# 64 Der Riss und der Most.

In der aktuellen Ausgabe der „Lettre International“ (Nr. 146) steht ein Text, der mir seit Wochen im Kopf herumgeht. Karl Heinz Lüdeking schreibt über Caravaggios Bild vom ungläubigen Thomas. Da ich Caravaggio verehre, ist mir dieses Bild lang schon bekannt, aber da es in mir  ziemlich zwiespältige Gefühle auslöst, d.h. es gruselt mich bei seinem Anblick, hatte ich noch nie das Bedürfnis, es im Original zu sehen. Das hat sich geändert durch diese unglaublich intensive Abhandlung und wenn man nach Potsdam nicht so weit fahren müsste, dann wäre ich längst schon davor gestanden. K.H. Lüdeking schaut sich das Gemälde genau an, sehr genau, und schildert, was er darin sieht. Ich sehe förmlich mit seinen Augen und das, was mir sonst meist unangenehm ist an den meisten Betrachtungen und mich an das Sezieren eines Kunstwerks erinnert, hier werden mir  jeder Blick und jede Deutung, auch die wirklich unglaublichsten möglichen Zusammenhänge zur Offenbarung. Es geht in diesem Bild letztendlich um die leibhaftige Auferstehung, ein Lieblingsthema , wenn nicht DAS Thema von mir und wie ich finde, eigentlich das zentrale Thema des Christentums.

Noch nie ist mir aufgefallen, wieviele Ohren sich mir entgegenstrecken, wenn ich das Bild betrachte und den Riss hatte ich zwar gesehen, aber ihm keinerlei Bedeutung beigemessen. Und noch so viel mehr sehe ich plötzlich und staune. Eine grandiose Textarbeit! Drei Sätze Lüdekings habe ich mir unterstrichen:

“ … Daß Bilder darauf angewiesen sind, gesehen und gedeutet zu werden. Das geschieht, indem wir das Bild aus einer externen Position betrachten …

Seine Identität erwächst aus den Sinnzuschreibungen derer, die es anschauen.

Das Bild wird nur deshalb zu dem, was es ist, weil wir es ihm sagen.“ …

Der fast volle Mond hängt irgendwo ganz oben im Geäst der großen Kiefer fest und sein Licht tropft wie flüssiges Silber am Stamm entlang nach unten in die Nebelschwaden , die ein riesiges Erdmaul beim Ausatmen ausstößt, hinein. Oben drüber rasen weiße Wolken Richtung Salzburg und verschlucken die Flieger, die über dem Flughafen auf- und absteigen.

Gerade habe ich darüber gelesen, was mit den Kindern in Gaza derzeit passiert … was überall passiert während dieser so unglaublich unsinnigen, grundlosen und vermaledeiten Kriege, die niemals irgendwas Gutes bringen, sondern nur Leid und Tod und Verderben. Einer will, was der andere hat und wenn er es nicht bekommt, haut er ihm die Schaufel auf den Kopf. so fängts im Sandkasten an und so geht es weiter. Die Unsinnigkeit dieses Abschlachtens ist mir schier unerträglich.

Eine andere Art Kriegsführung, unblutig aber durchaus schmerzhaft, findet derzeit im sogenannten „Container“ statt, „Big Brother“ hat Leute eingeladen, denen man sagt, sie seien prominente Realitystars, was im TV im Lauf der Zeit ein neuer Berufszweig geworden ist, bei dem man viel Geld verdienen kann. Diese Promis werden, je nach derzeitiger Bedeutungslage mit viel Geld angelockt und lassen sich 14 Tage lang rund um die Uhr von Kameras beobachten, während sie unsinnige Spiele spielen und ständig mit Essensentzug bestraft werden. Und wir im Publikum dürfen unsere voyeuristischen Triebe ausleben und bei Brot und Spielen zusehen und wie sich die 14 BewohnerInnen gegenseitig demütigen und ausstechen und sich fertigmachen lassen. Der Preis ist schwer erkämpft, wer übrigbleibt, kassiert am Ende mind. 100000 Euro. Ein junger Mann weint bitterlich, ihm sind welche Felle auch immer, weggeschwommen. Auch andere weinen, mal mehr, mal weniger. Sie möchten alle befreundet sein, sind aber Feinde, das Geld ist die Gottheit, die absolute Unterwerfung fordert … auf die Knie mit Euch! Sie leben von Nudeln mit Ketchup und Kartoffeln mit Mayonaise und oft von gar nichts, manchmal bekommen sie Musik, dann dürfen sie tanzen. Meine Güte, zu was Menschen bereit sind, sich selbst und anderen anzutun, es läßt mich ratlos zurück.

Manchmal denke ich an den Advent, der bald wieder kommt und vollkommen bedeutungslos ist im großen vorweihnachtlichen Konsumrausch. Seit Ende August stehen Lebkuchen in den Geschäften herum, längst schon auch Stollen, Schokoladennikoläuse, alles, was das Herz begehrt ist schon da und kann konsumiert werden, alles ist käuflich . Auf welche Ankunft soll denn da noch gewartet werden. Beim Nachsinnen ist mir das Wort „Heldenreise“ eingefallen. Eine Art Parabel für das, was ist, war, sein wird. Eine Reise durch Leben, Tod, Leben und ein Rückwärtsgehen, um nach vorne zu kommen.

Aber es ist noch Zeit, es liegt noch soviel Herbst vor uns., die Zeit ist noch nicht reif für den Advent. Erste Proben vom jungen Apfelmost, bernsteinfarbenes, leicht perlendes Glück fließt ins Glas, alle Arbeit darum herum ist vergessen bei diesem ersten Schluck. Wie ein Blick ins Paradies. Ein Prost auf Euch alle da draußen und ein großes Dankeschön an unsere alten treuen Apfelbäume.

 

Prost, liebe Kraulquappe, hast auch schon was geschrieben, gell!

# 63 Diesmal mein Herz

“ … Diesmal mein Herz,
diesmal fährst du mit … „
(Element of Crime: Vier Std, vor Elbe 1)

Als wir aus dem Kino herauskommen, müssen wir aufpassen, daß uns die vielen Reichen und Schönen  die sich durch die Gassen der Altstadt von Geschäft zu Geschäft bewegen, nicht mit ihren schönen und noblen und sehr teuren Regenschirmen  ins Gesicht stechen. Der Salzburger „Schnürlregen“ fällt in wie mit Bleistift und Lineal exakt gezogenen feinsten Linien schräg aus dem grauen Himmel heraus und rieselt über die Stadt.

