24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 3: Andreas Wolf

Mit Anfang zwanzig erwartete ich von der katholischen Kirche und ihren Repräsentanten absolut überhaupt nichts mehr, zu tief saß die Enttäuschung durch die scheinheiligen, verlogenen, sadistischen Mönche auf jener Klosterschule in der bayerischen Provinz, die später traurige Berühmtheit wegen ihrer über Jahrzehnte hinweg praktizierten Missbrauchs- und Gewaltexzesse erlangte. Und doch hatte mich der Katholizismus stark genug geprägt, dass ich nicht anders konnte als zu glauben, die Antworten auf meine ganzen Fragen nach dem Sinn des Lebens, und warum es überhaupt irgendetwas gibt, und nicht vielmehr nichts, also die eine Antwort auf die alles umklammernde Frage, was der ganze Zirkus eigentlich soll, die müsste doch auf jeden Fall in irgendeinem Buch drinnen stehen, wenn schon nicht in der Bibel, dann halt in einem andern. Ich konnte mir Erkenntnis und Erleuchtung nur als eine Schrift vorstellen. Diese erleuchtende, diese wahrhaft heilige Schrift galt es nun aufzufinden, also schrieb ich mich in München für das Studienfach Philosophie ein.

Jahrelang irrte ich da dann so ziemlich orientierungslos von Seminar zu Seminar, von Professor zu Professor, fühlte mich nirgends daheim, schrieb brav meine Einser, und blieb doch innerlich leer, kalt, ohne echte Begeisterung. Als cool galt damals in München Ludwig Wittgenstein und die ganze analytische Philosophie in seiner Nachfolge, also machte ich das auch, mühte mich damit ab, aber es blieb mir ein staubtrockenes Wortgeklaube. Durch einen Zufall eher geriet ich dann eines Tages in ein Seminar über die Monadenlehre von Leibniz, der Privatdozent B. war ein rundlicher, gemütlicher Bayer mit hörbarem Dialekt, international anerkannter Leibnizexperte, aber innerhalb des Münchner Universitätsbetriebs eher eine Randexistenz. Um ihn versammelten sich Semster für Semester immer die gleichen zehn Leute, denen schloss ich mich jetzt an, die Philosophie von Leibniz taugte mir irgendwie, da ging es um die Welt, und wie sie beschaffen ist, nicht nur um Wörter.

Und diese Welt, im leibnizschen System, besteht aus nichts anderem als nur aus Monaden. Logische Atome nennt er diese Monaden manchmal auch, oder einfache Substanzen, vor allem aber auch: Seelen. Unteilbar sind sie, und ohne Fenster, das heißt: Was die Monade sieht, das kommt nicht von außen zu ihr herein, sondern sie sieht es in ihrem Innern. In sich selbst trägt jede einzelne Monade die ganze, wahre und wirkliche Welt. Und in sich selbst trägt jede Monade auch den kompletten Plan ihrer eigenen Existenz, der sich in ihr Stück für Stück und Bild für Bild entfaltet. Von einem Bild zum nächsten fortzuschreiten, das ist der ihr eingeschriebene Wille der Monade, es passiert also, was passieren muss, weil die Monade genau das will, und nichts anderes. Und der Mensch ist sozusagen nur ein Spezialfall von Monade: Eine Monade, die sich ihrer selbst bewusst ist. Aber auch der Stein, die Pflanze oder ein Stern, Milliarden Lichtjahre entfernt – sie alle bestehen letztendlich nur aus Monaden, die sich und die ganze Welt, wie träumend, von Sekunde zu Sekunde selbst hervorbringen.

Damals an der Uni hat man über uns Leibnizianer gespottet, die anderen würden alle nur verstehen wollen, was der Platon, der Aristoteles, der Wittgenstein denn mit ihren Schriften gemeint hätten. Wir hingegen seien die einzigen, die der felsenfesten Überzeugung wären, das von unserem gescheiten Herrn Leibniz Geschriebene sei auch wirklich richtig. Da mag etwas dran sein. Wenn ich hier jedenfalls versuche, die Monadologie in ein paar allgemein verständliche Sätze hineinzukriegen, dann erscheint mir diese Theorie doch wirklich von vollendeter Schönheit. Das ganze Universum ist beseelt, alles ist lebendig, und alles geschieht nach einem perfekten Plan.

Bereits von seinen Zeitgenossen wurde Leibniz vorgeworfen, sein System sei ja schön und gut, aber wo bleibe darin die Freiheit? Wenn die Monade nur den Plan abspult, der ihr bereits von vorneherein eingeschrieben ist – wäre sie dann nicht ein bloßer Automat? Da könnte man jetzt ganze Doktorarbeiten darüber schreiben, worauf ich wenig Lust verspüre, deswegen sage ich bloß, und komme damit endlich zu dem hier vorgegebenen Thema: Wo es keine Freiheit gibt, da gibt es auch kein Scheitern. Und deshalb empfinde ich eine Philosophie, die die Freiheit abschafft, paradoxerweise als befreiend, weil sie mich auch vom Scheitern befreit.

Wenn also die Leute sagen: „Es ist so, wie es ist“, oder „Es kommt so, wie es kommt“, oder „Es hat halt einmal so sein sollen“, dann finde ich das überhaupt nicht trivial, sondern als alter Leibnizianer stimme ich dem aus tiefster Überzeugung zu.

