StadtLandFluß (E)

Der Engel 

Ein wunderschöner Ort ist der Kommunalfriedhof in Salzburg. Hohe Bäume tragen ihre samtweichen, hellgrünen Frühlingsroben, um ihre Stämme und zwischen den Gräbern huschen die Eichkatzerln herum. Plaudernde und lachende Menschen machen Sonntagsspaziergänge, sitzen auf Parkbänken, lesen, essen Wurstsemmeln, trinken Kaffee aus Thermosflaschen oder gießen die Blumen. Und mitten unter ihnen liegen die Toten und ruhen vom Leben aus. Die Geschichte von Oscar Wilde fällt mir ein, da sagt das „Gespenst von Canterville“, daß sein größter Wunsch wäre, endlich schlafen zu dürfen, schlafen für immer, wie schön muß das sein. Hier würde es ihm auch gefallen, da bin ich sicher.

Wir suchen den Engel, irgendwo muß er doch sein, niemand kennt ihn. Wie ist das möglich, er soll überlebensgroß sein und mitten auf einer Wiese der anonymen Urnenbestattungen sitzen. Nach langem Herumirren und dem Hinweis, daß „die Anonymen“ hinter dem Krematorium zu finden seien, sehen wir ihn endlich, den großen Engel.

Genius hätten ihn die Alten genannt, diesen schönen geflügelten Jüngling. Mächtige Schwingen hat er und aus seinem sanften Antlitz schauen seine blicklosen Augen irgendwohin ins Leere … es ist verwirrend, wie genau jemand schauen kann, dem doch keine Augenblicke möglich sind. Das bleibt wohl für immer ein Geheimnis seines Schöpfers.

Auf der alten Aspernbrücke in Wien war er eine der vier allegorischen Figuren, die ihren Platz auf den Brückenpfeilern hatten und Krieg, Frieden, Ruhm und Wohlstand darstellen sollten. Er saß dort für den Frieden. Alle vier geflügelten Jünglinge wurden von steinernen Löwen begleitet. Ich würde gerne seinen löwischen Begleiter sehen, aber hier im Kommunalfriedhof sitzt er ganz alleine. Viel Zeit ist vergangen, seit unter ihm das Wasser in die große Stadt hinein- und hinausgeflossen ist. Jetzt sitzt er dort, wo Leben und Sterben sich vereinigen zum Fluß der Ewigkeit.

Es ist nichts darüber bekannt, wie und warum er hierher gekommen ist. Die Aspernbrücke wurde Anfang 1900 abgerissen, ob die anderen Figuren noch existieren, darüber konnte ich nichts herausfinden. Zwei der Begleitlöwen sollen am Schloß der Stadt Horn stehen, das Schicksal der anderen ist ungewiß.

Erschaffen wurde die ganze Gruppe vom Bildhauer Franz Melnitzky (1822 – 1876)

 

Ich mag ihn sehr, in all seiner verwitterten Schönheit, diesen steinernen Jüngling mit dem unwiderstehlich sanften, kleinen Lächeln und den großen Flügeln.

StadtLandFluß (D)

Dionysos

Für heute hat Christiane 
einen Balladentag ausgerufen, vielen Dank dafür, hat mich dieser Aufruf doch zu einer Ballade geführt, die ich ansonsten niemals entdeckt hätte. Eigentlich hatte ich keine rechte Lust dazu, schon wieder eine meiner Lieblingsballaden zu veröffentlichen, weil ich da ganz sicher wieder beim tausendfach reproduzierten „Belsazar“ gelandet wäre. Also blätterte ich eher lustreduziert in Balladensammlungen und blieb plötzlich an einem Text hängen, der mich magnetisch anzog und nicht mehr losgelassen hat.

Das Gedicht „Dionysos“ stammt von Georg Heym (30.10.1887-16.1.1912), er wird dem Expressionismus zugeordnet und hat ein riesiges Werk hinterlassen, wenn man bedenkt, daß er schon mit 25 Jahren gestorben ist. Er war mit seinem Freund beim Schlittschulaufen auf der Havel, beide ertranken, als der Freund den Freund retten wollte.

Die hier ausgesuchte Ballade spricht für sich und ich glaube, sie benötigt keine Interpretation. Die Kraft der Sprache läßt mich schaudern, ich habe beim Lesen das Gefühl, einen magischen Raum zu betreten, der mich aufnimmt und zwischen den Worten umhergehen läßt.
Der Dichter hat die Ballade angeblich mit 15 Jahren geschrieben.


