Heimat, mein Herz ruft nach Dir
Da wir im weiteren Umkreis von Salzburg leben, könnte man das, was seit Tagen immer wieder in Strömen vom Himmel herunterfällt, auch Schnürlregen nennen. Aber es ist schon gut, das Land ist ausgetrocknet und alles hat Durst. Die wilden Rosen und der Hollunder lassen sich nicht vom Blühen abhalten und es ist ihnen vollkommen egal, ob ihnen dabei das Himmelswasser übers Gesicht läuft. Es ist nicht kalt, aber zu nass, um die viele Arbeit, die um Haus und Hof herum auf mich wartet, anzupacken, und so sitze ich auf der Hausbank, lasse die Gedanken kommen und gehen und schaue einfach so vor mich hin.
Gestern habe ich den wunderbaren Dok.Film: „Die Klasse von Herrn Bachmann“ gesehen, über drei Stunden dauert er und ich möchte keine Minute missen. Und selbstverständlich dachte auch ich wie so viele, hätte ich doch so einen Lehrer gehabt! Eine Klasse voller entmutigter, heimatloser Kinder, die nicht wissen, wo sie hingehören. Er lehrte sie, daß es möglich ist, miteinander das Gefühl „Heimat“ zu spüren und zu teilen.
Ein Ort, ein Gefühl, eine Sehnsucht, wenn man keine findet, oder ein Dasein ohne sie jemals zu bemerken; ein Schmerz, wenn sie verloren ist, dann erst spürt man, daß es sie gab, die Heimat.
Vor langer Zeit, in den siebziger Jahren, da erbte ich mit einer Cousine zusammen den gesamten Nachlaß einer Großtante, der Schwester unserer früh verstorbenen Großmutter mütterlicherseits. Die Cousine lebte in der DDR und deshalb landete der gesamte Hausstand der Großtante bei mir. Darunter auch das, was die Tante von ihrem längst verstorbenen Ehemann aufbewahrt hatte.
Er war Handelsreisender für Damen – Nylonstrümpfe, hinterließ einen riesigen Vorrat an Werbe- und Geschäftsbriefunterlagen, Korrespondenz und Büromaterial. Die Großtante scheint ihre letzten Lebensjahre zunehmend in einer Art von geistiger Umnachtung verbracht zu haben. Ich erbte einen großen Lastwagen voll mit all dem Zeug, was sich halt so in ihrem Leben angesammelt hatte, bis sie das Haus verlassen mußte. Für mich war diese Erbschaft, was das Materielle betraf, keineswegs belastend, sondern eine riesige Freude in Dankbarkeit! Noch heute liegen die damals ererbten Teppiche in meinem Leben herum, es gibt Bilder und schönes Geschirr und ich sitze immer noch am Schreibtisch des angeheirateten Onkels und in einer der Schubläden liegt immer noch diese Schachtel, die ich einfach nicht wegwerfen kann. Immer mal wieder in all den Jahren mache ich den Deckel auf und nur an starken Tagen muß ich nicht weinen, wenn ich auf den Inhalt schaue. In dieser Schachtel liegen dokumentarische Fragmente über eine Kriegsgefangenschaft von Männern, die ich nicht kannte, die verknüpft ist mit der Herkunftsfamilie meiner Mutter, auch da kannte ich niemand. So viel gelebtes Leben, so viele Schicksale, soviele Geheimnisse, die zwischen alten Photographien zu Vergangenheit zerbröseln. Alle sind mir fremd, ich spüre keine Verwandtschaft, was interessiert mich an einem Kriegsgefangenlager in Ägypten? Es ist irritierend für mich, immer noch, aber irgendwo da draußen an den Rändern meines Seins, da berühren sich unser aller Existenzen.