Text: Andreas Wolf

24 T – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 2: Katja Schraml

wenn das schreiben scheitert beim übers scheitern schreiben

ihre brüder mussten auf holzscheiten knieen zur strafe, sagt die mutter, die nur wenig über die kindheit erzählt, wo sie das letzte von 8 geschwistern, die ihr nie vorgehalten hätten, dass sie mitten im krieg ’42 auch noch kam. der bruder hätte im fliegeralarm die milch holen müssen für sie daheim, während ihre mutter sich mit den kindern im wald versteckte. jeden morgen kämmte ihr vater den mädchen das haar + flocht ihnen zöpfe. er nahm sie mit aufm moped in die stadt + grüßte linksrechts alle bekannten. beide eltern starben kurz hintereinander an krebs: brust die mutter/magen der vater, und 1 leben lang sorgte meine mutter sich, es würde ihr ebenso ergehen.

manchmal stelle ich sie mir vor, wie sie als teenager zur höheren schule fährt, ganz allein, mitten unterm jahr, wo man ihr rät, zum nächsten schuljahrsbeginn wiederzukommen, was sie nie tut, weil daheim aufm bauernhof wird sie gebraucht, zu viele sind schon gegangen. ich stell sie mir vor, mit anfang 20, als sie daheim die mutter pflegt + den arm ihr massiert+drainiert, weil man mit der op auch die lymphen entfernt + das wasser nun nicht mehr abläuft. ich stelle mir vor, wie sie ein paar jahre darauf meinen vater heiratet + in die wirtschaft kommt, wo der wirt = ihr ehemann abends mit den gästen spielt+zecht. wie sie, unsere mutter, geborene nutz, früh aufsteht + in den stall schreitet, um die kühe zu misten+melken, während die schramls allesamt: mein vater, die schwägerin, die schwiegermutter in den betten kullern. wie ich erst merkte, was sie da schafft, als sie im mist ausrutscht + sich den knöchel erneut bricht, über den ihr der lieblingsbruder einst mitm traktor gefahren, und wir kinder einspringen müssen, weil der vater krankkrankkrank.

wenn wir zusammen die baumstämme zersägten + die buchenscheite zu scheitERhaufen schLichteten, die später gut brannten wie mein 1. zimmer, als ich ausgezogen war nach berlin + einschlief überm kerzenschein, fühlte ich mich ihr zugehörig, obwohl ich zur falschen seite ausschlug. als ich mit hiv nach hause zurückkam, nahm sie mich nach der aussprach in die arme, bevor wir ans waschbecken traten + das geschirr spülten, den hof vom kastanienlaub leerfegten, 1 schubkarre trockenholz holten, um den kamin zu befeuern, wo noch heute im winter die würste räuchern, denen wir mit unseren händen kleine fäden wie schlingen um hälse zu kleinen köpfen binden, an denen sie dann im rauSch von den schwarzen verkohlten stöcken hängen.

wenn wir die knödel im dauerlauf drehten, formte sie mit ihren flinken händen 1 mulde so rund, dass die knödel in raschem tempo ihr nur so von der hand kullerten wie perfekte christbaumkugeln, die wir kinder im winter, so oft wir uns stritten, mit mehroderweniger großen verlusten an die zu dünnen+krummen bäumchen in der wirtsstube hingen, aus der die gäste auch an heilig abend kaum rauszubringen waren. so langsam ich bin, so aschiftig ploppt mir der schwere teig von den verklebten händen, dass es mir scheint, ich höre den verstorbenen vater im hintergrund schreien, wie immer, wenn ich den widerstand wie etwa gegens bedienen der betrunkenen spürte, der mich trotzig träge machte: herrschaft wou bleibstn? ich bin gescheit, aber ich kanns nicht gescheit. und manchmal ist es = das leben. wenn ich das teelicht anzünde vom apfelbräter, den sie mir letztes jahr zu weihnachten präsentet, obwohl ich seit dem brand keine kerzen mehr im haus außer denen, die sie mir schenkt, knisterts plötzlich wie früher daheim, wenn ich morgens vor der schule in der kalten küche den ofen angefeuert, es wird licht+warm + kurze zeit später brutzelt der apfel seiner erweichung entgegen + duftet in vorfreude voraus.

als ich der mutter in 1 nebensatz von der essstörung erzählte, die mich begleitet, seit ich als kind nachts aufstand, um, anstatt zu ihr ins warme bett zu kriechen, aus dem sie mich, den knurrenden vater beschwichtigend, indem sie mein nasses laken wechselte, endgültig verbannt, 1 familienpackung stracciatellaeis aus der immer zugänglichen, wenn auch in 1. linie den gästen vorbehaltenen, für uns gefühlt meist verbotenen eistruhe zu holen, schickte sie mir mitm nächsten carepaket zwieback+kamillentee für den empfindlichen magen, den ich von ihr geerbt. wenn ich als vegetarierin nicht wusste, was ich auf urlaub in der fleischfabrikation, die die schwester fortführt, aber meinesgleichen zuliebe mit rotebeetebratlingen bestückt, essen sollte, schlägt sie mahlzeiten aus ihrer kindheit vor: 1 apfel aufs brot/warme milch mit brot/arme ritter. mitunter mitten im winter schwärmt sie wie ausm nichts von der goldbraunen haut überm milchtopf im holzofen, die alle 8 geschwister immer gerne gehabt hätten, aber nur 1 bekam.

wenn wir mittlerweile alle einzwei wochen miteinander telefonieren, ists nie ganz klar, ob sies mir zuliebe tut, weil ich hier allein mit meinem relikt von dialekt, oder andersherum, weil sie seit der hirnblutung nicht mehr viel unter leute + wenig spricht, weil sie schwer versteht + schwer verständlich, kurz: wer mehr depressiv ohnes auszusprechen 1 ansprach notwendig hat. wir lachen zusammen so viel wies geht. vom teuren nussspezialitätenadventskalender, den sie mir dieses jahr zum 46. geburtstag geschickt, weil 1 mutter immer 1 mutter insbesondere von 1 kind, das selbst keine kinder, habe ich in 1 suchtrausch alle türen geöffnet + die besten verschlungen, ohne dass ich was davon gehabt. jetzt steht er da aufgerissen aufm fensterbrett + klagt mich an, warum ichs nicht wertschätzen kann, warum ich so wegwerferisch bin.

dabei schätze ichs wert, so sehr sogar, dass ichs elendig spüre, dass es mir brennt vor scham in der seele, dass ichs nicht aushalte, wie guts mir tut, wie sehr ichs brauche, dass ichs gleich darauf wieder abschneide/abschalte/wegwerfe. und manchmal ist es = das leben. es hört nicht auf. ich = die (sehn)süchtige muss immer noch + immer wieder lernen, dass es nicht schlimm ist, wenn man nicht kriegt, was man will. dass es gut tut, für das dankbar zu sein, was man hat. und dass man nicht scheitert, wenn man versagt/verzagt.

es hat ein paar tage der trauer gedauert, ein wenig grübeln+knirschen, 1 namenstag, 1 telefonat + 1 wintereinbruch hats gebraucht, lange fußmärsche auf glatten, gefrorenen straßen, ständig stickige verspätete bahnen + zum bersten überfüllte ersatzlinienbusse, zehnelf geschäfte, erwartung – enttäuschung – – erleichterung … nun steht 1 neuer adventskalender aufm fensterbrett, nicht derselbe, aber der gleiche, + glitzert mich aus der frischhaltenden folienverpackung verheißungsvoll an. morgen ist 1 neuer tag. 1. dezember. welt-aids-tag. morgen heute fangen wir wieder neu an.

jeden tag fängt man neu an.

jeder tag ist 1 chance.