Am Wege sitzt er. An der Felder Schwelle.
Die Winde, die im weißen Korne spielen,
Sie tragen ihm des Landes Würze zu.

Des Ölbaums grüner Schatten folgt der Sonne.
Im Kreise ziehn am Himmel hin die Stunden.
Nun ward es Mittag. Und der Wind schläft ein.

Die Panther stehen müde im Geschirr.
Wo ist ihr Goldglanz, der von India kam,
Der Welt Entzücken. – Sie sind alt und matt.

Der Gott ist manches Jahr herumgestreift,
Verstoßnen Sklaven gleich, durchs Waldgebirge
Und niemand hat sich seiner mehr erbarmt.

Durch Städte kam er, wo er einst geherrscht.
Die Tempel sind zerstört und schon zerfallen.
Kein Opfer netzt den heilgen Boden mehr.

Durch Dörfer kam er, wo sein Säulchen sonst
Mit Rosen jeden Morgen ward bekränzt
Und wo der Herden Erstling er empfing.

Der Exorzisten Horde in den Kutten
Trieb ihn mit Flüchen aus. Und Scheiterhaufen
Verbrannten seine letzten Söhne lang.

Ein neuer Gott ist in das Land gekommen.
Des Kreuzwegs Heiligkeit ward frech entweiht
Von seinem Bilde, das am Kreuze hängt.

Nackt, fahl, und wund, so hängt er in dem Tag
Im goldnen Licht des Mittags, anzuschaun,
in Schandfleck der geschändeten Natur.

Wo sind die Spiele hin, die Philosophenschulen,
Heros Akademos. Der Männer Schönheit.
Wo ist der Sang der stolzen Olympiaden.

Wo sind die Götter hin. Sie sind verwandelt,
Sie sind zerstreut. Sie wohnen in der Erde.
O. Aphrodite, die zur Spinne ward.

Er sieht herüber zu dem Götterberge.
Des eisern Haupt ins Blau des Himmels ragt.
Verlassen ist er. Einsam alle Zeit.

»Warum, warum.« Und seine Hände suchen
Beim Weinlaub Trost, das ihm zu Häupten hängt,
Und zitternd streicheln sie das reife Korn.

Die Tränen rinnen langsam ins Gesicht
Des greisen Gottes, in den Falten hängend.
Und wie ein Kind schläft er vom Weinen ein.

Dryaden zwei, die in den Wald geflohn,
Sie treten aus des Waldes Schatten vor.
Vorsichtig spähn sie über Weg und Feld.

Sie sehn den Gott und stürzen ihm zu Fuß:
O Vater, Vater. Ach er schläft. Sie tragen
Behutsam ihn zum Walde Schritt vor Schritt.

Die Panther folgen ihres Herren Spur.
Der Zug verzieht im Wald. Ein goldner Schein
Des Wagens schimmert durch die Stämme noch.

Doch atemlos und stumm wird die Natur.
»Er ist gestorben« ruft es in den Dörfern.
Ein heißer Ostwind streicht durch Asia.

Die Pest tritt in die niedren Türen ein.
Vorm Kruzifix zergeißelt sich das Fleisch,
Blut netzt des neuen Gottes bleichen Fuß.

Kehr wieder, Gott. Kehr wieder aus dem Reich
Des grünen Waldes. Denn erfüllt ist nun
des neuen Gottes kummervolles Reich.

Der Usurpator muß vom Throne stürzen,
Die Bettlergilde die sich angemaßt,
Der Himmlischen Paläste zu bespein.

Der Himmel ist zum Tollhaus nun geworden.
Krankheit und Wahnsinn herrschen im Olymp.
Drei ward gleich eins. Und Brot ward dort zu Fleisch.

Sie passen in die Königskleider nicht,
Die Zwerge, die wie kleine Affen hocken
Im Götterpurpur auf der Blitze Thron.

Kehr wieder Gott, dem Pentheus einst erlag.
Du Gott der Feste und der Jugendzeit.
Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich.

Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir.
Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl.
Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit.

Wir wo dir wieder Tempel bauen, Herr.
Wir wollen Feuer an die Kirchen legen,
Vergessen sei des Lebens Traurigkeit.

Wir flehn zu dir in mancher stillen Nacht.
Wir sehen hoffend zu den Sternen auf.
Tritt aus den Sternen. Hör das Rufen, Herr.