Es werden wohl 1 – 2 km sein bis zur Garage unter dem Mönchsberg, wir gehen sie lächelnd und aufgewärmt  vor Glück über den Film, den wir gesehen haben. Charly Hübner hat an fünf Abenden in Berlin die Band „Element of Crime“ bei ihren Auftritten begleitet, hin und wieder mit allen gesprochen, Lieder gefilmt und alte Aufnahmen darunter gemischt. Ein kleiner, feiner Film ist es geworden, der mich sehr berührt hat. Es wird die Geschichte einer Band erzählt, die es seit vierzig Jahren gibt, nichts weiter.

Film: „Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin.“
Regie: Charly Hübner

Unser derzeitiger Zustand droht immer mehr zum Weltenbrand auszuarten. Und hierzulande, wo noch extremer Wohlstand und gesicherte Lebensverhältnisse herschen im Vergleich zum Rest der Welt, wurde um den 3. Oktober herum wieder mal kräftig herumgeschimpft und geklagt, es ging um Euch und Uns und Wir und Ihr und wer alles sich abgehängt und schlecht behandelt und im Stich gelassen fühlt. Ob es jemals ein „Wir“ gegeben hat? Jeder ist sich doch, wenn´s drauf ankommt selbst die/der Nächste in dieser hochgezüchteten Zivilisation, in der nur Leistung, Profit und daß man alles kaufen kann zählen. Und wieder mal die Frage, wieviel Flüchtende wir aufnehmen können, ohne daß es unserem Wohlstand schadet. Meine Güte, die ärmsten Länder nehmen Millionen Geflüchtete auf, da fragt kein Mensch, wie sie das denn schaffen. Und wenn wir unsere Grenzen noch so sehr bewachen, irgendwann werden sie niedergerissen. Der Vorrat an Süßwasser geht immer mehr zur Neige, 40% der Weltbevölkerung haben jetzt schon zu wenig Wasser, alleine schon deshalb wird es eine Völkerwanderung geben. Die Menschen gehen dorthin, wo sie nicht verdursten und verhungern, das ist ihr gutes Recht und dann werden die Grenzen keine mehr sein und in den fußbodenbeheizten Doppelgaragen werden Menschen statt Autos wohnen.

Es tat so gut, eineinhalb Stunden im Kino zu sitzen und auf der Leinwand nur in freundliche Gesichter zu schauen und Menschen zu beobachten, während sie Musik machen miteinander. Dies hier soll nicht zu einer Rezension ausarten, ich bin da nicht neutral genug, ich liebe Sven Regeners melancholische Poesie und ich liebe es, wie er sie mit seinen Freunden vertont. Egal ob Gitarre, Baß, Schlagzeug, Akkordeon, Trompete, es sind alle hochkarätige Musiker und das Allerschönste ist diese Hingabe an die Musik, die sie alle haben. Und eigentlich ist es ein Film über die Musik und darüber, was mit Menschen geschieht, für die sie der Mittelpunkt der Welt ist.

Was diesen kleinen Film u.a. ganz groß macht ist die Selbstverständlichkeit, mit der auch die sogenannten „Vorgruppen“ ins Bild kommen ! Und ich freue mich sehr, außer einer meiner Lieblingsbands Von wegen Lisbeth auch noch Maike Rosa Vogel und zwei ganz besondere Frauen,  Steiner  & Madlaina gesehen zu haben. Und überhaupt freue ich mich über diese weiche und humorvolle Liebenswürdigkeit, mit der Charly Hübner Regie führt, ohne auch nur im Geringsten kitschig oder unglaubwürdig zu werden.

Immer und immer wieder fesselt mich der Ausdruck im Gesicht von musizierenden Menschen, wenn man sie einfach spielen läßt. Da gibt es eine Art von Hingabe, schlecht zu beschreiben, in etwa so, als würde der Mensch mit der Musik verschwimmen, sich in ihr auflösen.

Und da denke ich an meinen Vater, der von der Werkstatt in die Stube kam und als erstes die Ziehharmonika unter der Bank hervorgeholt hat, um ein Stück nachzuspielen, das er irgendwo gehört hat. Alles nur nach Gehör selbstverständlich. Auch gesungen haben wir früher nach Gehör, war man zu zweit oder zu dritt, dann hat man halt einfach mehrstimmig gesungen. Ich dachte ein halbes Leben lang, daß das bei allen so ist, daß man halt die Stimme singt, die grad benötigt wird.

Heute habe ich youtube durchwühlt, um den Gföller Marsch zu finden, den mein Vater immer gespielt hat, weitaus virtuoser, als er immer dachte, denn alles, was ich gefunden habe von Musikanten, die ihn auf der Steirischen spielten, hat sich bei weitem nicht so gut angehört. Mein Vater spielte exzellent die Bässe, und bei keinem sonst haben sie so schön geschnarrt. Und niemand hat halt diese Papahände, die vom Schmiedeeisen in der Werkstatt gefärbt waren, die Musik war so wichtig, daß er keine Zeit mehr hatte zum Händewaschen.

Und wenn Musikanten spielen, dann sind sie nicht mehr ganz da, sie sehen dich an, aber eigentlich schauen sie durch dich hindurch. Das ist dieser Blick, der so unendlich weit hinaus geht oder so weit hinein, wer kann das sagen.

Der Herbst verhält sich noch nicht ganz so, wie man es von ihm erwartet, der Wald ist noch nahezu grün, der Anemonenstrauch hat neue Seitentriebe entwickelt und blüht und blüht als wäre Frühsommer. Die Kakteen sind übersät mit Knospen, auch die meisten Rosen sind nicht gewillt, auf Sparprogramm zu schalten. Ein Baum hängt noch voller Birnen und die kleinen roten Äpfel wollen partout nicht fallen.

Das Meer kam jetzt erstmalig abends zur blauen Stunde zu Besuch. Es strömt in langen Nebelschwaden herein und füllt das Tal mit seinem samtigen, feuchten Hauch. Alles wird diffus, sogar der bedrohliche Lärm der schweren Panzer und anderer Fahrzeuge, die an Krieg und Elend erinnern und schon wieder auf der Bundesstraße Richtung Reichenhall rollen wirkt durch den Nebel gedämpft. Und dann steige ich hinein und bewege mich auf dem Meeresboden, ich gehe herum und werde zu einem Wesen ohne Raum und Zeit in einer fremden Welt, in einer fernen Galaxie. Niemand kann mich finden, ich werde unsichtbar.