 

Text: Katja Schraml

24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 1 : Margarete Helminger

Heute beginnen die „24 T. – Mutmaßungen“… und ich sitze da, es ist schon halb drei Uhr und ich habe noch immer keine Einleitung für das selbst ausgedachte Projekt über das Scheitern. Es ist ein ähnlicher Zustand wie bei unseren Hoffesten früher. Ich habe mir meistens große Kostümbälle ausgedacht, viele Menschen eingeladen, monatelanges Vorbereiten, viel Arbeit war erforderlich, um die Scheune als Ort für geselliges Beisammensein herzurichten, Tanzboden, Essenkochen, und alles, was halt dazugehört, um allen eine wundervolle Mittsommernacht zu bereiten. Bis zum Schluß war ich beschäftigt, die Bühne zu bereiten für die Gästeschar, Tische und Raum schmücken, Essen und Trinken anzuschleppen … und plötzlich kamen alle, prächtig kostümiert und in Festlaune und ich hatte ganz vergessen, mich selbst zu verkleiden, ich stand da, verschwitzt und im Arbeitsgewand und hatte nur noch Zeit, irgendeinen Hut aufzusetzen.

Grade bis vorhin habe ich die neu eingesendeten Texte zwischengeparkt und die Wünsche nach den Unterschriften und diversen Links vorstellungsgemäß zu erfüllen versucht, dann kam ein Seufzer aus Wien: „Ach liebe Graugans, wenn Du wüsstest, wie ich um Worte ringe!“ Liebe Silvia, da kann ich Dir die Hand reichen, ich ringe auch.

Zur Freiheit des Scheiterns fällt mir auch erstmal nur ein, daß die Freiheit und das Scheitern gar nichts miteinander zu tun haben, wer nimmt sich schon die Freiheit zu scheitern in einer „Welt der Sieger“ (Dorothee Sölle). Das Scheitern passiert ganz von alleine, wie der Unfug beim Michel von Lönneberga, nur meist weitaus weniger romantisch. In einer Welt der Sieger , in „A Man’s, Man’s World“ ist der Erfolg so wichtig, daß alles, was nicht dazu führt, unweigerlich als Versagen und Scheitern gewertet wird und dementsprechend verpönt ist.

Ich finde, es gibt nichts Langweiligeres als erfolgreiche Männer und ihre Aufstiegsgeschichten. Mich hat es lebenslang immer zu Menschen hingezogen, die fernab der vorgegebenen Normen ihr Dasein gefristet haben und keine Erfolgsbilanz vorweisen konnten, sondern Brüche und Einschläge und Niederlagen … ich will keinesweg damit sagen, daß dies die besseren Menschen sind, aber allermeistens die interessanteren.

Grade habe ich erfahren, daß meine eingereichte Zeichnung/Textarbeit bei der Zeitung „Prolog“ abgelehnt wurde. Ja, schmerzt schon, aber nur ein wenig.

Dieses 24 T. – Projekt  mit diesem Thema mache ich hauptsächlich, weil es mich interessiert, was andere da draußen darüber denken und ich bin sehr gespannt auf die Texte. Im Moment schauts so aus, daß die Hälfte der Angefragten glücklicherweise schon was geschickt hat, ob alle in der zweiten Hälfte das genauso machen, ist noch nicht restlos geklärt, es bleibt also spannend! Aber genauso will ich es ja haben und das Wunderbarste an so einer Gemeinschaftsarbeit sind ja die Kontakte zu den Schreibenden und: daß es mir als leidenschaftliche Spurensucherin gelungen ist, die Fährte zu mehr oder weniger verschollenen Bloggern aufzunehmen. Wir werden in den nächsten Wochen sehen, was noch so alles auf dieser Bühne zwischen Himmel und Erde passiert, ich freu mich riesig und bedanke mich schon mal vorab bei allen Mitwirkenden!

Noch ein Hinweis für alle, die ähnlich filmbesessen sind wie ich:

Es gibt da einen Film „Kleine Fluchten“, Schweiz 1979, Regie: Yves Yersin – der erzählt eine ganz kleine Geschichte von dem Knecht Pipe (Michel Robin), der in den Ruhestand gehen will und sich Träume erfüllt, die scheitern, wie alles in diesem Leben. Aber seltsamerweise ist er ganz und gar nicht unglücklich darüber, ganz im Gegensatz zu allen anderen um ihn herum, da bricht alles auseinander, was man zwingen wollte, zusammenzubleiben. Ein Film, der mir schon das Leben gerettet hat, der weit über das hinausgeht, was ein Film leisten kann. Eine Herzensangelegenheit. „Clini Sprüng“ heißt er im Original.

#31 Kein schöner Besuch

Bevor ich mich heute zum Schreiben hinsetzen wollte, bin ich noch schnell in die Tierklinik gefahren, um für den Kater Herbert das Schilddrüsenmedikament zu kaufen. Nach dem Zahlen scherzte ich noch ein wenig mit den Arzthelferinnen und lachend hielt ich einer hereinkommenden Frau die Türe auf, sie schleppte einen Transportkorb. Und was man halt dann immer so redet … „ist immer schwierig, wenn man hierher muß, gell „… und sie sagt: Ist kein schöner Besuch heute, wirklich nicht. Nein, wirklich nicht.“ Und ich sehe ihre stumpfen Augen und mir fällt nichts anderes ein, als zu sagen: „Viel Glück, trotzdem“ und während ich zum Auto gehe, denke ich, daß ich besser meinen Mund gehalten hätte. In den Augen der Frau war der Tod. Da stand geschrieben, daß sie ihre Katze zum Einschläfern bringt und mit einer leeren Transportbox wieder heimfahren wird.