Georg Heym

StadtLandFluß (C)

Christrose

Am Rand des verwilderten Gartens blühen die Christrosen. Die Blüten sind weiß und manche haben zarte hellrosa Ränder und hängen groß und schwer an den Stengeln. Nein, ich mache kein Foto, das mögen sie nicht, sie wollen im Blühen nicht gestört werden.

Der Christuskopf liegt schon Jahrzehnte in einer Mauernische unserer Tenne. Irgendwann vor vielen Jahren muß er zu uns gekommen sein, woher auch immer. Er ist ziemlich ramponiert, hat Bruchstellen und abgestoßene Ecken und sieht aus, als wäre er nicht nur einmal irgendwo heruntergefallen. Jetzt liegt er schon seit Jahren immer an der gleichen Stelle und immer schaue ich ihn an, wenn ich das Haus verlasse und an ihm vorbeigehe. Dieses zarte Gesicht, wie im Schlaf, aber wahrscheinlich ist es das Gesicht des Toten. Die Dornenkrone krallt sich in seinen Kopf, aber es ist vollbracht und der Schmerz und die Qual sind vorbei. Ein trauriger Frieden liegt um seinen Mund.

Wenn ich mich neben die Christrosen setze, und ganz still bin, kann ich manchmal ihre Musik hören. Zart und leise erklingen die Töne und es ist mir, als würde sich ein Lied während des Singens erschaffen … Ton für Ton … sehr zart und dann schwebt es davon.

 

StadtLandFluß (B)

Birke

Jetzt weint sie, das tun die Birken, wenn man sie anschneidet, jetzt im Frühling, wo sie im Saft stehen, sagt der Lieblingsnachbar, der einfach so kommt und uns hilft, mit der Wildnis fertig zu werden. Ein Birkenast, der ungünstig über die Straße hing, mußte abgesägt werden. Ja, sie weint, die Birke, nicht nur ein paar Tropfen, sondern Rotz und Wasser, in Strömen laufen die zuckersüßen Tränen aus der Stelle ihres abgetrennten Armes. Stundenlang hat sie geweint, dann wurde es weniger und dann tropften nur noch dicke, einzelne Tränen aus ihr heraus.

Der Herr Graugans hatte schreckliches Heimweh, und dann wurde er entlassen, weil die Behandlung in der Wundambulanz weitergeführt werden kann. Er darf sich nicht anstrengen und nicht mehr als fünf kg tragen, aber es geht ihm gut, die Heilung schreitet voran, in winzigen Schritten als Übungsaufgabe im zuversichtlichen Geduldhaben. Es wird Monate dauern und die Narbe im Bauch wird eine sensible Stelle bleiben. Ich denke viel an die japanische Kunst Kintsugi, wo die Bruchstellen eines Gefäßes zusammengefügt werden, aber nicht unsichtbar sein sollen wie gewohnt, sondern im Gegenteil, mit echten Goldblättern belegt werden. Der Riß, die Narbe, die Wunde, man soll sie sehen … sie wird hervorgehoben, in Gold getaucht.

Die Wunde zeigen und sie auch noch vergolden, was für eine Herausforderung in einer Welt, in der Krankheit verpönt ist und als persönliches Versagen gilt, dessen man sich schämt. Deshalb muß alles ersichtlich Kranke so schnell wie möglich weggemacht oder zumindest verborgen werden. Was wäre, wenn wir nicht nur Bruchstellen in Keramik vergolden täten, sondern auch unsere Wunden.

Zeige mir Deine Wunden…

Der persische Sufi-Meister und Mystiker Rumi  (1207-1273) soll gesagt haben:

„Die Wunde ist der Ort, wo das Licht in dich eintritt“.

Jetzt kommt Ostern und es geht wie jedes Jahr nicht darum, möglichst viel teueres Schokozeug zu kaufen, das es nach Ostern zu Schleuderpreisen geben wird, auch nicht  darum, das Haus zu putzen, sondern eher das Herz, damit Platz ist für die große Freude. Der Birke mußte großer Schmerz zugefügt werden, jetzt, am Anfang der Karwoche. Wenn das stimmt, was Rumi gesagt hat, dann wird durch die Wunde das Licht in sie hineinströmen.

Aus allen Wunden tropfen die Tränen und dann kommt das Licht und die Freude.

