Der kleine Mann im großen Parkhaus, die Friedenskönigin und die Outlaws hinterm Nußbaum.

Es ist sehr warm. Ich versuche, den Ausgang zu finden. Irgendwo in einem der oberen Etagen des Parkhauses, stehe ich und bemühe mich, weder die Taschen, gefüllt mit Handtuch, Büchern und anderen diversen existenziellen Notwendigkeiten, noch den über dem Arm lose hängenden Mantel zu verlieren. In der Nähe rutscht ein kleiner alter Mann vom Fahrersitz eines sehr großen Autos herunter und kommt langsam auf mich zu. Wir suchen gemeinsam die Fußgängerbrücke, die vom Parkhaus über die Straße zum Haupteingang vom Krankenhaus führt. Er geht schwer atmend neben mir her und erzählt mir, daß er leider nicht schneller gehen kann, weil da was ist mit dem Herz und er jetzt in eine Sprechstunde muß. Seine schmächtige Gestalt ist mit teuerem Schwarz eingekleidet, er riecht dezent nach Rasierwasser und die Sonne spiegelt sich in der glänzenden Lederjacke.  Er hält mir alle Türen auf und drückt die Liftknöpfe für mich, spricht zu mir, schaut mich dabei aber nicht an. Im Haupteingang will ich mich von ihm verabschieden, aber er ist bereits im Inneren der großen Klinik verschwunden.

Am Abend zünde ich in der nahen Kapelle eine Kerze an für die, die sie grad dringend brauchen und für mich, die ich hoffe und bange. An der Wand über dem kleinen Altar ist ein großes Spruchband aufgemalt: „Maria, Friedenskönigin, bitte für uns in der Not!“ Darunter steht die Madonna, so gekleidet, wie sie damals von den Kindern in Fatima beschrieben wurde. Ich denke an meinen Vater, der sich ketzerisch darüber aufgeregt hat, ob man denn meint, daß die aus Fatima noch heiliger wäre und mehr ausrichtet dort oben als eine einfache Bauernmadonna von hier, aus dem oberbairischen Alpenvorland. Als ob das nicht überall die gleiche Muttergottes wäre. Sehr tief und schwarz leuchtet es aus den Augen der Heiligen Frau im Kerzenlicht. Ich hatte schon immer ein ganz besonderes Verhältnis zur Frau des Himmels und vor allem zu ihrem Schutzmantel, von dem Sie umgeben ist und unter den man sich flüchten kann, wenn man nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Ich wende mich nicht an sie, damit sie ein gutes Wort beim lieben Gott einlegt. Das Gebet ist die Sehnsucht, Teil der göttlichen Kraft zu sein, die dieser Schutzmantel repräsentiert.

Als die Freundin eine Diagnose bekommt, die ihr den Boden unter den Füssen wegzieht, sage ich zu ihr: Du stirbst nicht an einer Diagnose, wir sterben alle nicht an einer Krankheit, sondern daran, daß wir sterblich sind. Alle. Auch die, die nie krank sind, leben nicht unendlich. Wann wir sterben, wird an ganz anderer Stelle entschieden. Im Himmel. Kurzzeitig hab ich mir gedacht: meine Güte, was redest du denn da … aber jetzt denk ich mir, daß diese Aussage ganz und gar nicht so dumm ist, wie ich befüchtet hatte.  Der rote Willie spaziert laut miauend in die Kapelle und wir gehen mit diesen Gedanken heim. An der Türe dreh ich mich um und blicke in ihre dunkel glänzenden Augen … ich suche Schutz unter Deinem Mantel … und ich komme nicht alleine …  Gegrüßet seist Du Maria.

Im Birkenwipfel hat sich ein halbwegs gerundeter Mond niedergelassen.