Nur der rote Willie hat den Einstieg gefunden, schreitet aufrecht in Zeitlupe durch den Dunst, wie er das sonst im hohen Gras macht und reibt schnurrend seinen Kopf an meinem Bein. Wir bleiben ein Weilchen stehen und schauen hinaus auf die wabernde See.

„Unscharf mit Katze“ (Element of Crime)

 

Und die Kraulquappe schreibt  hier

 

# 62 Sieben Raben und der Mäander

Nach unserer Pause schreiben die Kraulquappe und ich wieder einmal in der Woche parallel am neuen Kreuzungspunkt um 23.12 Uhr am Dienstag.

Die Nacht ist erstaunlich hell, der Himmel ist übersät mit Sternen, viele von ihnen schicken ihr Licht aus ungeahnten Fernen und strahlen und blinken, obwohl sie doch längst erloschen sind. Bevor mich die Kühle der Nacht hineintreibt, sitze ich kurzärmlig auf der Hausbank und schaue hinauf, oder sollte ich lieber sagen, hinaus, denn wir leben auf einer Kugel, die mit irrer Geschwindigkeit durch das All rast. Nur durch dieses Wunder der Anziehungskraft  sind wir mit den Füssen magnetisch an die Erde geklebt und können uns auf ihr bewegen ohne weggeschleudert zu werden. Alles funktioniert reibungslos, so lange wir das perfekte System nicht stören, sobald sich irgendwelche Distanzen ändern, oder die Achse um wenige Grade sich verschiebt, kippt alles um, die Meere laufen aus und es ist vorbei mit der Menschheit auf diesem Planeten. Wir wissen, daß bestimmte Kipp-Punkte bereits erreicht sind und wir ändern nichts, sondern hoffen, daß es schon irgendwie gutgehen wird, bis jetzt gings ja auch, nicht wahr.  Und so lassen wir es halt, wie es ist.

Vorhin kam in den Nachrichten, daß der Iran Raketen auf Tel Aviv  geschossen hat. Alle reden davon, daß die Kriege beendet werden müssen, alle wollen nur Frieden und gleichzeitig werden um uns herum den Müttern die Söhne, die sie neun Monate im Bauch herumgeschleppt haben und unter großen Schmerzen geboren, weggeschossen von den Söhnen anderer Mütter, weil die jeweiligen Machthaber das so wollen, auch die sind Söhne von Müttern. Kein Ende abzusehen.

Heute auf unserer alltäglichen Radlrunde haben sich auf einem Sonnenblumenfeld die Köpfe alle nach Osten gedreht, der Sonne entgegen, was aber um 18 Uhr abends merkwürdig ausgesehen hat, im Westen hingen graue Regenwolken am sonnenlosen Himmel, es hat sich wohl nicht rentiert, sich dafür extra umzudrehen, im Westen nichts Neues, man wartet lieber auf den nächsten Morgen.

Manchmal, wenn ich am Nachmittag draußen sitze und Äpfel kleinschneide für den abendlichen Strudel, dann könnte man es fast schon idyllisch nennen, was mich umgibt, die Katze streicht mir zart um die Beine, zwischen den Hochspannungsmasten sitzen sieben Krähen in genau gleichem Abstand, hin und wieder plumpst eine reife Birne vom Baum ins Gras, ein Radfahrer kommt vorbei und grüßt freundlich, vor mir an den Wildrosenzweigen hängen schwer die leuchtend roten Hagebutten und dann steht auf einmal ein Regenbogen am Himmel und spannt sich übers Tal und dann  noch ein zweiter dazu. Nein, kein Handyfoto, nichts teilen, man kann diesen Augenblick nicht teilen, er teilt sich selbst mit, existiert aus sich heraus und ist einmalig, er kann nicht weitergereicht werden. Man kann ihn nur geschehen und ins Herz sickern lassen und zusehen, wie er wieder blasser wird und vergeht. So wie auch wir kurz aufleuchten und wieder vergehen.

Langsam, ganz langsam färbt der Herbst die Blätter.

Die Freundin sagt, laß uns bitte in diesem Leben noch viel laut singen und tanzen, ja sehr gerne. Jetzt ist es an der Zeit, die weiten schwarzen Röcke anzuziehen, darunter sind aber noch deutlich die roten Unterröcke zu sehen beim Tanzen. Wir bilden einen Kreis und halten uns an den Händen, die eine Hand empfängt, die andere gibt und unsere Füsse gehen im Takt der Trommel und unsere Schritte hinterlassen das uralte Muster eines Mäanders auf der Erde. Der Schritt ist einfach, ich zeige ihn Euch gerne. Kommt und laßt uns tanzen und singen das Lied für die geschundene Mutter Erde mit all ihren Lebewesen:  Gula Gula

 

Und die Kraulquappe hat sicher auch schon was geschrieben!

 

 

 

Blaufeuer

 

 

 

Die Eberesche streckt ihre Beerenarme hinauf zum Himmel. Dieses spezielle Rot gibt es nur einmal im Jahr und nur dann, wenn der Himmel genau dieses Blau hat wie jetzt im Altweibersommer.  Und zusammen entsteht dann ein schier überirdisches Leuchten, das nicht mehr erklärbar ist, weder fotografierbar, noch mit Pinsel und Farbe einzufangen wäre.  Man kann es nur schauen und empfinden und in sich hineintröpfeln lassen und glücklich sein, daß es existiert.

Genau diese Farbe des Himmels im Spätsommer hatten die Augen meines Vaters. Als wir damals mit dem Schiff über den Königssee gefahren sind, um dann beim Hinaufgehen zu der Stelle zu kommen, wo man am Fuß der steil aufragenden  Watzmann Ostwand steht und ehrfürchtig am nahezu glatten Fels hinaufschaut und sich fragt, wie da jemals ein Mensch hinaufkommen kann. Und mein Vater sucht die Biwakschachtel, die da irgendwo  befestigt ist, es ist Spätsommer, womöglich hängen ein paar Bergsteiger in der Wand, die dann dort übernachten müssen. Und ich sehe seine Augen, aus denen das gleiche, unglaubliche Himmelsblau leuchtet , in denen sich der steil abstürzende Felsen spiegelt und  eine Sehnsucht darin schwimmt, unerklärbar und unerfüllbar diese große Liebe zum Felsen, zum Stein.  Wäre er schwindelfrei gewesen, dann wäre ein großer Kletterer aus ihm geworden, er wollte am Stein hängen, ihn berühren mit seinem ganzen Dasein, aber da er halt nicht schwindelfrei war, mußte es genügen, auf nicht zu sehr ausgesetzten Wanderwegen hinaufzugehen um ihn anzuschauen mit dieser großen Sehnsucht

in so sehr blauen Augen.