StadtLandFluß (A)

Eine Zeitlang, bis das Alphabet durch ist, werde ich hier die Rubrik „StadtLandFluß“ betreiben. Ich werde immer mit einem Wort beginnen, das mir zum jeweiligen Buchstaben einfällt und davon ausgehend einfach weiterschreiben, was mir grad so in den Sinn kommt. Ich liebe dieses Spiel schon mein Leben lang, aber mit zunehmendem Alter finden sich immer weniger Leute, die mitmachen, und so spiele ich es jetzt einfach in eigener Variation mit mir selbst.

Abrakadabra

Derzeit schau ich mir oft den Konzertmitschnitt an, mit einem meiner absoluten Lieblingslieder: „Awarakadawara“

Die damalige Besetzung existiert nicht mehr. Resetarits ist als erster gestorben, dann Martina Rittmannsberger und jetzt Walther Soyka. Viele zu Herzen gehende Nachrufe sind geschrieben worden über diesen stillen, feinen Menschen, der sich immer eher im Hintergrund gehalten hat mit seiner Knopferl-Harmonika. Und doch wäre alles ohne ihn ganz was anderes gewesen. Auch ich entdecke ihn erst jetzt so richtig in seiner Musikalität. Das war einer, den man erst auf den zweiten Blick bemerkt. Er hatte diese leisen Töne, wie weiche Hände, in die wir unsere Seele legen dürfen. Alle sagen, was für ein feiner Mensch er war und ich glaube das auch, denn ich sehe, wie er spielte. Wie er die Ziehharmonika gehalten hat, förmlich eins wurde mit ihr und ich sehe seine Finger auf den Knöpfen … und das erinnert mich so sehr an meinen Vater, der spielte ähnlich. Ich sehe die vom Schmiedehandwerk geschwärzten Finger, wenn er keine Zeit zum Waschen hatte, weil er gleich nach der Arbeit in der Werkstatt hinein mußte in die Stube und sofort ein Lied, das er grad komponiert hatte spielen mußte, damit er es nicht vergaß. Auch die schnarrenden Bässe spielte der Walther Soyka, ähnlich wie mein Papa. Und er hätte gesagt, der Soyka, der hat „ein Gemüt“ und das hört man. Ich möchte mir gerne vorstellen, daß sie irgendwo im Himmel zusammensitzen und spielen. So wirds wahrscheinlich nicht sein, aber ich glaube, daß die Musik, die sich aus einem Herzen herausspielt im Universum vorhanden bleibt und in den großen Weltenklang hineinfließt. Ruhe in Frieden, Walther Soyka

Und wie es schon im Lied Awarakadawara so schön heißt, haben wir alle unser „Binkerl“ zum Tragen und manchmal landen wir auch im Straßengraben.

Mein wunderbarer Herr Graugans hat auch sein Binkerl zum Schleppen, zwar nicht am Buckel, sondern am Bauch. Nach einer OP heilt die Wunde einfach nicht zu, Wundheilstörung heißt das, wenn niemand so recht weiß, warum und wieso das so ist. Und vor allem weiß niemand, wie lang das noch dauert. Für eine EinMannFirma eine schwierige Lage und in der Reihe der möglichen Katastrophen, die schon sprungbereit in den Startlöchern warten ist der finazielle Kollaps ziemlich in erster Reihe. Um wenigstens teilweise diesen Schrecken zu verringern, arbeitet Herr Graugans mit Laptop und sehr verständiger Kundschaft vorerst im Spital zumindest stundenweise an nicht nur körperlicher Genesung. Und ich fahre hin und her auf der Bundesstraße, Wäsche holen, Wäsche bringen, Wäsche waschen. Müde bin ich, vom Hoffen und Bangen und Sorgen und vom Ringen um Zuversicht.

So eine Klinik ist ein Ort, an dem alle so sein dürfen, wie sie sind, alle tragen ihre Rucksäcke mit Sorgen, alle wollen einfach nur überleben und jede r möchte sich freuen können und glücklich sein. So nervig das Ganze auch ist, wenn man sich viel in diesem Klinikalltag bewegt, entdeckt man die Welt nochmal von einer ganz anderen Seite, es ist, als würde ein Vorhang aufgezogen, der den Blick freimacht auf eine riesige Bühne, von der man gar nicht ahnte, daß es sie gibt. Und man trifft Menschen, viele viele Menschen, unter anderem auch sich selbst, fernab von dem, was uns die Werbung einredet, wie wir zu sein haben.