Jedes Jahr kommen die wilden Schneeglöckerln. Sicher ist nur, daß sie kommen, wann und wo kann man nicht sagen. Ich würde sie auch keineswegs Frühlingsboten nennen, sie haben einen eigenen Plan, sind schon im tiefsten Januarwinter unter dicker Schneedecke aufgetaucht oder erst im Februar, wenn klimamäßig schon Frühsommer ist, wie heuer. Sie bilden große Flächen oder stehen vereinzelt herum und wechseln die Plätze. Es kann sein, daß sie einen Platz, eine Wiese, auf der sie jahrzehntelang standen, plötzlich verlassen und woanders auftauchen. Heuer kamen sie in großen Scharen oder Rudeln am Hang hinter dem Nußbaum, da waren sie früher nie. Wie sie das machen, ist mir ein Rätsel, sie wachsen aus Zwiebeln und wie sie mit ihren Zwiebeln von einer Wiese zur anderen wandern, bleibt ihr Geheimnis. Auf FB wurde ich zu einem Foto heftig bedrängt von alleswissenden BotanikerInnen, die mir klarmachten, daß ich mit der Bezeichnung Schneeglöckchen komplett danebenliege. Denn was bei uns Schneeglöckchen heißt, sind sogenannte Frühlingsknotenblumen oder Märzenbecher.  Da ich diesbezüglich unbelehrbar bin, hat man von mir abgelassen mit der Bemerkung, man hätte ja schon gehört, daß in Bayern die Uhren anders gingen.  Ich sage, es ist so, daß manches woanders halt einfach anders ist. Unterm Birnbaum wachsen seit vielen Jahren auch einige Büschel von den kultivierten Schneeglöckchen und zwar brav nur da, wo sie damals eingesetzt wurden.

Die anderen, die wilden, sind außerhalb jeglicher Norm und tun, was sie wollen. Sie eignen sich überhaupt nicht für die Vase, kaum stehen sie im Zimmer, ist es schon vorbei mit ihnen. Sie tauchen auf aus dem Nichts, über Nacht, bleiben kurze Zeit da, werden immer größer und verschrumpeln, sie ziehen sich dann in ihre Zwiebeln zurück, die langen Blätter bleiben stehen, bis das Sommergras sie verschluckt. Den Rest des Jahres leben sie praktisch im Untergrund, niemand weiß, was sie da treiben.

Sie passen gut zu uns, unsere Schneeglöckerln, sie sind Outlaws wie wir. Wir sind auch so eine Mischung aus Underdogs, Desperdos und Outlaws.  Wir passen nicht gut in die gängigen Normen, wir leben in einem Haus, das nach altem Holz und Mauerwerk riecht, die Handtücher riechen nach dem alten Bauernkasten, in dem sie liegen und wir leben mit Spinnen, die ihre Fäden über die Dinge ziehen wie im Rilkegedicht die Kreise. Die Bücher führen ihr Eigenleben, bleiben nicht in den Regalen, wandern überall herum wie der Staub. In der Küche wird viel und gut gekocht, die Holzflächen sind fleckig und die Schubladengriffe kleben, wie auch der Boden meistens. Und Kater Willie verteilt großzügig sein rotes Fell überall, vor allem auf schwarzen Hosen. Ums Haus herum wachsen die Rosen, in zwei Gärten wächst Wildnis. In diesem Haus war noch nie genug Geld, so ist es bei uns auch und das Dach war immer schon ein Problem. Wir sind entscheidungsschwach, überhaupt nicht konfliktfähig, keine zum Durchstarten oder zum Anpacken, haben keine Systeme, wie man am besten mit bedrohlichen Krankheiten und überhaupt mit den Erfordernissen des Lebens fertig wird und neigen, ersichtlich an tonnenweise aufbewahrter „Schaddrumms“ zur Vermüllung.

Was es ganz viel und im Übermaß bei uns gibt sind Träume, gutes Essen, guten Apfelmost, Geschichten, Geschichten, Geschichten und Visionen, die nie in die Tat umgesetzt werden.

Egal wie grad die Sorgenlage ist, ich freu mich immer wahnsinnig, wenn die Schneeglöckerln da sind, die Outlaws hinterm Nußbaum.

 

Tanzender Stern

Ozeanische Gefühle…

Wassermann sagt: Ich habe den Menschen auf dieser Welt meine Visionen gebracht, sie wissen jetzt, was zu tun ist. Fische, übernehmt jetzt und schließt den Kreis.

Und die Fische übernehmen den Stab und mit ihm die Sehnsucht aller zwölf Sternzeichen und schwimmen damit hinaus aufs weite offene Meer. Sie gleiten durch die Wasser der Unendlichkeit, alles Feste löst sich auf. Ich löse mich auf, ich bin und ich bin nicht…

Dorthin ins Namenlose führt kein Weg, nichts ist mehr greifbar oder faßbar, es gibt keine Grenzen mehr, alle Konturen verschwimmen in sanften Spiegelungen. Loslassen, geschehen lassen, wirken durch Nichttun … das Ruder wegwerfen und sich vom Meer treiben lassen, wohin das Meer es will … das könnten wir von den Fischen lernen.