Wie ein Bergsee waren sie, in dem sich dieser Spätsommerhimmel spiegelt. Ich werde immer ein wenig traurig, wenn ich hinaufschaue in dieses Blau und ich weine meinem Vater nach, der seine Sehnsucht mit hinüber in eine andere Welt genommen hat.

Auch wenn es noch so heiß ist wie zur Zeit, kommt eine kleine Melancholie daher, der Sommer hat sich wieder mal als eine kochendheiße Durchgangsstation gezeigt, eigentlich hat er ja auch nicht mehr zu bieten als alle anderen Übergänge, nichts ist fest, alles ist in ständiger Bewegung, nichts bleibt, nur vom Sommer wird immer extrem viel erwartet, der soll die geheimen Träume wahr werden lassen und die unerklärlichen Sehnsüchte stillen. Das schafft er leider nicht und auch wenn man fünfmal im Jahr in irgendwelche Urlaubsländer fliegt, zeigen sich davon Traum und Sehnsucht gänzlich unbeeindruckt, man bringt sie wieder mit nachhause.  Und eigentlich bin ich froh darüber, mich sehnen und träumen zu können, denn ohne sie werden Menschengesichter erschreckend leer.

Die kleine Fledermaus fliegt jetzt wieder am Abend ihre Kreise um mich herum und sie besucht mich auch, wenn ich mich woanders hinsetze.  Manchmal begegnet mir eine Eule, wenn ich etwas später durch den Wald radle, mit großen Schwingen fliegt sie am Rand der blauen Stunde entlang und verschwindet im Dunkel des Waldes.

In der Tenne steht zwischengelagert der neue Zwetschgenwein und blubbert vor sich hin, bald werden wir Apfelmost machen, der wird dann irgendwann im Keller stehen unter dem Gewölbe und ich freue mich sehr auf den ersten Schluck aus den Äpfeln, die ein wohlmeinender Kosmos so reichhaltig an den Bäumen wachsen läßt und sich im Fallen uns als Geschenk darbietet. Schätze sind das, die wir voller Dankbarkeit bearbeiten … bald wird auch aus dem alten Most ein ganz köstlicher Apfelessig entstehen.

Im Keller ist ein uralter Ort, ich weiß um ihn schon Zeit meines Lebens, seit ich Borghes lese, kann ich ihn benennen: es ist das Aleph, das dort existiert.

Mein Vater hat oft in bierseliger Laune weibliche Gäste in den Keller geschickt und ihnen erzählt, sie sollten aber aufpassen, denn dort unten würde der Basilisk hausen und dann war großes Gelächter, denn keine traute sich da hinunter. Natürlich war das alles ziemlicher Blödsinn, damit ließ es sich gut flirten, aber ich bin mir nicht sicher, ob er nicht doch auch ein wenig geahnt hat, daß dort unten ein besonderer Ort ist, den man nicht unterschätzen sollte.

Unsere Weine gedeihen prächtig dort im Reich der Spinnen und wer weiß, was noch.

Am Sonntag ist Tag des offenen Denkmals, eine ziemlich armselige Veranstaltung aber ich erfuhr  trotz eines Fastnichts an Information doch, daß in dem kleinen Dorf in  nicht mal drei km Entfernung eine spätgotische Kirche mit romanischem Ursprung steht, die es lohnt, aufzusuchen, schleunigst. Es ist schon interessant, wo ich schon überall auf romanischen Spuren herumgefahren bin, nicht nur deutschlandweit, sondern in Elsaß, Schweiz, Österreich, Italien, Frankreich – und obwohl ich sogar ein Jahr Grundschule dort absolviert habe, bevor die Schule neben der Kirche aufgelöst wurde, kenne ich die Kirche nicht. Das wird sich ändern. Auch erfuhren wir von einem neuentdeckten Kreuz – Oktogon mitten auf einer Wiese auf der Fraueninsel im Chiemsee. Auch dorthin werden wir fahren, möglichst an einem Novembertag mit Nieselregen, hoffend, daß sich dann endlich die Touristenmassen in Grenzen halten, bevor dann der große Ansturm zum Christkindlmarkt kommt, der ja jetzt Weihnachtsmarkt heißen soll. Wahrscheinlich wird er bald Wintermarkt heißen müssen, damit alle Christen, die das Christentum ablehnen trotzdem kommen und viele Liter Glühwein trinken und kunstgewerblich enorm wertvolles Zeug kaufen, das sie sich dann nicht mehr an den Christbaum, sondern an eine Art Winterbaum hängen, den sie zwar blöd finden, aber die Leere, in die ein Hl. Abend ohne Christbaum absackt, auch nicht aushalten.

Wie dem auch sei, jetzt ist es noch immer brütend heiß und wir bräuchten dringend eine Nacht mit diesem leichten, warmen Sommerregen, den es früher oft gab, da hab ich mich oft unter die Dachtraufe gestellt und mich sanft berieseln lassen.

Am geheimen Platz der wilden Frauen sitzt mümelnd ein kleiner Feldhase und schaut mich an und ich schaue zurück, erst als er unseren Kater, den roten Willie sieht, der maunzend hinter mir her trottet, hoppelt er hinein ins Gebüsch und verschwindet spurlos.

 

 

# 61 Glücklich mag Dein Los Dir fallen.

Mit diesem Satz beginnt ein Gedicht, das sie mir in ein altes, fremdes Poesiealbum geschrieben hat, das von irgendwoher zu uns kam und in dem noch ein paar Seiten unbeschrieben waren. Für ein heißersehntes neues war kein Geld da.  Von meiner Mutter sind nur ein paar Fotos und lose herumgeisternde Erinnerungsfragmente übriggeblieben, verblassend und unschärfer werdend in ihrer Bildhaftigkeit. Aber je mehr die Bilder verschwinden, umso deutlicher taucht zwischen den alten, schlecht verheilten Wunden im Kinderherzen eine Art Begreifen auf, und irritierend deutlich spüre ich, wie nahe ich ihr bin in meinem ganzen Sein. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussah, aber ich höre ihr Lachen, denn es lacht aus mir heraus. Und ich weiß, wie sich ihr Humor anfühlt, dieser Humor, der gerade dann am stärksten ist, wenn die Welt ringsumher in Scherben liegt. Meine Mutter hätte mit Zorbas, dem Griechen gesungen und getanzt und gesoffen und darüber aus vollstem Herzen gelacht über diesen wunderbaren Satz: hast du schon jemals etwas gesehen, was schöner zusammengekracht ist.

