Großmutter
Franziska war ihr Name, ich kann mich aber nicht erinnern, ob sie von irgendwem so genannt wurde. Für mich hat sie nur Oma geheißen. Sieben Kinder hat sie geboren, zwei Mädchen und fünf Buben. Ihr Sohn Otto, ein blonder Hüne mit strahlend blauen Augen, zwei Meter groß und bildschön, wurde von der SS angeworben, aber er wollte nicht. An einer Front ist er dann fürs Vaterland gefallen. Das heißt, er ist abgeknallt worden und irgendwo verscharrt. Der zweite Sohn, Peter, ist in Titos Rübenfeldern kläglich an der Ruhr verreckt. Ein weiterer, der Max, ist nach jahrelanger elendiglicher Pein an Knochentuberkulose gestorben. Die Mädchen haben geheiratet und der älteste Sohn wollte den armseligen Hof nicht übernehmen, er hat lieber und weitaus gewinnbringender in eine begüterte Bürgersfamilie in der Kreisstadt eingeheiratet. Also blieb nur der jüngste, mein Vater, der übernahm den total heruntergekommenen Hof und heiratete eine Flüchtlingsfrau, die aus einer k.u.k. böhmisch österreichischen Theaterfamilie stammte.
Das Leben meiner Großmutter war karg und die Arbeit, die sie leisten mußte, kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Sie stammte aus einer Schusterfamilie und sie hatte einen Bruder, den Schorschl, der die Schusterwerkstatt übernahm. Von der Mutter hat sie nie erzählt. Heute hätte ich so viele Fragen an sie und immer wie der ist es das Gleiche, man muß alle Fragen stellen, so lang noch Zeit ist, irgendwann ist es zu spät. Aber ich war ca. 10 Jahre alt, als sie gestorben ist, die Fragen als Kind an eine Oma sind andere als sie heute wären, da ich auch schon beinahe so alt bin wie sie damals.
Meine Großmutter mußte von daheim weg, da war kein Platz mehr. Da die Tochter eines armen Schusters niemals von einem reichen Bauernsohn geheiratet worden wäre, hat sie den armen Taglöhner mit seinem kleinen Sacherl genommen. Ein Gütel mit wenig Grundbesitz, sie konnten nur ein bis zwei Kühe füttern und blieben arm ihr Leben lang. Es ist mir ein Rätsel, wie sie sieben Kinder so ernähren konnte, daß niemand hungern mußte. Von der wenigen Milch hat sie Butter gemacht und wenn es irgendwie möglich war und sie genug zusammen bekam und mit ein paar vom Mund abgesparten Eiern ist sie mit ihrem Rad 12 km einfach und aufwärts in die Kreisstadt gefahren, um am Schrannenmarkt ein paar jämmerliche Pfennige zu verdienen, auch da versuchten die feinen Damen mit ihr zu feilschen. Heute rasen Menschen auf ihren elektrischen Rädern bei uns vorbei, so schnell, daß man nur noch flüchten kann, damit man nicht umgefahren wird. Mir gefällt das nicht, es gibt kein Fahrrad mehr, sondern nur noch E-Bikes, an die ich mich sicher nicht mehr gewöhne, auch nicht daran, daß es kein Tourenrad mehr gibt , sondern nur noch Trekking, Citybikes etc. Eine Gesellschaft, die an den Grenzen Geflüchtete zurückschickt, weil wir uns das nicht mehr leisten können … aber wenn ich mir die Scharen von E-Bikern anschaue, die zu Tausenden herumgeistern und pro Bike zwischen 3000 und 6000 Euro aufwärts einfach so bezahlen …
Damals war ein neues Fahrrad absoluter Luxus, aber anscheinend war ein altes Radl da und meine Oma konnte damit fahren.
Sie hat mit mir gespielt und viel mit mir gesungen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme und war sicher hochmusikalisch, das hat sie allen ihren Kindern vererbt. Sie machte die besten „geschnittenen Nudeln“ (eine Art Bandnudeln) nur aus Mehl und Wasser. Ich habe sie sehr geliebt und sie hat mir ganz sicher das Leben gerettet und hat mich in ihr Bett geholt, wenn meine Eltern schlimme Kräche hatten.
Das Leben meiner Großmutter bestand nur aus Arbeit, sie hat sich gefügt und ergeben. Eine Frage, wo denn ihr eigenes Leben oder sowas wie ein eigener Raum geblieben war, hätte sie nicht verstanden. Ich habe viel mit ihr gelacht, sie hatte weiße, ganz feine Haare, bis runter zu den Hüften und meine Mutter hat sie manchmal gebürstet und einen Zopf geflochten, der dann um den Kopf gelegt wurde.
Sie hatte einen ganz speziellen Geruch, leicht pudrig und ein wenig nach Seife. Sie konnte wunderbare Socken stricken mit einer Ferse, die so raffiniert verstärkt war, daß sie jahrelang kein Loch bekam. Ich habe tatsächlich noch ein paar Socken von ihr aus dunkelgrüner Wolle und ich bewundere noch heute diese Kunst der Ferse, ihre ganz eigene Art, sie zu stricken. Ich würde sie so gerne fragen, wie sie das gemacht hat.
Dann hat sie auch noch meinen Großvater versorgt, der stark verkalkt war, heute würde man sagen dement, bis er gestorben ist. Sie hat ihre Arbeit getan und sie war dabei allein, wie alle Frauen. An Geburts- und Muttertag kamen Vaters Geschwister und es war ein großes Mutterliebetheater um sie. Dann waren alle wieder weg und sie saß irgendwo oder stand beim Abwasch in der Küche und hat leise vor sich hin geweint. Und sie war allein mit ihren Gedanken und ich würde sie so gerne umarmen und ihr danken.
Heute vor fünfzehn Jahren ist mein Papa gestorben, um 0.30 Uhr in seinen 85. Geburtstag hinein.
Und heute, am Tag der kalten Sofi, vor genau hundert Jahren, hat meine Großmutter ihr siebtes Kind zur Welt gebracht: meinen Vater.