Nixen schwimmen heran und verschwinden wieder, sie wissen um die Geheimnisse von Anfang und Ende, Werden und Vergehen. Wer sich diesem grenzenlosen Fließen hingibt kann erfahren, daß jede Form nur Übergang ist.

Der Kreis hat sich geschlossen und sein Ende wird zum Anfang werden, wenn die Zeit reif ist.

Meeresgöttinnen zeigen das Bild einer sich ewig wandelbaren Mutter des Chaos, aus ihr heraus entstehen neue Welten.

 

„Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

(Zarathustra, Friedrich Nietsche)

 

 

# 77 Ein strenges Geschäft.

„Nun ist Einsamkeit an sich schon ein strenges Geschäft.“  (Andreas Glumm)

Mit dem heutigen Beitrag, der die magische Zahl 77 trägt, beenden die Kraulquappe und ich unser Projekt des Schreibens überkreuz. Kaum zu glauben, aber wir machen das jetzt schon über eineinhalb Jahre! So nervig wie das oft war, daß wir praktisch auf Knopfdruck schreiben mußten, so sehr hat es auch für das Schreiben Struktur und Disziplin gebracht. Wir haben uns sozusagen zu einer Disziplin verpflichtet. Aber irgendwann ist es halt auch wieder vorbei, so ein Projekt. Es war ein wundervoll unkompliziertes Zusammensein mit der lieben Kraulquappe, in absolut freier und doch verbundener Arbeit, ein geglücktes und glücklichmachendes gemeinsames Tun.

Und wie das nach jedem erfolgreichen Projekt halt so ist: ich bin froh, wenn die gemeinsame Verpflichtung weg ist, aber gleichzeitig gerate ich in eine Art wehmütige Leere und bin erstmal mit meiner Einsamkeit alleine, wie immer, wenn das Alte weg ist und das Neue noch nicht in Sicht. Vielen lieben Dank an die mutige Kraulquappe, die sich einfach so in dieses Projekt reingeschmissen hat. Wir bleiben uns gewogen und in Verbindung, eh klar, schaumamal, was die Zukunft so bringt. Jetzt heißts erstmal:
Aus is und gar is und schad is, daß wahr is.

Ich wollte mir heute den letzten Bundestag vor der Wahl anschauen, hab es aber nicht lange ausgehalten, die Gemeinheiten, die Häme, die Hetze, dieser offene Haß und der spürbare gegenseitige Vernichtungswille, all das, was man sich gegenseitig an den Kopf warf … keine Spur von Freundlichkeit und Zuversicht, nach der Wahl, wenn auch nicht gleicher Meinung, so doch in die gleiche Richtung blickend die Regierung zu gestalten, sondern nur Gehacke. Unglaublich. Nur wenige behielten die Fassung, einer davon Robert Habeck, der in seiner Rede ruhig blieb und das sagte, auf was es ihm ankommt und sich nicht dazu verleiten ließ, trotz der Ärgernisse Stil und Kinderstube zu verlieren. Ich schätze ihn sehr, und das, was er sagt und was er tut und auch seine Partei entspricht  sehr  meinem Denken und ich fühle mich absolut gut von ihnen vertreten. Fehler gestehe ich zu, es sind Menschen.

Jetzt wird es wohl nochmal ziemlich schlimm werden in den nächsten eineinhalb Wochen. Mit dem ganzen Geschimpfe und dieser ewigen Kritisiererei und diese andauernden Schuldzuweisungen mag ich nichts mehr zu tun haben, ich habe schon gewählt in Respekt und Achtung vor denen, die mich im Bundestag vetreten sollen und im Vertrauen darauf, daß sie ihr Bestes geben.