Sie beherrschte die hohe Kunst des Blödelns. Dieses Wort kannte hier niemand, sie hat es mitgebracht aus der K. und K. Vergangenheit ihrer Wiener Theaterfamilie. Bei uns wurde nie geblödelt, zu karg waren die Verhältnisse hier auf dem armen Bauerngütl inmitten von Not und Elend.  Da hat niemand verstanden, daß das Blödeln und diese Art Humor  genau da hingehören, wo die Not am größten und der einzige Ausweg das Lachen ist. Dadurch ist nichts gerettet, es wird nichts wirklich besser, die Not, woher sie auch kommen mag, verschwindet nicht, die Verhältnisse verbessern sich nicht, auch Schmerz und Krankheit verschwinden nicht … aber, man lacht dem Schicksal frech ins Gesicht und macht sich einen Jux draus. Ich liebe diesen Humor, man kann ihn nicht erklären, er ist da oder nicht. Sie hat ihn in mir hinterlassen.  An einem Tag wie heute, wo ich versuche, meine Sorgen zu sortieren, und nicht weiß, wie mein Leben weitergehen soll, da fang ich plötzlich an zu weinen vor Dankbarkeit, weil ich mich erinnere an sie und dann denk ich mir: Ist doch egal, dann soll halt das Haus über uns zusammenkrachen, bis dahin wird gelebt, getanzt, gesungen, gut gegessen, getrunken und vor allem gelacht!

Alle, die zum Hausieren kamen, wurden hereingebeten und bekamen das, was wir auch hatten, meist einen Kaffee oder einen Teller Suppe. Wenn jemand gefroren hat, hat sie förmlich das verschenkt, was grad irgendwo herumlag. Sie verschenkte sowieso alles, was nicht niet- und nagelfest war, an Gegenständen hing sie in keinster Weise.

Sie hat Arien aus Tosca gesungen, während sie im Stall die Kuh gemolken hat.  Operetten kannte sie auswendig, sie liebte „Das Land des Lächelns“ und „Das weiße Rössl am Wolfgangsee“ … hier vor allem das Lied: „Es ist einmal im Leben so, andern geht es ebenso…“

Sie liebte Besuch und hatte immer Zeit, stundenlang zu plaudern, Abende lang, Nächte lang und bei Bedarf auf dem Tisch Rock n Roll zu tanzen … die Ehefrauen von Vaters Freunden erlaubten ihren Männern nicht mehr, zu uns zu kommen.

Sie hatte rehbraune Augen.

Sie passte nirgendwo wirklich dazu, hatte auch da keine Heimat, wo sie herkam, auch beim Theater nicht. Sie fiel aus allen Rollen, was mein Vater hasste, er liebte sie trotzdem abgöttisch, sie hielt keine Regeln ein, befolgte keine Strukturen, erzählte waghalsig und ohne Netz und doppelten Boden ihr Leben und erfand Geschichten, sie hatte keinerlei moralische Grundsätze, sagte zu mir, daß Gott in den Margaritten wohnen würde und daß diese Geschichte mit der Hölle ein furchtbarer Blödsinn sei, ich solle sowas ja nicht glauben.

Sie schleppte riesige Sträuße an, Wiesenblumen, irgendwelche Sträucher, halbe Bäume, und stellte sie in großen Vasen und Eimern überall im Haus auf.

Nichts an ihr war so wie bei den anderen Müttern, sie war mir peinlich.

Zu meinem 13. Geburtstag bestellte sie mir beim Konditor eine große Torte, die beste in meinem ganzen Leben, mit 13 Kerzen. Sicher auf Pump. Mein Vater zahlte 15 Jahre lang nach ihrem Tod die diversen Sachen ab. Sie hat die Leute in ihren Charme eingewickelt und überall Kredit bekommen.

Ich würde sie so gern so Vieles fragen. Ich glaube, sie wäre eine Fahrende gewesen, wie der Wind überall zuhause, frei, zügellos, heimatlos, lustig und in ihrem Herzen voll tiefer Traurigkeit, was ja kein Gegensatz ist, das wissen aber nur die, bei denen das auch so ist. Aber das Leben oder was auch immer geschehen ist, hat sie von Anfang an ausgebremst.

Sie war sicher nicht so, wie man sich die gute Mutter im Märchen vorstellt, mit der ich vermutlich einen stabileren Stand im Leben bekommen hätte. Sie hatte nicht viel Moral, hat gelogen, daß sich die Balken bogen, war weder treu noch redlich, entsprach keiner Norm und mir kommt vor, als sei sie in einem Käfig gefangengehalten worden, bis sie ausbrach aus dem Leben.

In der Holzschatulle, in der die alten Fotos liegen, finde ich ein Bild mit ihr als kleines Mädchen. Die Mutter war gestorben, der Vater reiste als Schauspieler durch die Lande und meine Mutter wurde untergebracht bei einer Tante. Deren kleine Mädchen wunderschöne neue Puppenwägen mit Puppen bekamen und sie stolz dem Fotografen präsentieren. Im Hintergrund steht ein riesiger Christbaum, die Familie ist darum herum versammelt. Meine kleine Mama mit großen dunklen hungrigen Augen steht da, ganz alleine, schmächtig und eingeschüchtert und hält eine kleine Puppe an sich gepresst. Die Augen … ich weiß, was sie sagen, und was sie fragen, heute weiß ich es.

Auf dem anderen Foto, das ich finde, ist meine Mutter, sie hält mich in ihren Armen, ich bin ein ganz kleines Baby, und sie schaut mich an und spricht lächelnd zu mir und aus ihren Augen strahlt die Liebe, nichts als die Liebe.

Ich bin so anders und doch bin ich auch Du.

Ich weiß nichts von Dir und doch spüre ich Dich.

Du wohnst für immer in meinem Herzen.

Heute, um 21.30 Uhr, vor 72 Jahren hast Du mich geboren, meine Mama.

Ich danke Dir.