Und es stellt sich heraus, wie gut es ist, daß WhatsApp erfunden wurde und wie groß der Stein sein kann, der vom Herzen plumpst, und wie erlösend die Tränen, wenn die Nachricht kommt: „Bin wieder online, es geht mir gut!“

Der Widder hatte es bereits sehr eilig und übernahm schnaubend den Stab von den Fischen. Mit der verträumten Sehnsucht der Fische und ihrem Auftrag, mit allen Menschen zu verschmelzen und ihre Last mitzutragen, mag er nichts zu tun haben und läuft weiter. Wo er mit den Hufen auf die Erde stampft, da wachsen Blumen und Gräser. Mit seinem grell flammenden Schwert erobert er die Welt und zieht den Frühling hinter sich her .

Die Kikerikiblumen (Lerchensporn) bilden große Teppiche und von unzähligen Hummeln sieht man nur noch den kleinen pelzigen Hintern, sie versinken förmlich im süßen Nektar der Blüten.

Abrakadabra wurde im Gnostizismus als Beschwörungsformel verwendet. Die Amulette sind dreieckig, darauf ist ein Schwindeschema, das Wort wird Zeile für Zeile immer kleiner, bis es in der Spitze des Dreiecks nur noch als A existiert. Und so wie das Wort immer mehr reduziert wird, so schwindet auch die Krankheit, angeblich.

Das Wort Abrakadabra ist umstrittener Herkunft, am wahrscheinlichsten scheint ein aramäischer Ursprung zu sein und der führt auf eine äußerst geheimnisvolle Spur:

avrah k’davra:  Ich werde erschaffen, während ich spreche

 

Der kleine Mann im großen Parkhaus, die Friedenskönigin und die Outlaws hinterm Nußbaum.

Es ist sehr warm. Ich versuche, den Ausgang zu finden. Irgendwo in einem der oberen Etagen des Parkhauses, stehe ich und bemühe mich, weder die Taschen, gefüllt mit Handtuch, Büchern und anderen diversen existenziellen Notwendigkeiten, noch den über dem Arm lose hängenden Mantel zu verlieren. In der Nähe rutscht ein kleiner alter Mann vom Fahrersitz eines sehr großen Autos herunter und kommt langsam auf mich zu. Wir suchen gemeinsam die Fußgängerbrücke, die vom Parkhaus über die Straße zum Haupteingang vom Krankenhaus führt. Er geht schwer atmend neben mir her und erzählt mir, daß er leider nicht schneller gehen kann, weil da was ist mit dem Herz und er jetzt in eine Sprechstunde muß. Seine schmächtige Gestalt ist mit teuerem Schwarz eingekleidet, er riecht dezent nach Rasierwasser und die Sonne spiegelt sich in der glänzenden Lederjacke.  Er hält mir alle Türen auf und drückt die Liftknöpfe für mich, spricht zu mir, schaut mich dabei aber nicht an. Im Haupteingang will ich mich von ihm verabschieden, aber er ist bereits im Inneren der großen Klinik verschwunden.

Am Abend zünde ich in der nahen Kapelle eine Kerze an für die, die sie grad dringend brauchen und für mich, die ich hoffe und bange. An der Wand über dem kleinen Altar ist ein großes Spruchband aufgemalt: „Maria, Friedenskönigin, bitte für uns in der Not!“ Darunter steht die Madonna, so gekleidet, wie sie damals von den Kindern in Fatima beschrieben wurde. Ich denke an meinen Vater, der sich ketzerisch darüber aufgeregt hat, ob man denn meint, daß die aus Fatima noch heiliger wäre und mehr ausrichtet dort oben als eine einfache Bauernmadonna von hier, aus dem oberbairischen Alpenvorland. Als ob das nicht überall die gleiche Muttergottes wäre. Sehr tief und schwarz leuchtet es aus den Augen der Heiligen Frau im Kerzenlicht. Ich hatte schon immer ein ganz besonderes Verhältnis zur Frau des Himmels und vor allem zu ihrem Schutzmantel, von dem Sie umgeben ist und unter den man sich flüchten kann, wenn man nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Ich wende mich nicht an sie, damit sie ein gutes Wort beim lieben Gott einlegt. Das Gebet ist die Sehnsucht, Teil der göttlichen Kraft zu sein, die dieser Schutzmantel repräsentiert.