Und überhaupt mag ich nicht ständig darauf warten, daß der Staat alle Probleme löst, der Staat sind wir selbst und wir müssen halt die Hände aus den Hosentaschen nehmen und selber was tun, und es gibt viel zu tun für jede n von uns. Wir können uns organisieren und in die Altersheime gehen, und uns um das Wohlergehen der dort Vergessenen kümmern, um die Kinder, die keiner braucht und die in den Heimen verlorengehen, wie die Tiere in den Tierheimen oder wenn wir einfach zum Nachbarn gehen, der seine kranke Frau pflegt und kleine Kinder hat und in die Arbeit gehen muß … was wäre dabei, zu sagen: ich habe Zeit, was kann ich tun?

Jedesmal, wenn ich im Altersheim bin, denke ich mir, daß sich über kurz oder lang das Heim verändern täte, wenn wir viele wären, die sich um Menschen kümmerten, auch wenn sie ihnen erstmal fremd sind … “ es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ … ist es nicht so, immer noch und immer wieder? Es wurde mir schon oft vorgeworfen, ich sei so eine arme irre unverbesserliche Humanistin, so würde es auf der Welt nun einfach nicht funktionieren.  Niemand kann aus seiner Haut, ich auch nicht und wenn ich ein paar Leute finden täte, die mitmachen, dann würde ich so eine Art Besuchskreis gründen für alle Einrichtungen, in denen lebende Geschöpfe verlorengehen … ich habe schon so viel gegründet in meinem Leben. Mit manchem bin ich jämmerlich bis grandios gescheitert, aber mancherort habe ich Spuren hinterlassen, immerhin, und direkt verloren war kein Versuch, die Welt zumindest ein bisserl zu einem besseren Ort zu machen, auch wenn in meinem löwischen Größenwahn immer die Komplett – Rettung geplant war.

Oje, es ist schon weit nach Mitternacht, das Dorf schläft lange schon, nur bei mir ist noch Licht. Allen, die grad verzagt sind oder einfach einen schönen und liebenswürdigen Film sehen möchten, der leicht und hell ist und doch Seelentiefe hat, ich hab ihn heute zum fünften Mal angesehen und werde es sicher noch öfters tun:

„Glück auf einer Skala von 1 bis 10“  ist der Titel des franz./schweiz. Films , er läuft noch bis zum 3. März auf auf ARD – Mediathek!

„Es war mild, der Kaffee hatte mich aufgewärmt, und durch die offene Tür drang ein Duft von Nacht und von Blumen.“   ( Albert Camus: Der Fremde)

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

 

# 76 Songlines

Abschied
Eines Nachts, als der Sommer am tiefsten war, zog ich die Tür hinter mir zu und ging los, so geradeaus wie möglich nach Osten. Berlin war ganz still an diesem frühen Morgen. Alles, was ich hörte, war das Pochen der eigenen Schritte auf den Dielen, dann auf Granit. Eine Süße lag in der Luft, das waren die Linden, und Berlin lag wach, aber es hörte mich nicht. Es lag wach wie immer und wartete wie immer und hing wirren, gewaltigen Träumen nach, die aufblitzten wie das Wetterleuchten dort über dem Häusermassiv. Es hatte geregnet die Nacht, ein Bus fuhr vorüber, seine Rücklichter zogen rote Spuren über den nassen Asphalt. Verkehr kam auf, in den Alleen schrieen die Vögel, zitternd sprang die Stadt an, bald würden Angestellte in breiter Formation in ihre Büros fahren. Damit hatte ich nichts mehr zu tun.

aus: „Berlin – Moskau
Eine Reise zu Fuß“
von:   Wolfgang Büscher
rororo 2003

Das Buch kam heute mit der Post, ich habe es ausgepackt und aufgeschlagen und wusste nach den ersten Zeilen, daß ich auch auf diesem Weg, den Wolfgang Büscher vor zwanzig Jahren abgeschritten hat, hinter ihm hertrotten würde wie ein streunender herrenloser Hund, der einer Fährte folgt. Und ich folge dabei nicht erstrangig seinen Stiefeln auf fremden Straßen, nicht den Abenteuern, die er erlebt, wahrscheinlich nicht mal seiner Person. Ich kann das nicht näher beschreiben, aber es ist die Poesie seiner Sprache, der ich folge. Mit dem ersten Satz beginnt der Weg, der sich Wort für Wort weiter fortsetzt wie Lichtzeichen von einem fremden Stern oder wie eine Melodie, die sich von selbst weiterspielt. Ich sehe es nicht und höre auch keine Musik und trotzdem ist es so. Bruce Chatwin hat über die Traumpfade geschrieben, niemand kann sie erklären und doch sind sie da. Ich folge den Traumpfaden der Sprache, des geschriebenen Wortes schon lange. Ich kann sie  weder sehen noch riechen oder hören, aber ich spüre sie. Ich habe mit W.G. Sebald England mit Linien überzogen, bin J.L.Borges ins Labyrinth gefolgt, mit Bruce Chatwin nach Patagonien, wo in dieser Höhle das Fell von einem uralten Wesen verborgen war und bin mit Werner Herzog nach Paris gegangen, eine Linie, die den Tod überwinden konnte.