 

 

Ab heute werden die Kraulquappe und ich in unserem regelmäßigen Parallelschreiben eine Sommerpause einlegen, im Oktober gehts dann wieder weiter. Unsere Blogbühnen bleiben natürlich geöffnet, auch hier, zwischen Himmel und Erde werden die Notizen weiterlaufen, mit allem, was mir halt so einfällt!

# 60 Wenn es Nacht wird in El Paso

Am Abend auf der Hausbank sehe ich sie. Das alte Kind in mir möchte immer noch glauben, daß jeder der Glühwürmer eine kleine Laterne dabei hat, um den Weg auszuleuchten. Es gibt im Juli immer so eine gewisse Nacht, niemand weiß, wann genau das ist, aber in dieser einen Nacht beginnen sie zu leuchten und das kleine dunkle Wäldchen am Bach ganz in der Nähe beginnt zu strahlen wie es sonst nur der Sternenhimmel vermag.

Beim Reingehen schließe ich die Haustür fest zu, aber etwas, was noch viel kleiner ist als Glühwürmer ist längst schon hereingeschlüpft, hat Kratzen im Hals mitgebracht und entwickelt sich zu einer Sommergrippe mit dem üblichen Programm. Letzte Nacht war grauslig. Die Nase versucht, durch Niesattacken zu retten, was noch zu retten ist, das führt  zu permanentem Laufen mit gleichzeitiger Verstopfung, also ist das Luft holen denkbar schwierig, an Schlaf ist trotz bleierner Müdigkeit nicht zu denken. Woher kommen Frösteln und Schwitzen, ist die Nacht draußen so fiebrig heiß oder bin ich es. Ein Schrei kommt von irgendwoher, dann noch einer und nocheiner … Vor sehr langer Zeit ist mal auf unserem kleinen Hof, der immer schon ein Auffang – Lager für nicht mehr gebrauchte Tiere war, ein kleiner schwarzer, nicht ganz reinrassiger Spitz gelandet. Er gehörte zu der Hundesorte der schrillen Permanentkläffer, deswegen wollten ihn seine Leute wohl auch loshaben. Er hieß Molli, hing wahrscheinlich nachts an einer Kette, sonst wäre er vermutlich stiften gegangen und er kläffte und jaulte die ganze Nacht den Mond an. Mein Vater sagte, das kommt daher, weil der Molli das Ergebnis einer Kreuzung mit einem Kojoten ist ..

Aber  das ist alles schon so lange her. Irgendwo heulen die Koyoten, mein Kopf ist heiß und voller Geschichten … ich stehe am offenen Fenster und schaue auf ein weites Land hinaus, irgendwo da hinten sind die Berge …  davor noch muß der Rio Grande sein, der längst nicht mehr der gleiche ist, den wir fernwehsehnsüchtig in den alten Western angebetet haben, sondern heute ist er geschunden, ausgetrocknet und am Ende finden seine Arme  keinen Weg ins Meer , sondern versacken im Staub…

Auf der Straße vor dem Haus treibt ein heißer Wind eine Coladose klappernd durch den Staub und und er bringt einen Geruch mit, dieser Wind … und er weht über mein Gesicht und plötzlich erinnere ich mich: es riecht nach der Wüste und die riecht am Tag ganz anders als in der Nacht.

Alles riecht anders, wenn es Nacht wird in El Paso.

Und da schreibt die um ein Jahr gealterte Kraulquappe

# 59 Wendekreis

Die Minuten, Stunden, Tage rinnen mit dem Regen aus der Gewitterwolke vermischt mit Schweiß an mir hinab und werden vom trockenen Urgrund aufgesaugt. Wir nennen es „Zeit“, weil wir nicht wissen, wie wir dieses  kurze Aufleuchten zwischen Werden und Vergehen ansonsten benennen könnten. Und wir sagen, daß die Zeit so schnell vergeht. Wir können es nicht aufhalten, dieses Phänomen, daß alles auf einen Höhepunkt zuläuft, um dann, wenn der Scheitelpunkt erreicht ist, wieder abzusteigen. Im Französischen gibt es diesen wunderbaren Begriff: „La petite mort“ … der kleine Tod. Und wenn man aufmerksam ist, dann spürt man in der Erfüllung aller Höhepunkte nach der Freude eine kleine Traurigkeit, als wüssten wir plötzlich, daß vor jedem Anfang auch ein Ende steht.

Vor ein paar Wochen war Sonnwend, der Sommer beginnt. Am luftigsten und hellsten Höhepunkt der Zwillingszeit wechselt die Sonne in das Sternzeichen Krebs, dreht um und läuft rückwärts den Berg wieder hinunter, der dunklen Tiefe entgegen. Er trägt den Sonnenaufgang und den Untergang schon in seinem Zeichen mit sich und muß nun erst mal all das verdauen, was sich in der luftigen Zwillingszeit so angesammelt hat. Er geht bedächtig Schritt für Schritt, manchmal macht er einen Schritt zuviel, dann geht er einen zurück, um nochmal genauer hinzusehen. Krebse haben einen weichen, höchst empfindlichen Leib und Scheren, die kräftig zwicken und zupacken und Gegnern gefährlich werden können, wenn es zum Kampf kommt. Solchen Konfrontationen gehen sie aber in der Regel aus dem Weg, indem sie einfach verschwinden. Wenn es eine Meisterschaft im spurlosen Verschwinden gäbe, dann würden sie die Krebse gewinnen. Wenn es Dinge zu klären gibt, dann vergräbt man sich schnell und äußerst geschickt im warmen Sand oder kriecht in ein leeres Schneckenhaus oder einfach nur in sich selbst hinein und da drinnen bleibt man so lange bis … aber das weiß nur der Krebs allein. Wenn die Luft wieder rein ist, innen wie außen, ist er wieder da.

Ich hab mal einen Krebs in unserem kleinen Bächlein beobachtet und war schwer beeindruckt von seiner Schönheit und wie regungslos er da im Wasser stand. So regungslos, daß ich schon dachte, er sei tot. Und als ich ihn mit einem Grashalm berühren wollte, da war er plötzlich weg, spurlos verschwunden unter einem Stein, nehme ich an, und tarnfarbig nicht mehr vom Hintergrund zu unterscheiden.