Und dann fahre ich los und plötzlich weine ich und kann nicht mehr aufhören und dann biege ich nicht ab, sondern fahre irgendwo in der Gegend herum, alle Texte weg, die Geschichte, die ich heute schreiben wollte, weg, verschwunden, ich kann jetzt nicht auf Knopfdruck schreiben, und so fahre ich weiter, vor mir die schneebedeckten Berge in den goldenen Schein der untergehenen Sonne getaucht.

Im Angesicht des Todes weicht alles zurück, in einem gelben Zimmer lehnen die Wörter schwarzgekleidet mit dem Rücken zur Wand und alles wird absolut bedeutungslos, was noch soeben unglaublich wichtig erschienen ist.

Viele Tiere mußte ich schon zum Töten bringen, bei ein paar war es nötig, um das Leid abzukürzen, bei anderen war es falsch, ich hätte ihnen besser diese Aufregung des „Erlösens“ erspart, denn sie hätten das selbst viel besser gekonnt.

Im Angesicht des unermeßlichen Leids auf der Welt, was Menschen sich gegenseitig antun, was wäre da der Tod einer kleinen Katze dagegen? Alles..

Wir mögen ihn nicht, den Tod und vor allem wollen wir nicht zuschauen, wenn jemand stirbt. Der Tod macht aus dem Anfang ein Ende und aus dem Ende einen Anfang.

Daheim angekommen sitzt der Herbert auf dem Fußabstreifer und schaut in die Nacht hinaus, er schaut mich an, und nach gründlichem Nachdenken steht er auf, streckt sich und geht langsam an mir vorbei ins Haus

Dieses Mantra hat angeblich der Dalai Lama für seinen sterbenden Freund gesungen, um ihm den Übertritt in die andere Welt leichter zu machen. Ob das stimmt, ist egal. Damals als die alte Katze Mimi sich auf die Große Reise begeben wollte, legte ich sie in einen Korb, an einem geschützten Ort und ließ sie in Ruhe. Das Mantra ist leise im Hintergrund gelaufen und die  Mimi hat sich ganz ruhig und heimlich davongemacht…

Und dann lese ich im Blog der Tikerscherk, daß ihr Vater stirbt.

Für sie und alle, die gerade unglücklich sind und um ihr Leben oder das von geliebten Mitwesen bangen, zünde ich jetzt eine Kerze an und stelle sie in die Laterne vor dem Haus, möge ihr Licht uns allen ein wenig Wärme ins Herz leuchten.

Und die liebe Kraulquappe hat auch was geschrieben!

#30 „… daß es klingt von dir und dich verrät.“(Rilke)

Am besten schreibt man über das, was man kennt. Ich weiß nicht mehr, von welchem großen Schriftsteller diese Worte stammen, im Zweifelsfall von Mark Twain. Die nachmittägliche Doppelimpfung, rechts Grippe, links Corona, macht sich schon bemerkbar, beide Arme tun weh, ich fürchte, sie werden anschwellen, heiß und rot werden weitläufig um die Einstichstellen herum. Die Frage, wie sinnvoll die ganze Impferei ist, hat sich dadurch erübrigt, daß ich sie jetzt hinter mich gebracht habe. Die Praxis der Hausärztin ist voll mit Corona oder schlimmen Erkältungen, ringsherum wird gehustet, geniest und lautstark diverse Tröpfchen in die Luft gejagt, selbstverständlich frei heraus, ohne Armbeuge oder zumindest Hand vor den Nasenrachenbereich. Das brauchts jetzt nicht mehr, denn schließlich ist nichts verboten, die Pandemie ist vorbei. Ich habe beschlossen, wieder einen Mundschutz zu tragen, dort, wo viele Menschen auf einem Haufen sind und ich mich nicht sicher fühle. Ja, man wird angestarrt, als wäre man ein Alien und käme vom Mars, das muß man aushalten.

Der Rosenstock vor dem Haus trägt unzählige Knospen, die sich ständig zu Blüten öffnen, um ihre orangerote Farbe in den dunkelgrauen Novembertag schütten zu können. Das ganze Jahr über ist es diesem Strauch nie so gut gegangen wie jetzt, so scheint es.

Der Föhn ist zusammengebrochen, es ist kälter geworden, der Regen hat aufgehört und heute sind ein paar Schneeflocken herumgewirbelt. Gottlob sind die zwei letzten großen Kakteen und die Agave auch ins Haus in ihr Winterquartier geschleppt. Die Igel sind auch wieder verschwunden in die ausgepolsterten Wohnungen unter den Gestrüpphaufen. Leider weiß niemand, wo genau sie ihre Wohnungen bauen, deshalb gestaltet sich das Abtragen der längst zum Verbrennen fälligen dürren Äste ziemlich schwierig. Das Laub bleibt da liegen, wo es hingefallen ist und dient als verrotteter Dünger, auch der Rest der Äpfel liegt im Gras und wird von irgendwelchen Wesen bei Nacht und Nebel verspeist werden. Schade, daß es heuer keine Zwetschgen gab, denn sonst würden noch etliche Exemplare an den Bäumen hängen, verschrumpelt und mit orangefarbigem Fruchtfleisch, so süß, wie nur Zwetschgen sein können, die schon einen kleinen Frost erwischt haben. Diese Süße ist mit nichts auf der Welt vergleichbar und wie ein Wunder. Da fällt mir der französische Titel des Films ein, den ich gestern schon wieder gesehen habe, mitten in der Nacht: „le goût de merveilles“. Ich kann ihm nicht widerstehen, hab ihn sicher schon zwanzigmal gesehen unter dem deutschen Titel „Birnenkuchen mit Lavendel“.