Da liegt ein altes Skizzen – Tagebuch mit völlig zerrissenem Einband und ein verstreutes Sammelsurium von vergilbten Zetteln, brüchiges Papier, verblichene Schrift, lange Listen von Namen und Aufgabenverteilungen, Daten und kaum mehr leserliche Hinweise darauf, daß der Onkel in einem englischen Strafgefangenenlager in Ägypten etliche Jahre festgehalten wurde ohne zu wissen, wann und ob überhaupt er jemals wieder heimdurfte. Aufzeichnungen gibt es von 1944 bis 1948, ich weiß nicht, von wann bis wann er dort war. Auf alten Photos ist eine Gruppe junger Männer zu sehen, er war einer davon.
Ich kenne niemanden, auch ihn kannte ich nicht. Ich weiß nichts von seiner Familie, ich kenne ja nicht mal die Familie meiner Großtante, der Schwester meiner Großmutter, auch zwischen meiner Cousine und mir ist kein Kontakt entstanden. Es ist mir bis heute unerklärlich, warum meine Mutter und ihre Tante sich nicht gesucht haben, bei der Erbschaft stellte sich heraus, daß sie nur um die hundert km trennten, sie hätten sich finden können.
Lange dachte ich, daß dies halt die Geschichten von Flucht und Vertreibung mit sich gebracht haben, daß die Familien zerrissen wurden. Heute bin ich mir sicher, daß diese Trennungslinien in den Familien schon lange vor dem Krieg gezogen wurden. Diese Erbschaft bekam ich, die völlig Fremde, da meine Mutter, die eigentliche Erbin, ein paar Jahre vorher gestorben war und ich hatte ein ungutes Gefühl, als sei ich eine Erbschleicherin. Ich konnte damals mit zwanzig keine Brücke herstellen über die dunklen Flüsse der alten familiären Machenschaften, ich konnte nur weglaufen, mich in Sicherheit bringen, damit ich nicht hineinstürzte. Meine Mutter wollte anscheinend mit niemanden ihrer Familie mütterlicherseits was zu tun haben und sie ist auch nicht aus ihrer Heimat vertrieben worden, denn sie hatte keine und da, wo sie hinging, da hat sie keine gefunden.
In diesem alten verschlissenen Buch sind Portraitzeichnungen von einem, der großes Talent besaß. Ich vermute, es war mein Onkel, der Strumpfvertreter. Mit schöner Schrift hat er kleine Texte geschrieben, Fragmente eines Lebens in Gefangenschaft. Ich habe sonst nichts von ihm, weiß nichts, sitze aber an seinem Schreibtisch und frage mich wie so oft in all dieser Zeit, warum werfe ich diese Schachtel nicht einfach weg? Ja, warum.
Da sind diese Bleistiftzeichnungen von der geliebten Frau, ihr Bild ist das erste und das letzte im Buch. Dann die Kameraden, die Haare ordentlich gescheitelt, die Minen ernst und die Augen traurig. Skizzen vom Lagerleben. Schriftliche Schilderung der völligen Mittellosigkeit von Schwester und Ehefrau nach der Vertreibung aus dem Sudetenland, Bitte an die Befehlshaber, englisch und deutsch, alles abgelehnt. Eine Zeichnung über den Schiffsweg in die Verbannung und zurück in die Heimat, Jahre später.
Und dann sind da noch Noten im Tagebuch, sorgfältigst gezeichnete Noten und mit feiner Schrift stehen Liedtexte darunter, Schlager der damaligen Machart, nehme ich an, alle komponiert von Herbert Stieber, ein Kamerad im Lager?
Soviele Schicksale, jedes dieser Leben hätte eine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Ich lege sie alle wieder vorsichtig zusammengefaltet zurück in die Schachtel und ich werde sie wieder nicht in die Mülltonne werfen, wer könnte sowas übers Herz bringen? Vielleicht verbrenne ich alles irgendwann. Dann wird mit dem Rauch dieser Schmerz endlich zum Himmel aufsteigen, dieser Schmerz, der aus allen Aufzeichnungen und in den Augen überläuft und sich in Lieder hineinkomponiert hat und der mich anweht, sobald ich die Schachtel aufmache.
Diesen Schmerz nennt man:
Heimweh.