden. Es ist mir bis heute unerklärlich, warum meine Mutter und ihre Tante sich nicht gesucht haben, bei der Erbschaft stellte sich heraus, daß sie nur um die hundert km trennten, sie hätten sich finden können.

Lange dachte ich, daß dies halt die Geschichten von Flucht und Vertreibung mit sich gebracht haben, daß die Familien zerrissen wurden. Heute bin ich mir sicher, daß diese Trennungslinien in den Familien schon lange vor dem Krieg gezogen wurden. Diese Erbschaft bekam ich, die völlig Fremde, da meine Mutter, die eigentliche Erbin, ein paar Jahre vorher gestorben war und ich hatte ein ungutes Gefühl, als sei ich eine Erbschleicherin. Ich konnte damals mit zwanzig keine Brücke herstellen über die dunklen Flüsse der alten familiären Machenschaften, ich konnte nur weglaufen, mich in Sicherheit bringen, damit ich nicht hineinstürzte. Meine Mutter wollte anscheinend mit niemanden ihrer Familie mütterlicherseits was zu tun haben und sie ist auch nicht aus ihrer Heimat vertrieben worden, denn sie hatte keine und da, wo sie hinging, da hat sie keine gefunden.

In diesem alten verschlissenen Buch sind Portraitzeichnungen von einem, der großes Talent besaß. Ich vermute, es war mein Onkel, der Strumpfvertreter. Mit schöner Schrift hat er kleine Texte geschrieben, Fragmente eines Lebens in Gefangenschaft. Ich habe sonst nichts von ihm, weiß nichts, sitze aber an seinem Schreibtisch und frage mich wie so oft in all dieser Zeit, warum werfe ich diese Schachtel nicht einfach weg?  Ja, warum.

Da sind diese Bleistiftzeichnungen von der geliebten Frau, ihr Bild ist das erste und das letzte im Buch. Dann die Kameraden, die Haare ordentlich gescheitelt, die Minen ernst und die Augen traurig. Skizzen vom Lagerleben. Schriftliche Schilderung der völligen Mittellosigkeit von Schwester und Ehefrau nach der Vertreibung aus dem Sudetenland, Bitte an die Befehlshaber, englisch und deutsch, alles abgelehnt. Eine Zeichnung über den Schiffsweg in die Verbannung und zurück in die Heimat, Jahre später.

Und dann sind da noch Noten im Tagebuch, sorgfältigst gezeichnete Noten und mit feiner Schrift stehen Liedtexte darunter, Schlager der damaligen Machart, nehme ich an, alle komponiert von Herbert Stieber, ein Kamerad im Lager?

Soviele Schicksale, jedes dieser Leben hätte eine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Ich lege sie alle wieder vorsichtig zusammengefaltet zurück in die Schachtel und ich werde sie wieder nicht in die Mülltonne werfen, wer könnte sowas übers Herz bringen? Vielleicht verbrenne ich alles irgendwann. Dann wird mit dem Rauch dieser Schmerz endlich zum Himmel aufsteigen, dieser Schmerz, der aus allen Aufzeichnungen und in den Augen überläuft und sich in Lieder hineinkomponiert hat und der mich anweht, sobald ich die Schachtel aufmache.

Diesen Schmerz nennt man:

Heimweh.

 

StadtLandFluß (G)

Großmutter

Franziska war ihr Name, ich kann mich aber nicht erinnern, ob sie von irgendwem so genannt wurde. Für mich hat sie nur Oma geheißen. Sieben Kinder hat sie geboren, zwei Mädchen und fünf Buben. Ihr Sohn Otto, ein blonder Hüne mit strahlend blauen Augen, zwei Meter groß und bildschön, wurde von der SS angeworben, aber er wollte nicht. An einer Front ist er dann fürs Vaterland gefallen. Das heißt, er ist abgeknallt worden und irgendwo verscharrt. Der zweite Sohn, Peter, ist in Titos Rübenfeldern kläglich an der Ruhr verreckt. Ein weiterer, der Max, ist nach jahrelanger elendiglicher Pein an Knochentuberkulose gestorben. Die Mädchen haben geheiratet und der älteste Sohn wollte den armseligen Hof nicht übernehmen, er hat lieber und weitaus gewinnbringender in eine begüterte Bürgersfamilie in der Kreisstadt eingeheiratet. Also blieb nur der jüngste, mein Vater, der übernahm den total heruntergekommenen Hof und heiratete eine Flüchtlingsfrau, die aus einer k.u.k. böhmisch österreichischen Theaterfamilie stammte.