Von Wolfgang Büscher habe ich „Ein Frühling in Jerusalem“ gelesen und irgendwann mitten in seinem Text habe ich sie gespürt: die Songline der drei Frauen, oder waren es mehr und seitdem möchte ich genau dorthin, wo sie waren und noch sind …  diese Frauen.

Seit diesem Buch bin ich seiner Sprache gefolgt und mit ihm durch Deutschland gegangen und um das Holzhaus im Wald geschlichen und jetzt werde ich ihm folgen nach Moskau, lange bevor der schreckliche Krieg so viele Menschen in Tod und Verderben gestürzt hat. Und dann werde ich nach Amerika reisen, durch das Hartland und durch Asien und … nicht zu vergessen, das neue Buch über seinen Weg durch die Wüste.

Auf meinem Tisch liegen mindestens zwanzig ungelesene wunderbare Bücher, die Lettre mit einem hochinteressanten Text über Patti Smith und W.G.Sebald, es wird langsam eng, kaum haben noch Teekanne und Tasse Platz, aber alles muß warten, denn ich bin unterwegs nach Moskau mit Wolfgang Büscher, dem ich hiermit nochmal herzlich danke, daß ich aus dem Buch zitieren durfte!

Ihr könnt es gerne Leidenschaft für Sprache nennen oder auch sagen, daß ich spinne, beides würde ich nicht ausschließen, aber ich sage, ein paar wenigen gelingt es, mit ihrer Sprache Songlines zu schaffen, auf denen man reisen kann, wenn man den Mut hat, sich treiben zu lassen. Da ich eine Träumerin bin …

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 75 „Bin ich der einzige der so lebt?“ (Charles Bukowski)

Der Föhn, der mit seiner falschen Wärme in den letzten Tagen verlogene Frühlingsgefühle in Mark und Bein säuselte, hat sich in kalten Sturm verwandelt und ist zusammengebrochen. Sturzbäche fallen vom Himmel, die genauso grau daherkommen wie die  darauffolgenden Schneeflocken und wie überhaupt der ganze Tag.

Ich liebe diese grauen, naßkalten Tage im Januar und daß sie so schonungslos wahrhaftig die ehrliche Häßlichkeit ringsherum zeigen, bevor die Welt wieder mit dem sogenannten Schönen geschmückt wird, das aus großen Containern farbenprächtige Wegwerfblumen über dem Land auskippt und allerorten für Verhübschung sorgen soll.

Ich lasse mich treiben, tief in das Grau hinein und wären da nicht meine roten Strümpfe, so würde ich mit dem Hintergrund verschmelzen und verlorengehen.

Neben mir liegen „439 Gedichte“ ( Zweitauseneins) von Bukowski. Als ich das Buch betrete wie eine seltsam vertraute und doch fremde Welt und herumgehe in den Geschichten aus seinem Leben ist es früher Nachmittag, mit Müh und Not finde ich wieder heraus bei völliger Dunkelheit. Es ist Nacht geworden darüber. Ich kann jetzt verstehen, warum dieses Buch bei Menschen auf dem Nachtkästchen liegt, um jederzeit in schweren Nächten sich aufrichten zu lassen von dieser schonungslos ehrlichen Poesie der Straße, der Existenz nicht nur am Abgrund sondern mittendrin im Dreck … und dann dieser leise Humor, der genau dort, wo es absolut nichts mehr zum Lachen gibt, sich darüber erhebt und, so gut es halt geht, den Rücken aufrichtet und sich einen Jux macht aus dem ganzen Wahnsinn dieser Welt. Ja, lieber Mr. Bukowski, selbstverständlich müsste man Gott dringend fragen, warum er in München herumhockt und grünes Bier trinkt!