Als die Freundin eine Diagnose bekommt, die ihr den Boden unter den Füssen wegzieht, sage ich zu ihr: Du stirbst nicht an einer Diagnose, wir sterben alle nicht an einer Krankheit, sondern daran, daß wir sterblich sind. Alle. Auch die, die nie krank sind, leben nicht unendlich. Wann wir sterben, wird an ganz anderer Stelle entschieden. Im Himmel. Kurzzeitig hab ich mir gedacht: meine Güte, was redest du denn da … aber jetzt denk ich mir, daß diese Aussage ganz und gar nicht so dumm ist, wie ich befüchtet hatte.  Der rote Willie spaziert laut miauend in die Kapelle und wir gehen mit diesen Gedanken heim. An der Türe dreh ich mich um und blicke in ihre dunkel glänzenden Augen … ich suche Schutz unter Deinem Mantel … und ich komme nicht alleine …  Gegrüßet seist Du Maria.

Im Birkenwipfel hat sich ein halbwegs gerundeter Mond niedergelassen.

Jedes Jahr kommen die wilden Schneeglöckerln. Sicher ist nur, daß sie kommen, wann und wo kann man nicht sagen. Ich würde sie auch keineswegs Frühlingsboten nennen, sie haben einen eigenen Plan, sind schon im tiefsten Januarwinter unter dicker Schneedecke aufgetaucht oder erst im Februar, wenn klimamäßig schon Frühsommer ist, wie heuer. Sie bilden große Flächen oder stehen vereinzelt herum und wechseln die Plätze. Es kann sein, daß sie einen Platz, eine Wiese, auf der sie jahrzehntelang standen, plötzlich verlassen und woanders auftauchen. Heuer kamen sie in großen Scharen oder Rudeln am Hang hinter dem Nußbaum, da waren sie früher nie. Wie sie das machen, ist mir ein Rätsel, sie wachsen aus Zwiebeln und wie sie mit ihren Zwiebeln von einer Wiese zur anderen wandern, bleibt ihr Geheimnis. Auf FB wurde ich zu einem Foto heftig bedrängt von alleswissenden BotanikerInnen, die mir klarmachten, daß ich mit der Bezeichnung Schneeglöckchen komplett danebenliege. Denn was bei uns Schneeglöckchen heißt, sind sogenannte Frühlingsknotenblumen oder Märzenbecher.  Da ich diesbezüglich unbelehrbar bin, hat man von mir abgelassen mit der Bemerkung, man hätte ja schon gehört, daß in Bayern die Uhren anders gingen.  Ich sage, es ist so, daß manches woanders halt einfach anders ist. Unterm Birnbaum wachsen seit vielen Jahren auch einige Büschel von den kultivierten Schneeglöckchen und zwar brav nur da, wo sie damals eingesetzt wurden.

Die anderen, die wilden, sind außerhalb jeglicher Norm und tun, was sie wollen. Sie eignen sich überhaupt nicht für die Vase, kaum stehen sie im Zimmer, ist es schon vorbei mit ihnen. Sie tauchen auf aus dem Nichts, über Nacht, bleiben kurze Zeit da, werden immer größer und verschrumpeln, sie ziehen sich dann in ihre Zwiebeln zurück, die langen Blätter bleiben stehen, bis das Sommergras sie verschluckt. Den Rest des Jahres leben sie praktisch im Untergrund, niemand weiß, was sie da treiben.

Sie passen gut zu uns, unsere Schneeglöckerln, sie sind Outlaws wie wir. Wir sind auch so eine Mischung aus Underdogs, Desperdos und Outlaws.  Wir passen nicht gut in die gängigen Normen, wir leben in einem Haus, das nach altem Holz und Mauerwerk riecht, die Handtücher riechen nach dem alten Bauernkasten, in dem sie liegen und wir leben mit Spinnen, die ihre Fäden über die Dinge ziehen wie im Rilkegedicht die Kreise. Die Bücher führen ihr Eigenleben, bleiben nicht in den Regalen, wandern überall herum wie der Staub. In der Küche wird viel und gut gekocht, die Holzflächen sind fleckig und die Schubladengriffe kleben, wie auch der Boden meistens. Und Kater Willie verteilt großzügig sein rotes Fell überall, vor allem auf schwarzen Hosen. Ums Haus herum wachsen die Rosen, in zwei Gärten wächst Wildnis. In diesem Haus war noch nie genug Geld, so ist es bei uns auch und das Dach war immer schon ein Problem. Wir sind entscheidungsschwach, überhaupt nicht konfliktfähig, keine zum Durchstarten oder zum Anpacken, haben keine Systeme, wie man am besten mit bedrohlichen Krankheiten und überhaupt mit den Erfordernissen des Lebens fertig wird und neigen, ersichtlich an tonnenweise aufbewahrter „Schaddrumms“ zur Vermüllung.