Ich liebe diesen kleinen, romantischen Film über das Glück, das plötzlich vom Himmel vors Auto fällt und mit dem man nicht mehr gerechnet hat und das so süß schmeckt wie die Zwetschgen im November. Eine Geschichte, die das Herz weit macht. Hervé Pierre, der den alten Buchhändler spielt, erinnert mich an das Glück einer Begegnung vor langer Zeit  mit einem alten Herrn, der in München am Kurfürstenplatz ein Antiquariat hatte, einen Laden, halb im Keller, beheizt von einem Kohlenofen, auf dem ein Topf mit Punsch stand, aus dem er mir immer ein Glas anbot. Ein stiller Ort, wie aus einer anderen Zeit, im Hintergrund leise Musik, es roch nach Kohlen, Wein und Bücherstaub und ein wenig nach vergänglichem Glück, ich saß in einem abgewetzten Fauteuil und ging mit alten Gedichtbänden wieder heim, liebevoll verabschiedet.

Der Film spielt in Südfrankreich, sobald er anläuft, bin ich wie gebannt und ich sauge alles auf wie beim ersten Mal hinschauen und entdecke immer wieder Neues, ich kann nicht genau sagen, was es eigentlich ist, warum ich mir diesen Film noch hundert Mal anschaue und jedes Mal wieder verliebe ich mich in diese perfekt geschwungene Nackenlinie von Virginie Efira und in dieses Lächeln, das aus ihrem Gesicht leuchtet und die Anmut ihrer Bewegungen, sie tänzelt wie eine Fee und hat gleichzeitig den festen Schritt einer Bäuerin.

Ach, es stimmt einfach alles. In „Herzschlagkino“, dem wunderbaren Buch einer großen Liebe, Begeisterung, Besessenheit, die ich teile, schreibt Andreas Pflüger: „Manche Filme verdrehen dir von der Aufblende an den Kopf. Du verknallst dich, mit Herzklopfen bis zum Hals. Die allerbesten geben dir dieses Gefühl jedes Mal, wenn du sie siehst…“

Warum ich so wahnsinnig fixiert bin auf die Nackenlinie und das Lächeln und den aufrechten Gang der Hauptdarstellerin, war mir nicht bewußt, bis ich im gleichen Buch über die Filme fürs Leben die Zeilen des Rilkegedichts las. Was es doch für Zufälle gibt. Ich werde an sie erinnert, oder erinnert sie sich an mich, sucht sie auch meine Nähe, sucht sie mein Herz … ? Aus diesem Gesicht blickt sie mich an, meine schöne Freundin mit den Jadeaugen. Sie hat sich schon vor vielen Jahren auf die Große Reise in die Ewigkeit gemacht. Wir konnten die Freundschaft nicht halten, sind traurig gescheitert und haben uns vollkommen verloren. Aber die Liebe ist geblieben. Sonderbarerweise über all die Jahre und alle Distanzen hinweg. Das habe ich ihr damals geschrieben und sie sagte: Darauf habe ich noch gewartet. Dann ist sie gestorben. Sie fehlt mir so sehr und manchmal werde ich an sie erinnert, wenn ich gar nicht damit rechne. Die Liebe ist eine äußerst seltsame Kraft, sie führt ein Eigenleben und der Tod scheint ihr wohl nichts anhaben zu können. Verstehen tu ich das nicht wirklich, aber ich spüre, daß es existiert.

„Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
so anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst
zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst
an etwas stoßen, daß es klingt von dir
und dich verrät.“

Rainer Maria Rilke 

Da schreibt die Frau Kraulquappe, auch sie hat zwei wehe Arme, wie das Leben so spielt…

#29 Der Findling

Auf dem Weg zur Malfreundin ins Städtchen am Grenzfluß nach Österreich fahre ich durch eine schier unwirkliche Gegend, über ein Land wie unter einer Glasglocke. Vereinzelt liegen große Wasserlachen auf den Wiesen, in denen sich der Himmel spiegelt; Überbleibsel der Flut des tagelangen Dauerregens. Der östliche Horizont beleuchtet mit viel zu grellem rosa Licht eine Bühne, auf der die Kulissenschieber die frisch dunkelblau bemalten Berge,  mit ihren puderzuckerweißen Gipfeln bedrohlich immer weiter zum Rand hinschieben, bald werden sie aufs Publikum fallen. An einer der Felsenwände des Lattengebirges ist jetzt, sorgfältig ausgeleuchtet, das kitschige Märchenschloß zu sehen. Es taucht nur auf, wenn der Föhn es so einrichtet. Es gibt noch so ein Schloß, das hängt wie ein Adlerhorst in einer steinernen Falte in einem der Chiemgauer Berge, man sieht es  nur von einem bestimmten Platz aus, am Uferweg um den Chiemsee. Die Leute, denen ich von diesen geheimnisvollen Schlössern erzählt habe, konnten sie nicht erkennen, ich weiß aber, daß sie da sind und die Dächer ihrer vielen Türmchen glänzen in der Sonne. Möglich macht das der Föhn, der ansonsten ziemlich lästig ist, seine Stürme wehen alles durcheinander, was vorher zumindest noch ein wenig Ordnung  brachte und für Sicherheit im inneren und äußeren Gehäuse gesorgt hat. Von überall draußen wehen nach überall drinnen welke, nasse Blätter. Das Jahr liegt um mich und das alte Haus herum ausgebreitet im Schlamm, den der viele Regen, den wir im dürren Sommer so sehr ersehnt haben, jetzt hinterläßt. Der Bach wird bald überlaufen, über Salzburg leuchtet es pink und ums Hauseck herum kommt dieser merkwürdig warme Wind  und singt sein ewiges Lied vom Werden und Vergehen.

Ich schleppe die Kakteentöpfe hinein ins Haus und im Frühling wieder hinaus und dazwischen gesellen sie sich zueinander auf Fensterbänken, Tischen und Stellagen. Der Regen wird vom Wind durch alle Ritzen hindurchgejagt. Das Haus ist keineswegs dicht und es macht Geräusche und es steht nach fast dreihundert Jahren immer noch und trotzt auf seine Weise der Welt, die es nur mehr auf eine gewisse Zeit dulden wird. Irgendwann wird es von irgendwem „entkernt“ werden und dann wird es wohl „Chalet“ heißen, so nennt man heute die Wochenendresidenzen der wohlhabenden Mitmenschen, die das dann „urig“ finden und übers Wochenende mal so richtig „Booaarisch“ sein wollen.