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 74 Aquarius

Steinbock übergibt Wassermann den Stab und einen kleinen Kristall mit einer eingeschlossenen Sehnsucht.

Sternkundige der alten Zeit berichten von einer Vision: Die Gottheiten verlangten nach dem Wasser des ewigen Lebens und fragten, wer den größten Mut habe, es ihnen zu bringen. Nur einer nahm den Krug und ging hinauf auf den Olymp und weiter, bis dahin, wo keine Materie mehr existiert … dort überreichte er den Gottheiten den Krug mit dem Wasser des ewigen Lebens, und so sind sie unsterblich geworden.

 

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

„Fremde Zärtlichkeit“

 

In meiner Schulter zuckt eine Idee.
Ein Liebespaar wandert die Hecken entlang
Arm in Arm, lächelnd und sehnsuchtsbang …
Auf die Berge Jütlands fällt blau der Schnee.

Ich trage so viel fremdes Leid
Und wein für andre viele Tränen.
Ich fühle unbekanntes Sehnen
Und gebe fremde Zärtlichkeit

Emmy Hennings
(In: Helle Nacht, 1922)

 

 

 

# 73 Wesentlich werden

Noch ist Steinbockzeit.
Das Land ruht in Winterstarre.
Eisig kalt weht der Wind herab von den Bergen.
Im Hochgebirge auf ausgesetztem Felsbrocken steht
regungslos und einsam der strenge Wächter.
Eine große Verantwortung trägt er.
Er kennt den geheimen Schatz
und
er weiß, wo er wächst,
der Bergkristall.

 

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 72 Abgesang

Jetzt haben sie es also abgerissen, das Moorbad. Vor 100 Jahren konnte man sich dort warme Wickel machen lassen und darin baden in diesem schwarzen Moorschlamm, den sie hinter dem Haus ausgegraben haben. Ich kenne dieses Gebäude schon mein ganzes Leben lang und es waren mir Haus und Ort lebenslang immer ein wenig unheimlich. Es stand, umringt von alten, finsteren Tannen, direkt an der Bundesstraße, und in den Jahrzehnten wuchs es immer mehr zu mit wilderndem Gebüsch. Niemand wusste so recht, was sich in diesem Haus abspielte, nie sah man irgendjemand auf dem Balkon oder um das Gebäude herum gehen oder sitzen. Es standen immer ein paar Autos auf düsterem Parkplatz, ja, düster war es dort. Irgendwann hieß es dann „Tannenhof“ und war angeblich eine Frühstückspension für Vertreter und allerlei Gestalten, die vorübergehend eine Bleibe brauchten. Manch einer vermutete rote Laternen im Fenster.

Man kann die Straße nach Osten nicht benutzen, ohne an diesem Ort vorbeizukommen. Und jedes Mal, wenn ich dran vorbeifuhr, unterstellte ich ihm ein Geheimnis, oder sogar mehrere und manchmal dachte ich an den „Tanz der Vampire“, an schön gekleidete Menschen, die im Walzertakt über das glänzende Parkett eines Saales gleiten, beleuchtet von tausend Kerzen in tausend Spiegeln, in denen sonst nichts zu sehen ist …

In den letzten zehn Jahren verfiel das Gebäude zusehends, hin und wieder war abends noch ein einziges Licht in einem einzigen Fenster zu sehen. Das endgültige Sterben begann, als der Parkplatz zu einer Art Gebrauchtwagendeponie umfunktioniert wurde. Abgestellte Autos bedeuten den unumgänglichen Tod eines Ortes.
Als der Besitzer vor zwei Jahren gestorben ist, hat die Gemeinde das Anwesen gekauft und dann wurde der Abriß geplant, um den Ort einer Neubebauung zuzuführen, zuvor muß aber der Moorboden untersucht werden.