Das Leben meiner Großmutter war karg und die Arbeit, die sie leisten mußte, kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Sie stammte aus einer Schusterfamilie und sie hatte einen Bruder, den Schorschl, der die Schusterwerkstatt übernahm. Von der Mutter hat sie nie erzählt. Heute hätte ich so viele Fragen an sie und immer wie der ist es das Gleiche, man muß alle Fragen stellen, so lang noch Zeit ist, irgendwann ist es zu spät. Aber ich war ca. 10 Jahre alt, als sie gestorben ist, die Fragen als Kind an eine Oma sind andere als sie heute wären, da ich auch schon beinahe so alt bin wie sie damals.

Meine Großmutter mußte von daheim weg, da war kein Platz mehr. Da die Tochter eines armen Schusters niemals von einem reichen Bauernsohn geheiratet worden wäre, hat sie den armen Taglöhner mit seinem kleinen Sacherl genommen. Ein Gütel mit wenig Grundbesitz, sie konnten nur ein bis zwei Kühe füttern und blieben arm ihr Leben lang. Es ist mir ein Rätsel, wie sie sieben Kinder so ernähren konnte, daß niemand hungern mußte. Von der wenigen Milch hat sie Butter gemacht und wenn es irgendwie möglich war und sie genug zusammen bekam und mit ein paar vom Mund abgesparten Eiern ist sie mit ihrem Rad 12 km einfach und aufwärts in die Kreisstadt gefahren, um am Schrannenmarkt ein paar jämmerliche Pfennige zu verdienen, auch da versuchten die feinen Damen mit ihr zu feilschen. Heute rasen Menschen auf ihren elektrischen Rädern bei uns vorbei, so schnell, daß man nur noch flüchten kann, damit man nicht umgefahren wird. Mir gefällt das nicht, es gibt kein Fahrrad mehr, sondern nur noch E-Bikes, an die ich mich sicher nicht mehr gewöhne, auch nicht daran, daß es kein Tourenrad mehr gibt , sondern nur noch Trekking, Citybikes etc.   Eine Gesellschaft, die an den Grenzen Geflüchtete zurückschickt, weil wir uns das nicht mehr leisten können … aber wenn ich mir die Scharen von E-Bikern anschaue, die zu Tausenden herumgeistern und pro Bike zwischen 3000 und 6000 Euro aufwärts einfach so bezahlen …

Damals war ein neues Fahrrad absoluter Luxus, aber anscheinend war ein altes Radl da und meine Oma konnte damit fahren.

Sie hat mit mir gespielt und viel mit mir gesungen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme und war sicher hochmusikalisch, das hat sie allen ihren Kindern vererbt. Sie machte die besten „geschnittenen Nudeln“ (eine Art Bandnudeln) nur aus Mehl und Wasser. Ich habe sie sehr geliebt und sie hat mir ganz sicher das Leben gerettet und hat mich in ihr Bett geholt, wenn meine Eltern schlimme Kräche hatten.

Das Leben meiner Großmutter bestand nur aus Arbeit, sie hat sich gefügt und ergeben. Eine Frage, wo denn ihr eigenes Leben oder sowas wie ein eigener Raum geblieben war, hätte sie nicht verstanden. Ich habe viel mit ihr gelacht, sie hatte weiße, ganz feine Haare, bis runter zu den Hüften und meine Mutter hat sie manchmal gebürstet und einen Zopf geflochten, der dann um den Kopf gelegt wurde.

Sie hatte einen ganz speziellen Geruch, leicht pudrig und ein wenig nach Seife. Sie konnte wunderbare Socken stricken mit einer Ferse, die so raffiniert verstärkt war, daß sie jahrelang kein Loch bekam. Ich habe tatsächlich noch ein paar Socken von ihr aus dunkelgrüner  Wolle und ich bewundere noch heute diese Kunst der Ferse, ihre ganz eigene Art, sie zu stricken. Ich würde sie so gerne fragen, wie sie das gemacht hat.

Dann hat sie auch noch meinen Großvater versorgt, der stark verkalkt war, heute würde man sagen dement, bis er gestorben ist. Sie hat ihre Arbeit getan und sie war dabei allein, wie alle Frauen. An Geburts- und Muttertag kamen Vaters Geschwister und es war ein großes Mutterliebetheater um sie. Dann waren alle wieder weg und sie saß irgendwo oder stand beim Abwasch in der Küche und hat leise vor sich hin geweint. Und sie war allein mit ihren Gedanken und ich würde sie so gerne umarmen und ihr danken.