Ganz soweit ist es noch nicht, immerhin gibt es die vier gleichalten Bauernhäuser unseres Weilers noch. Eines steht in seinen alten Außenmauern zumindest als schöne Atrappe, innen stylisch entkernt. Zweien wurde in unmittelbarer Nähe ein moderner Hausklotz vor die Nase gesetzt, mit diesem Anblick müssen sie nun bis an ihr Ende leben. Und unser Haus ist halt nahezu so geblieben, wie es gedacht war. Alle stehen davor und bewundern es, aber keiner möchte mehr drin leben.

Auch mir fällt es manchmal schwer. Das Haus ist eine eigene Wesensart und beansprucht eigenen Raum, es lebt und atmet ein und aus und manchmal habe ich das Gefühl, das Haus ist in mir und ich bin das Haus. Es ist ein Geschenk und eine Katastrophe gleichzeitig.  Und seit einiger Zeit verfolgt mich der Gedanke, über dieses Haus noch viel mehr und viel intensiver schreiben zu müssen als ich es bisher getan habe und ich bin sicher, daß es nur der Eingang ist, durch den ich hindurchtreten muß, um zu einer noch unbekannten Welt zu gelangen. Noch zögere ich, die verborgene Höhle und die Geheimfächer in den Schränken genauer anzusehen und zu beschreiben, was ich sehe.

Und es gibt einen Ort, da läuft die Zeit rückwärts und einen Eingang zu einem verfallenen Stollen tief in die Erde.

Das Jahr ist unter den gefallenen Blättern im Schlamm versunken und einen großen Stein habe ich gefunden, er ist mir von irgendwoher vor die Füße gekugelt und im Regen glänzt er.

 

An welchen Steinwänden der Großstadt die Kraulquappe entlanggeht, darüber schreibt sie dort

#28 Cancion Mixteca

Als ich heute Nachmittag mit dem Radl losgefahren bin, hatte sich die Sonne auf unserer nördlichen Schattenseite des Tales schon zurückgezogen und es war so kalt, daß meine Nase zum Eiswürfel erstarrte. Das passte gut zu meiner Verfassung, ein Projekt fing an, mich zu nerven, weil es zäh wurde und ich zunehmend die Lust daran verlor. Alles mögliche, unbewältigte Zeug fiel mir ein und in der Küche lag noch der Geruch vom völlig verkohlten Lauchgemüse gestern Abend … ich hatte nur mal schnell was nachschauen wollen in der Zeitung und die Pfanne auf dem Herd vergessen … dann riss auch noch der Schnürsenkel meiner Radschuhe … ich fuhr also in denkbar schlechter Laune los. Nach ein paar eisigen Kilometern kommt plötzlich hinter dem Wald ein Schwall lauwarmer Luft dahergeweht und die Sonne taucht auch nochmal auf und scheint warm auf meinen Rücken. Und dann ist da plötzlich dieser wunderschöne Stein, der liegt einfach da an der Straßenseite, glatt und matt schimmernd und rund wie eine perfekte Bowlingkugel. Ich werde ihn mir morgen mit dem Auto holen … wenn er nicht inzwischen weggerollt ist.

Und beim Heimfahren bleib ich stehen, da ist im Wald ein Phänomen zu sehen, von dem ich vor Jahren, in der Anfangszeit dieses Blogs schon mal berichtet hatte. Es ist  Windstille, nur an einem Ast bewegt sich ganz sanft ein kleiner Zweig und die Blätter daran. Alles ringsherum ist bewegungslos, nur dieser kleine Zweig wiegt sich sanft in einer nicht vorhandenen Brise Luft, keine Ahnung, woher sie kommt … ein paar Minuten nur, dann ist es vorbei. Damals dachte ich an die Bücher von Carlos Castaneda, der von seinem Lehrer Don Juan in vielerlei Situationen gelehrt bekam, daß die Welt nicht nur aus erklärbarer Wirklichkeit besteht. Heute denke ich sofort an Harry Dean Stanton, wie er durch die Wüste geht. Unzählige Male hab ich mir die Anfangssequenz von „Paris Texas“ schon angesehen. Immer wieder und wieder geht er durch die Wüste, dieser absolut aufrechte Gang, dieser Blick sagt alles. Der übrige Film, die ganze Geschichte dahinter ist eigentlich nicht mehr nötig, seine Augen, seine Hände und sein Gehen erzählen von Zärtlichkeit, Scheitern und Einsamkeit.

Y triste cual hoja al viento

Und wenn er so geht und den letzten Tropfen Wasser trinkt und zum Adler hinüberschaut, begleitet ihn diese Musik, wie das wehklagende Lied der Wüste … eine Szene, die mir zur Zeit nicht aus dem Kopf geht.

Und als ich dann heimfahre, geht Harry Dean Stanton neben mir … aufrecht … und dann denk ich mir, daß ich jetzt einfach den Dingen ihren Lauf lasse, es muß ja ein Projekt nicht immer sehr gut sein, halb gut reicht auch, macht Freude und der Leistungsdruck ist weg.

So gehts auch.

 

Und das schreibt die Frau Kraulquappe zum derzeitigen Stand der Dinge

#27 Hallimasch

Für heute und morgen habe ich einen Seelenwecken gebacken, das ist ein Germzopf mit vielen Weinbeeren und Puderzuckerglasur. (Hefezopf mit Rosinen) Man kann viel bei Wikipedia und Konsorten nachlesen, wo die Bräuche und das Kultgebäck an Allerheiligen ihren Ursprung haben und was im Lauf der Zeit daraus geworden ist. Auch gibt es alte und neue Rituale, diese Zeit und ihre Durchlässigkeit nach Anderswelt zu feiern. Herr Graugans sagt, er hätte sich schon so auf den Morgen gefreut, wenn er diesen schön geflochtenen Zopf anschneiden kann. Diese Freude und das Kürbislicht am Abend vor dem Haus und allein schon das Aussprechen des Wortes „Seelenwecken“ reichen mir als Ritual, um das Besondere zu erspüren völlig aus. Es geht um die Seelen, um was sonst?