Um Sonnwend herum sind die Kirschen reif und heuer hatten wir ziemlich viele. Und Würmer hatten sie auch keine, glaub ich, denn wenn in der ersten Hand voll Kirschen keine drin sind, dann ist es mir eh egal, ich schau nicht mehr nach, sondern esse sie einfach. Es ist eine Zeit der übergroßen Freude, wenn die unteren Äste voller Kirschen hängen, ich sie also pflücken kann und die Kerne ins Gras spucken, ich wüsste nicht, welches Glück auf Erden größer wäre als das Kirschenglück. Aber auch das geht natürlich vorbei, vor paar Tagen hab ich die letzten gegessen, überreif waren sie und wie immer bei den letzten, schmeckte die Süße ein wenig faulig. Aber das gehört genauso dazu, wie bei den ersten hellrosa Kirschen die Säure.

Ja, das Glück ist ein Vogerl, heißts im Lied, man kann es nicht halten … aber Gottseidank fliegts ja immer um uns herum, man braucht nur genau hinschauen, dann sieht man es schon.

Krebsgeborene haben eine besondere Verbindung zum Mond und werden beschützt von der alten Mondgöttin Selene, einer überirdisch schönen Frau, die mit ihrem Mondwagen nachts über den Himmel fährt und den Mond bewegt. Daran mußte ich gestern Abend denken, als ich auf der Straße heimwärts gefahren bin. Plötzlich sehe ich die schmale, hauchzarte orangene Mondsichel über dem Horizont hängen. Und das im Nordwesten! Der Mond kommt üblicherweise von irgendwo im Osten hinter den Bergen herauf und fährt über Salzburg nach Westen, da bleibt er dann manchmal in der Krone unserer Birke für ein Weilchen hängen und dann schwimmt er elegant weiter über uns hinweg nach Westen, spät in der Nacht.

Gestern wurde der Mondwagen anscheinend umgelenkt, man wird es weiter beobachten müssen …

 

Und da schreibt das baldige Geburtstagskrebserl und macht sich einen Reim auf die Dinge des Lebens.

 

 

# 58 … ein Raum aus Zeit.

Schon bei der ersten Einstellung gehe ich in den Film hinein, stehe im Wald vor dieser Stange, an der die Kamera ganz langsam emporkriecht, bis zum Schild oben, auf dem zu lesen ist, daß hier der Legende nach das Haus der Großmutter gestanden hat. Keine Hintergrundberieselung, weder Musik, noch irgendeine sprachliche Erklärung. Nur die Geräusche, die halt da sind im Wald, sonst nichts.

So hat er gearbeitet, der Dokumentarfilmer Thomas Heise, der vor kurzem viel zu früh gestorben ist. Welche merkwürdigen Zusammenhänge es doch gibt, dachte ich, als ich es erfuhr. Gerade war ich wieder dabei, einen Film zu suchen, in den ich vor Jahren zufällig beim Herumschalten auf ARTE geraten war und der mich einsaugte und mich am Schichtdienst von ein paar Angestellten teilnehmen ließ, die zwischen Weihnachten und Neujahr ihren Dienst taten. In ihrem Büro gab es Kaffee und Weihnachtskekse und ein Gesteck mit Tannenzweigen und elektrischen Kerzen. Viel geredet wurde nicht, gearbeitet wurde Tag und Nacht, man begrüßte und verabschiedete sich zur Schichtablösung. Das Büro war klein und wenn die Tür aufging, dann sah man in einen großen Raum mit lauter Särgen. Ein kleines Krematorium, das Tag und Nacht in Betrieb ist. Man schaut denen zu, die hier ihre Arbeit verrichten. Ganz normaler Arbeitsalltag.

Nein, keinerlei schockierende Effekte, mit sowas hätte der Filmemacher niemals gearbeitet, er wollte auch keineswegs irgendwen durch irgendwas irgendwie beeinflussen oder seine Meinung aufzwingen, so sagte er.

Ich möchte hier niemandem raten, diesen Film anzuschauen, ich war hinterher ziemlich verstört, weil  ich noch niemals zuvor so wahrhaftig gesehen habe, was von uns übrigbleibt, wenn wir uns aus dieser Welt verabschieden. Wir erfahren hier, mehr als uns lieb ist, wer wir sind und wie wir leben, und dieses plötzliche Erkennen muß man erstmal verkraften. Ist uns die Wahrheit zumutbar?

Ich hatte mir weder den Regisseur noch den Titel gemerkt und wollte aber den Film nochmal anschauen. Erst als Thomas Heise gestorben war, habe ich es erfahren. Der Film heißt: „Gegenwart“ und man findet ihn in voller Länge im Netz.

Jetzt mit all den Nachrufen entdecke ich diesen Thomas Heise erst so nach und nach. Er war (lt. Spiegel) „ein Chronist deutsch-deutscher Umbrüche“ und hat viel Filmmaterial über die ewigen Ost/West- Streitereien hinterlassen.

Und bei den Recherchen über ihn bin ich auf seinen letzten Film aufmerksam geworden. Er hat anhand von Briefen und Dokumenten die Lebensgeschichten seiner Eltern und Großeltern aufgezeichnet, erarbeitet … aufgespürt … hingedacht … oder wie auch immer man das nennen möchte. Deutsche Geschichte über vier Generationen. Dieser Film ist, welch Wunder, auch in voller Länge im Netz zu finden bei der „Bundeszentrale für politische Bildung – bpb.de“. Er dauert fast vier Stunden, aber die Zeit in einen hervorragenden Dokumentarfilm zu investieren, lohnt sich allemal, finde ich. Ich habe schon die Hälfte gesehen, möchte aber nichts drüber erzählen, man muß sich so einen Film einfach selber anschauen. Ich werde ihn mir heute Nacht schenken, denn das sind diese Filme von Thomas Heise: Geschenke. Schade, daß er nicht mehr da ist und umso kostbarer ist seine Hinterlassenschaft.

Ich wußte sofort, daß auch Ihr  letzter ein Film für mich sein würde, als ich den Titel sah : „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ …  ich würde ihn mir auch anschauen, wenn er zehn Stunden dauern täte … Vielen Dank dafür, lieber Thomas Heise, wo immer Sie nun sind, mögen Sie in Frieden ruhen.

 

die Kraulquappe schreibt selbstverständlich auch was…

# 57 Run for the roses…

Das erste der für heute angekündigten Unwetter kam mit einem Regenguß, der innerhalb von ein paar Minuten den Eimer unter dem Loch im Dach bis zum Rand angefüllt hat. So schnell wie er kam, war dieser Spuk auch wieder vorbei. Es hat kaum abgekühlt. Es liegt immer noch eine Spannung in der Luft, die knistert. Die Rosen haben die Köpfe gesenkt, der schwere Regen hatte sie niedergedrückt, aber sie strahlen bereits wieder, als sei nichts gewesen, nur ein paar Tropfen laufen hie und da über zarte Blütenblätter.