Heute vor fünfzehn Jahren ist mein Papa gestorben, um 0.30 Uhr in seinen 85. Geburtstag hinein.

 

Und heute, am Tag der kalten Sofi, vor genau hundert Jahren, hat meine Großmutter ihr siebtes Kind zur Welt gebracht: meinen Vater.

 

StadtLandFluß (F)

Flieder

Früher war neben dem Flieder eine Schneeballstaude. Sie haben zusammengehört und ziemlich gleichzeitig geblüht, der weiße Schneeball und der Flieder mit seinen blaßlila Blüten, die ausschauen, als hätte der letzte Regen die Farbe etwas herausgewaschen. Den Schneeball hat der Vater schon vor vielen Jahren ausgerissen, weil er während seiner kurzen Blühzeit schwarz wurde vor lauter Läusen. Der Flieder hat bis heute überlebt, geduldet an der Außenseite des Gartens. Er wird schon an die 50 Jahre alt sein. Man sieht ihn kaum noch, er verschwindet hinter wild wuchernden Kornelkirschen und diversen anderen Gehölzen. In den letzten Wochen war es kalt und nass. Trotzdem ist dieser feine, süße Geruch durch den Regen geschwebt, kaum wahrnehmbar und doch vorhanden und erfreuend.

Wie immer, wenn ich etwas abschneide, das draußen blüht und duftet, bereue ich es, sobald die Vase auf dem Stubentisch steht. Auch beim Flieder war es ein Fehler, er hat sofort Blüten verloren und sein feiner Geruch wurde zum süßlichen Verwesungsgeruch, wie bei allen Pflanzen, die man abschneidet und sie dann tot in Vasen stellt. Ich mag sie viel lieber draußen anschauen und riechen in ihrem Werden und Vergehen und wieder Werden, das sie ihrer Natur gemäß selber bestimmen und nicht zur Unzeit verwelken müssen, weil  sie die Schere abschneidet von ihren Wurzeln und vom Leben.

Gestern war Muttertag, auf den Straßen wurden die Mütter herumgefahren zu den diversen Berggasthöfen mit viel Torten und Kaffee und schöner Aussicht ins Gebirge. Die ansonsten halbleeren Parkplätze vor den Altenheimen waren belegt bis in den hintersten Winkel, auch da wurde Müttern mit Pralinenschachteln und riesigen Schnittblumensträußen, mit herzförmigen Torten und Kaffee und Glückwünschen Kinder- und Enkelliebe überbracht, hinein in die trostlosen Aufbewahrungsstätten. Manche Mütter haben umsonst gewartet, sie bekamen auch am Muttertag keinen Besuch und wo ist denn die Liebe geblieben … ach die Liebe, manchmal weht sie heran, wie der zarte Duft des Flieders durch den Regen … aber jetzt ist er verblüht und der Duft verflogen, aber die Sonne scheint und bald werden die Akeleien blühen.

Ich stehe am Abend am Grab, über mir der volle Mond, ich gieße die Hornveilchen und hole den kleinen Engel unter dem wuchernden Cottoneaster hervor, damit er in die Nacht hinausschauen kann und sich am Mond erfreut. Ach Mama, so lang bist Du schon tot, 57 Jahre lang. Ich kann mich kaum mehr an Dich erinnern, aber die Andeutung eines, Deines Geruchs habe ich mir bewahrt, wie den Duft des Flieders, der längst verflogen, doch noch in mir gespeichert ist.  Und Dein Lachen, Mama, das hast Du mir da gelassen, dieses hellklingende Lachen, wie Perlen, die auf die Tischplatte kullern, wenn die Schnur reißt. Ein Lachen, so lebensfroh und glücklich, dieses Trotzalledemlachen, und ich sehe Dich irgendwo auf der Wiese, die Arme übervoll mit Blumen und Gesträuch. Du warst ein mutterloses Kind, heimatlos bist Du durch die Welt getrieben worden und auch ich bin ohne Mutter zurückgeblieben und erst jetzt, da ich alt bin, weiß ich, was das bedeutet.

Weißt Du, Mama, der Flieder schaut aus wie Deine Kittelschürze, da war auch die Farbe so herausgewaschen. Ich lege Dir nichts aufs Grab, denn ich trag Dich ja eh in mir, tief drin in meinem Herzen und manchmal, wenn ich lache, dann ist mir, als würdest Du aus mir lachen, Du weißt, was ich meine, nicht wahr, Mama.