Mit dem Radl sind wir heute Nachmittag unsere Runde gefahren und da standen auf der saueren Wiese, deren uns bis dahin unbekannten Blumenreichtum wir in einer Art Jahresuhr seit dem Frühling bis zum Abmähen im Herbst  beobachtet haben, auf einmal Trollblumen.  Mit diesen begann unsere Erforschung dieser Wiese und jetzt, kurz vorm Winter wachsen dort die ersten Frühlingsblumen. Sonderbar. Schon als Kind habe ich Trollblumen geliebt und wenn ich welche sehe, dann freue ich mich, aber diese Freude ist durchzogen von einem alten Schmerz, da gibt es eine Wunde, die nie verheilt ist. Da ich als Kind kein Geld hatte, pflückte ich meiner Mutter zu ihrem Geburtstag im April einen Strauß Trollblumen. Die Geschichte nahm ihren Lauf und endete dramatisch. Meine Mutter zerfetzte alles, riss den Blumen die Köpfe ab und unter lautem Gebrüll und Beschimpfungen warf sie alles weg. Ich hatte ihre sorgsam gehüteten und versteckten Weinflaschen ausgeleert, die sie so dringend brauchte, um überhaupt irgendwie zu überleben und sich doch jeden Tag Schluck für Schluck dem Untergang entgegen zu trinken.

Ach, arme Mama, sage ich zu den Trollblumen, die ihre Köpfe wiegen, Du warst so voller Geschichten und Du hast in so großer Sehnsucht die Bühne gesucht, aber Du warst ans falsche Theater engagiert, am falschen Ort, mit dem falschen Mann und mit dem falschen Kind … das konnte nicht gutgehen. Ich wollte Dich retten, aber ich war zu klein  und der Abgrund zu tief. Verzeih. Ich steh nicht an Deinem Grab heute, Mama, Dein Grab ist in meinem Herzen, ich trage es mit mir herum.

Während Herr Graugans eine außergewöhnliche Anhäufung von Schwammerln im Wald fotografiert, fahre ich zu dem Ort, an dem verborgen von einer großen Scheune vor ein paar Jahren ein 23 jähriger Bursche in großer Verzweiflung sich in seinem Auto einschloß und mit den Auspuffgasen umbrachte. Immer mal wieder fahr ich dorthin und sag zu ihm: Ruhe in Frieden! Mir ist, als bräuchte seine arme Seele immer noch ein wenig Zuspruch. Auf der anderen Seite der Straße sind junge Burschen grad dabei, ihre selbstgebaute Hütte für den Abend vorzubereiten, sie sind völlig unverzweifelt guter Dinge und bald steigt Rauch aus dem Kamin und es riecht nach Holzfeuer und fröhlichem Beisammensein.

Herr Graugans hat inzwischen seine Fotosession beendet und zeigt mir riesige Mengen von Schwammerln, die sich über das Totholz hermachen. Sie kleben an einem großen Baumstumpf und ich erinnere mich an diese Felsenstadt Matera in Süditalien, eine der ältesten Städte der Welt, die Menschen lebten in Felshöhlen. Als wir vor vielen Jahren dort waren, trauten wir uns nicht, auch nur einen Pfirsich von den Bäumen vor der Stadt zu pflücken, so beschämt waren wir von der Armut.

Herr Graugans sagt, die Schwammerln heißen Hallimasch und früher kochte man aus ihnen einen Sud gegen plagende Hämorrhoiden. Aber das wirkliche Geheimnis der Hallimasche ist der  in ihrem Mycel verborgene chemischeStoff: „Luciferin“, sobald der in frisches Holz eindringt gibt es eine Reaktion mit dem Sauerstoff aus der Luft. Und dann leuchtet es! Da werde ich mich selbstverständlich baldigst nächtens auf Erkundung begeben, um ihn zu sehen, den leuchtenden Baum!

Und daselbst sind die Erkundungsstreifzüge der lieben Frau Kraulquappe!

„Nachruf auf die Leere“ (Yamen Hussein)

Ich höre den Schlafenden träumen:
Teile dein Brot mit dem Fremden,
das Herz mit der Liebsten,
den Wein mit Vertrauten,
die Sitzbank mit Wolf und Derwisch.
Wirf keinen Stein ins Becken,
du verschreckst durstige Schafe.
Scheuche keine Vögel vom Weizenfeld.
Schließe die Tür nicht hinter dir,
lass deinen Schatten folgen.
Kaufe nur so viel du verdauen kannst.
Säe am Fenster,
was du nicht verkaufst, nicht einmal pflückst.
Betrachte dein graues Haar,
es zeigt, wie sehr die Eltern gealtert sind.
Begehe die Erde behutsam,
sie spiegelt deinen Körper.
Unterwirf dich nicht –
weder Gott, den Eltern noch einer Idee.
Glauben bedeutet zu lieben, nicht unterworfen zu
sein
und nicht zu unterwerfen.

Aus dem Buch: „Nachruf auf die Leere“
von Yamen Hussein

aus dem Arabischen von Leila Chammaa und
Jessica Siepelmeyer

Vielen Dank an Dincer Gücyeter, der mir erlaubte, dieses Gedicht von Yamen Hussein, das mich bis in den hintersten Herzwinkel getroffen hat, hier zu veröffentlichen! Yamen, der Dichter aus Homs/Syrien, hat 2014 sein Land verlassen.

mehr im www.elifverlag.de 

Foto: Michael Helminger

#26 Mein Vater und „der Wieland“ oder: wo wohnt das Glück?

Mein Sinn ist heute voll mit den Eindrücken des gestrigen Abends. Ich bin so voller Gefühle und muß mir noch mühsamer als sonst die Sätze darüber zurechtformen, vorsichtig, behutsam über eine Begegnung erzählen, die mir zu kostbar ist, um sie mit unbedachten Worten zu entzaubern.