Was es ganz viel und im Übermaß bei uns gibt sind Träume, gutes Essen, guten Apfelmost, Geschichten, Geschichten, Geschichten und Visionen, die nie in die Tat umgesetzt werden.

Egal wie grad die Sorgenlage ist, ich freu mich immer wahnsinnig, wenn die Schneeglöckerln da sind, die Outlaws hinterm Nußbaum.

 

Tanzender Stern

Ozeanische Gefühle…

Wassermann sagt: Ich habe den Menschen auf dieser Welt meine Visionen gebracht, sie wissen jetzt, was zu tun ist. Fische, übernehmt jetzt und schließt den Kreis.

Und die Fische übernehmen den Stab und mit ihm die Sehnsucht aller zwölf Sternzeichen und schwimmen damit hinaus aufs weite offene Meer. Sie gleiten durch die Wasser der Unendlichkeit, alles Feste löst sich auf. Ich löse mich auf, ich bin und ich bin nicht…

Dorthin ins Namenlose führt kein Weg, nichts ist mehr greifbar oder faßbar, es gibt keine Grenzen mehr, alle Konturen verschwimmen in sanften Spiegelungen. Loslassen, geschehen lassen, wirken durch Nichttun … das Ruder wegwerfen und sich vom Meer treiben lassen, wohin das Meer es will … das könnten wir von den Fischen lernen.

Nixen schwimmen heran und verschwinden wieder, sie wissen um die Geheimnisse von Anfang und Ende, Werden und Vergehen. Wer sich diesem grenzenlosen Fließen hingibt kann erfahren, daß jede Form nur Übergang ist.

Der Kreis hat sich geschlossen und sein Ende wird zum Anfang werden, wenn die Zeit reif ist.

Meeresgöttinnen zeigen das Bild einer sich ewig wandelbaren Mutter des Chaos, aus ihr heraus entstehen neue Welten.

 

„Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

(Zarathustra, Friedrich Nietsche)

 

 

# 77 Ein strenges Geschäft.

„Nun ist Einsamkeit an sich schon ein strenges Geschäft.“  (Andreas Glumm)

Mit dem heutigen Beitrag, der die magische Zahl 77 trägt, beenden die Kraulquappe und ich unser Projekt des Schreibens überkreuz. Kaum zu glauben, aber wir machen das jetzt schon über eineinhalb Jahre! So nervig wie das oft war, daß wir praktisch auf Knopfdruck schreiben mußten, so sehr hat es auch für das Schreiben Struktur und Disziplin gebracht. Wir haben uns sozusagen zu einer Disziplin verpflichtet. Aber irgendwann ist es halt auch wieder vorbei, so ein Projekt. Es war ein wundervoll unkompliziertes Zusammensein mit der lieben Kraulquappe, in absolut freier und doch verbundener Arbeit, ein geglücktes und glücklichmachendes gemeinsames Tun.

Und wie das nach jedem erfolgreichen Projekt halt so ist: ich bin froh, wenn die gemeinsame Verpflichtung weg ist, aber gleichzeitig gerate ich in eine Art wehmütige Leere und bin erstmal mit meiner Einsamkeit alleine, wie immer, wenn das Alte weg ist und das Neue noch nicht in Sicht. Vielen lieben Dank an die mutige Kraulquappe, die sich einfach so in dieses Projekt reingeschmissen hat. Wir bleiben uns gewogen und in Verbindung, eh klar, schaumamal, was die Zukunft so bringt. Jetzt heißts erstmal:
Aus is und gar is und schad is, daß wahr is.

Ich wollte mir heute den letzten Bundestag vor der Wahl anschauen, hab es aber nicht lange ausgehalten, die Gemeinheiten, die Häme, die Hetze, dieser offene Haß und der spürbare gegenseitige Vernichtungswille, all das, was man sich gegenseitig an den Kopf warf … keine Spur von Freundlichkeit und Zuversicht, nach der Wahl, wenn auch nicht gleicher Meinung, so doch in die gleiche Richtung blickend die Regierung zu gestalten, sondern nur Gehacke. Unglaublich. Nur wenige behielten die Fassung, einer davon Robert Habeck, der in seiner Rede ruhig blieb und das sagte, auf was es ihm ankommt und sich nicht dazu verleiten ließ, trotz der Ärgernisse Stil und Kinderstube zu verlieren. Ich schätze ihn sehr, und das, was er sagt und was er tut und auch seine Partei entspricht  sehr  meinem Denken und ich fühle mich absolut gut von ihnen vertreten. Fehler gestehe ich zu, es sind Menschen.