Als ich M. im Altersheim besuche, verlaufe ich mich schon wieder, und ich muß fragen nach dem Zimmer. Ums Eck rum und dann den Gang bis ganz hinten … aber es gibt viele Ecken und viele Gänge, die fangen alle an einem Mittelpunkt an, aber wo ist der? Und da sind mehrere Gänge, die man bis hinten gehen kann, anscheinend in alle Himmelsrichtungen, irgendwann finde ich das richtige Ende und ihr Zimmer. M. sitzt am Bettrand wie immer. Sie freut sich, mich zu sehen, aber eigentlich wartet sie auf die Tochter, sie wartet immer auf die Tochter. Die Tochter hat ein Leben da draußen mit viel Arbeit und Familie und allem, was dazugehört, auch Sorgen.

M. weiß nicht , wo genau in der Kreisstadt dieses Heim ist, die Station heißt „Bergblick“, aber die Berge sind nicht zu sehen, sondern nur Häuser mit Garagen und kleinen Grünflächen, da sei jetzt mal eine Katze gelaufen, sagt sie. Wo sind nur die Berge? Ich bin auch dermaßen desorientiert, daß ich nicht mal weiß, in welche Himmelsrichtung das Fenster hinausgeht. M. ist nicht gewaschen, die Haare kleben am Kopf und es riecht ein wenig sonderbar. Und als sie mir erzählt, daß sie ganz furchtbaren Durchfall von den Kirschen bekommen hatte, der sich ins Bett ergossen hat, da wird mir klar, nach was es riecht. Heute hört sie etwas besser und wir versuchen zu plaudern. Ich lache und rede gegen einen Würgreiz an, der sich kaum mehr abstellen läßt.

Später kommt jemand vom Personal zum Insulin spritzen, sie hat die 60 sehr weit überschritten, vermute ich. Ich frage sie, ob im Heim gekocht wird oder ob das Essen von woanders angeliefert wird, sie weiß das leider auch nicht.

M. mag keine Zeitung mehr lesen, auch keinen Fernseher,  das Essen schmeckt ihr nicht und trinken tut sie fast nichts, aus dem Zimmer mag sie auch nicht gern, sie sitzt einfach nur da und schaut vor sich hin.

Beim Abschied sag ich zwar: ich komm bald wieder, hoffe aber, daß die Tochter bald kommt, das ist ihre einzige, noch verbliebene Sehnsucht.

Ich gehe den Gang nach vorne, finde kein Stiegenhaus, suche den Aufzug, den ich nach ein paar falschen Ecken auch finde. Zwei alte Leute sitzen in einer Art offenen Teeküche, weit voneinader entfernt beim Essen, das sie auf klappernden Tellern mit klapperndem Besteck zerteilen und hin und wieder was zueinander sagen. Unten am Parkplatz weiß ich sofort, wo die Berge sind und frage mich, am Heimkomplex hinaufschauend, wo um Himmelswillen denn dieses Zimmer sein könnte, in dem ich grade war und dann weine ich aus Zorn und Traurigkeit über diese Demütigungen, die so selbstverständlich erscheinen, daß ich nicht weiß, wie man sich dagegen wehren könnte.

Beim Heimfahren frage ich mich, was eigentlich mit dieser Gesellschaft passiert ist, die ihre Alten in so einer Anstalt abgeben, anstatt sie daheim in der Familie dem Leben und Treiben der Jüngeren zusehen zu lassen. Früher haben die, die ein Herz hatten, einem Pferd „das Gnadenbrot“ gegeben als Dank für seine lebenslange Hilfe. Es durfte am Hof bleiben, auch wenn es zur Arbeit zu schwach war. Es hatte einen Platz im warmen Stall und bekam sein Büschel Heu und im Sommer durfte es auf der Weide herumstehen und sich ausruhen vom Leben und manchmal  beim Vorübergehen, strich ihm jemand freundlich übers Fell oder gab ihm ein Stückerl Zucker und es durfte sterben, wann immer seine Zeit gekommen war. Meine Großeltern durften auch in ihrer Kammer bleiben, ja, es war oft schwierig, die Alten waren störrisch und mochten meine Mutter nicht, es war kein Geld da und sie schliefen im besten Zimmer des Hauses.

Merkwürdig, wie schwierig dieses Thema geworden ist. Wir mögen uns nicht, wenn wir alt werden, nicht mehr gut riechen und verlangsamen, nicht nur im Denken, wir mögen das Alte nicht und lehnen das Kranke ab und wir hassen allein schon den Verdacht und die Vorstellung, es könne womöglich nach Urin und Kacke  riechen. Ich habe als Kind den Geruch meiner Oma geliebt, niemand hat so wie sie gerochen und sie war mir Zuflucht und hat mir ganz oft förmlich das Leben gerettet, weil sie da war, wenn ich Angst hatte und ich hab mich oft in ihrem Bett verkrochen und dann hat sie mit mir gesungen.

Ich weiß, vovon ich rede, wenn ich sage, daß uns nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Pflege unserer Alten zumutbar ist.

Mit 50 ahnen wir es, mit 60 fürchten wir uns davor und ab 70 wissen wir spätestens, daß unsere Würde antastbar ist immer und überall und ich frage mich, ob eine Gesellschaft, die ihre Alten in Heimzimmern abgibt (ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Schrank) nicht zum Untergang verdammt ist.

Vorhin habe ich traurigerweise erfahren, daß der Fredl Fesl gestorben ist, er war ein grandioser Gitarrist, ein Komiker, dessen Humor aus einem extrem weichen großen Herzen in irrer Sprachakrobatik heraussprudelte … ich finde keine richtigen Worte für diese Kunst von intelligenter Albernheit und Wortwitz, er war einfach einer der Guten und ich verdanke ihm viel viel Freude.

Und weil die Rosen so wunderbar blühen und mir heute ein Lied zugeflogen ist, das mir sehr gefällt, werde ich es Dir mit auf die Reise geben, lieber Fredl und vielleicht triffst Du ja denjenigen, der es gesungen hat! Hab Dank für alles und Ruhe in Frieden.

„… And it’s something unknown
That drives you
And carries you home
And its run for the roses …“
Dan Fogelberg

 

Die liebe Kraulquappe schreibt selbstverständlich hier auch was!