Der Heimatverein einer unserer Nachbargemeinden, bei dem wir Mitglied sind, hatte eingeladen zu einem Abend mit Dieter Wieland. DER Dieter Wieland, eine Art Hausgott meines Vaters, der leidenschaftlich alle seine Filme im Bairischen Fernsehen gesehen hatte und die Bücher „Grün kaputt“ und „Bauen und Bewahren auf dem Lande“ so sehr und oft in der Hand hatte, daß schon die Seiten herausgefallen waren. Auch mich begleitet diese weiche, leicht melancholische Stimme, in der er in den siebziger Jahren über die katastrophale Zerstörung des Bauernlandes mit Flurbereinigung und der ersehnten Verstädterung, angeblich pflegeleichte Oberflächen, große Fenster, asphaltierte Dörfer, Glasbausteine, Eternitfassaden, monotone Rasenflächen und viel viel Krüppelkoniferen sprach. In seinen Filmen wollte er „den Zustand vor der Zerstörung, die Zerstörung und dann den Zustand nach der Zerstörung und was dann entstand“ zeigen, so sagt er. Den Blick schärfen für das, was mal war und was dann daraus entstand. Eine seiner Antriebsfedern sei ein Spruch von Hilde Spiel gewesen: „Wenn man es hinnimmt wie es ist, dann heißt das , daß man sein Land nicht mehr liebt!“  Er hat viel Ärger bekommen, und ist heftigst angegriffen worden, auch mein Vater hatte es mit haufenweise Unverstand und Kopfschütteln zu tun, wenn er bei jeder Gelegenheit Dieter Wielands Filme zitierte, weil er dachte, vielleicht glauben sie dem Mann im Fernsehen mehr als ihm. Weit gefehlt. Der Nachbar saß da und schimpfte, daß schließlich der Bauer auch mal nach der Stallarbeit eine heiße Dusche wolle., worauf mein Vater sagte: aber die kannst Du doch auch ins alte Bauernhaus hineinbauen, aber das hat nichts genützt, Abreißen und neu bauen war die Devise, mit großen Fenstern. Ein Lieblingssatz von meinem Papa war: Da wollen sie alle diese großen Fensterlöcher, möglichst nach Süden und was passiert dann? Dann werden diese Fenster sofort mit Stores zugehängt, weil ja niemand reinschauen soll und überhaupt ist es ja im Sommer viel zu heiß.

Die meisten Filme von Dieter Wieland kann man inzwischen auf YouTube anschauen, die Bücher gibt es auch immer noch, und leider sind sie alle hochaktuell, die Zerstörung auf dem Land schreitet in schrecklichen Ausmaßen voran und ich bin sicher, das gilt nicht nur für Bayern. Wenn ich übers Land fahre und die Zersiedelung sehe, all die Solitärbauten … ein Zeichen unserer Zeit … Solitär-… all die Scheußlichkeiten, der Jodlerstil (ein sehr treffliches Wielandvokabular), nach wie vor der Deutschen Lieblingspflanze, die Krüppelkonifere … ich könnte die Liste der unbedachten Grauslichkeiten endlos weiterführen … wenn ich mir vorstelle, durch diese abstoßenden Haustüren zu müssen, nach dem Durchschreiten der widerlichen Schotter – „Gärten des Grauens“, da wundert es mich keineswegs, daß so viele Menschen in Depressionen verfallen. Geld allein ändert natürlich keineswegs das Bewußtsein. Wir bräuchten eine neue Aufklärung, sagt Wieland, wahrscheinlich hat er Recht, aber bis die kommt, sind alle alten Häuser abgerissen.

Einer meiner Lieblingssätze: „Alte Häuser brauchen Liebe, wie alles, für das wir Gefühl aufzubringen vermögen. Das ist vielen lästig geworden.“ (D. Wieland)

Und gestern Abend sitzen wir im vollen Pfarrsaal in Waging am See. Unser lieber Freund und Vereinsvorstand wollte uns eine Freude machen und hat uns Plätze reserviert am Tisch zwischen dem Chefredakteur der wunderbar aufmüpfigen oberbairischen und weit darüber hinausreichenden Zeitschrift „MUH“, einem Journalist der FAZ, dem Leiter des Landesverbands für Heimatpflege, der gerade einen grandiosen Artikel in der MUH über den bedauernswerten Zustand des vor fünfzig Jahren gegründeten Denkmalschutzes geschrieben hat und … mir gegenüber sitzen ein sehr freundlicher alter Herr mit Gattin. Dieter Wieland, ich erkenne sofort seine Stimme, alt geworden, aber immer noch so wohlklingend wie früher. Wir sehen den Film: „Unser Dorf soll häßlich werden“ aus dem Jahr 1973 und danach  sitzt Dieter Wieland auf der Bühne und erzählt.

Und nachher verlassen alle den Saal und wir sechs Leute bleiben sitzen und reden einfach weiter, und wir erzählen uns gegenseitig unsere Geschichten und dann geschieht das, was man niemals planen kann, wir unterhalten uns und wir verstehen uns, weil wir Ähnliches empfinden und für die gleiche Sache eintreten. Und wir haben lang nichts mehr zum Trinken, das ist völlig egal, weil wir einfach erzählen und zuhören und erzählen. Dieter Wieland und seine Frau sind freundlich und menschenzugewandt und solche Gespräche sind pures Glück. Irgendwann sagte er zu seiner Frau, glaubst du nicht auch, wir sollten dann mal ins Bett gehen? Da war es schon lang nach Mitternacht. Aber bevor wir uns dann langsam auf den Weg machten, hab ich zur abgrundtief scheußlichen Decke des Pfarrsaals hinaufgewunken und gesagt: Schau Papa, Du hast ihn so verehrt und  hast immer gesagt, das ist ein ganz besonders Guter, und jetzt sitz ich ihm gegenüber und freu mich auch für Dich mit und dann sag ich:

Herr Wieland, ich glaub, ich soll sie jetzt grüßen von meinem Papa!

Damit das aber nicht zu peinlich wird für alle und dem Papa oben im Himmel hinter der Pfarrhausdecke und ich sowieso schon mit den Tränen kämpfe, gehe ich erstmal aufs Klo und dann verabschieden wir uns alle voneinander. Und wie das so ist, nach so einem wundervollen Abend, stehen wir noch vor der Türe und die Gespräche hören erst auf, als es regnet und mit guten Wünschen trennen wir uns in die schwarze Nacht hinaus … und Herr Graugans geht auf die Suche nach dem Auto, das geheimnisvollerweise nicht mehr da zu stehen scheint, wo er es abgestellt hatte.

 

Und da träumt die liebe Kraulquappe