Jetzt ist alles weg, nur ein großer Bagger steht noch am Rand. Sehr sehr leer ist es dort. Abgeschnittene Baumstümpfe stehen im Halbkreis um diesen so furchtbar leeren Platz. Ein paar vom großen Aufräumen vergessene Tannenäste ragen wie spitze Knochen an einem Gerippe aus dem Schneematsch, der an etlichen Stellen vom Blut der alten Hagebutten durchtränkt ist. Wäre ich doch eine Dichterin, dann würde ich diesem Ort ein Gedicht schenken. Einen poetischen Abgesang für einen sehr merkwürdigen Ort würde ich schreiben, an dem jetzt eine Stille herrscht, die so laut ist, daß sie den Lärm der Straße übertönt. Ich wollte den Platz betreten, an dem Haus und Bäume standen, aber es ging nicht, die Luft darüber ist so verdichtet wie unsichtbare Wände, an diesem verlorenen Ort mit dem verlorenen Haus und den verlorenen Menschen und ihren verlorenen Geschichten.

Ja, vielleicht sind es die Geschichten, die noch über dem leeren Platz hängen und die Zeit wiegt sich noch in den Tannenwipfeln und die Hoflaterne schwankt im Wind und die Schicksale stöhnen in den Menschen und eine Türe geht auf und man hört leises Lachen … bald, bald wird auch das vergangen sein.

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 71 Wenn du Märchenaugen hast

In ein paar Stunden beginnt ein neues Jahr. Von allen Seiten kreuz und quer flattern Grußbotschaften herum und man wird förmlich überschüttet mit Lawinen von Glücks- und Gesundheits-  und Wohlergehenswünschen.
Es gibt jetzt so viel Rück- und Vorschau und Vorhaben und nicht endenwollendes Geschimpfe auf das Bestehende, was auch immer es ist und wer auch immer schuld ist an persönlichen Miseren; und es gibt Unkenrufe in die nächste Zukunft, was uns jetzt Schlimmes passieren wird. Ich mag da nicht mitmachen. Es gibt für mich keine guten oder schlechten Jahre. Es ist immer das Gleiche: Irgendwo ist immer Krieg, irgendwo weinen Menschen und gleichzeitig wird woanders gelacht. Man wird älter, Krankheiten kommen, mit manchen wird man fertig, mit anderen muß man sich halt arrangieren. Immer ist alles möglich und man weiß doch nie, was im nächsten Augenblick passiert. Alles in allem ist das Leben halt so, nicht wahr?
Ich freue mich auf das Feuerwerk, das durchs ganze Tal und hinüber bis Salzburg die Nacht überstrahlt und ganz schnell wieder vorbeigeht, genau wie das Leben. Alle gehen nach draußen und schauen zum Himmel, auch die wankenden Gestalten, die gestrandet irgendwo an einem Tresen herumhängen.
Wer viel Geld verpulvern möchte, soll es doch als Feuerblütenzauber zum Himmel hinaufschicken, von wo es dann als bunte Sterne herabregnet. Es gibt wahrlich Schlimmeres, was mit Geld passieren kann.

Dieser Sternenzauber kostet viel Geld, macht Dreck, Krach und ist reine Illusion … ja ich weiß, ich liebe ihn trotzdem.

Habt alle eine gute Nacht heute, gönnt Euch ein wenig Magie, auch wenn’s fauler Zauber ist, egal. Tanzt heulend alleine den Walzer um Mitternacht oder schnappt Euch auf der Straße irgendwem und tanzt mit einem fremden Menschen und lacht, wenn Ihr Euch traut, lacht aus vollstem Herzen und solang, bis Euch die Tränen herunterlaufen, ich lach mit Euch. Und Ihr, die einsam Gestrandeten, Euch gehört meine Zärtlichkeit am meisten. Ich gehe auch oft verloren in den Nächten.

Seid mir alle gegrüßt, wir gehen in das Neue Jahr hinüber und leben einfach weiter, mit allem was dazugehört, Verdruß wird nicht ausbleiben, aber wir haben da ja ein ganz wunderbares Gegengewicht: DIE FREUDE! –  dafür müssen wir gar nichts tun, wir müssen sie nicht erarbeiten, wenn wir unser Herz aufmachen, bekommen wir sie geschenkt … jederzeit und überall und sie wird nicht weniger, wenn wir sie weiterreichen an Hungernde.

Laßt uns zärtlich sein.

Leg’s dem Leben nicht zur Last,
dünkt sein Wert dir Plunder!
Wenn du Märchenaugen hast,
ist die Welt voll Wunder.
Victor Blüthgen

In diesem Sinne:

EIN GUTES NEUES JAHR 2025

und hier schreibt die Kraulquappe