Jetzt wird es wohl nochmal ziemlich schlimm werden in den nächsten eineinhalb Wochen. Mit dem ganzen Geschimpfe und dieser ewigen Kritisiererei und diese andauernden Schuldzuweisungen mag ich nichts mehr zu tun haben, ich habe schon gewählt in Respekt und Achtung vor denen, die mich im Bundestag vetreten sollen und im Vertrauen darauf, daß sie ihr Bestes geben.

Und überhaupt mag ich nicht ständig darauf warten, daß der Staat alle Probleme löst, der Staat sind wir selbst und wir müssen halt die Hände aus den Hosentaschen nehmen und selber was tun, und es gibt viel zu tun für jede n von uns. Wir können uns organisieren und in die Altersheime gehen, und uns um das Wohlergehen der dort Vergessenen kümmern, um die Kinder, die keiner braucht und die in den Heimen verlorengehen, wie die Tiere in den Tierheimen oder wenn wir einfach zum Nachbarn gehen, der seine kranke Frau pflegt und kleine Kinder hat und in die Arbeit gehen muß … was wäre dabei, zu sagen: ich habe Zeit, was kann ich tun?

Jedesmal, wenn ich im Altersheim bin, denke ich mir, daß sich über kurz oder lang das Heim verändern täte, wenn wir viele wären, die sich um Menschen kümmerten, auch wenn sie ihnen erstmal fremd sind … “ es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ … ist es nicht so, immer noch und immer wieder? Es wurde mir schon oft vorgeworfen, ich sei so eine arme irre unverbesserliche Humanistin, so würde es auf der Welt nun einfach nicht funktionieren.  Niemand kann aus seiner Haut, ich auch nicht und wenn ich ein paar Leute finden täte, die mitmachen, dann würde ich so eine Art Besuchskreis gründen für alle Einrichtungen, in denen lebende Geschöpfe verlorengehen … ich habe schon so viel gegründet in meinem Leben. Mit manchem bin ich jämmerlich bis grandios gescheitert, aber mancherort habe ich Spuren hinterlassen, immerhin, und direkt verloren war kein Versuch, die Welt zumindest ein bisserl zu einem besseren Ort zu machen, auch wenn in meinem löwischen Größenwahn immer die Komplett – Rettung geplant war.

Oje, es ist schon weit nach Mitternacht, das Dorf schläft lange schon, nur bei mir ist noch Licht. Allen, die grad verzagt sind oder einfach einen schönen und liebenswürdigen Film sehen möchten, der leicht und hell ist und doch Seelentiefe hat, ich hab ihn heute zum fünften Mal angesehen und werde es sicher noch öfters tun:

„Glück auf einer Skala von 1 bis 10“  ist der Titel des franz./schweiz. Films , er läuft noch bis zum 3. März auf auf ARD – Mediathek!

„Es war mild, der Kaffee hatte mich aufgewärmt, und durch die offene Tür drang ein Duft von Nacht und von Blumen.“   ( Albert Camus: Der Fremde)

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

 

# 76 Songlines

Abschied
Eines Nachts, als der Sommer am tiefsten war, zog ich die Tür hinter mir zu und ging los, so geradeaus wie möglich nach Osten. Berlin war ganz still an diesem frühen Morgen. Alles, was ich hörte, war das Pochen der eigenen Schritte auf den Dielen, dann auf Granit. Eine Süße lag in der Luft, das waren die Linden, und Berlin lag wach, aber es hörte mich nicht. Es lag wach wie immer und wartete wie immer und hing wirren, gewaltigen Träumen nach, die aufblitzten wie das Wetterleuchten dort über dem Häusermassiv. Es hatte geregnet die Nacht, ein Bus fuhr vorüber, seine Rücklichter zogen rote Spuren über den nassen Asphalt. Verkehr kam auf, in den Alleen schrieen die Vögel, zitternd sprang die Stadt an, bald würden Angestellte in breiter Formation in ihre Büros fahren. Damit hatte ich nichts mehr zu tun.

aus: „Berlin – Moskau
Eine Reise zu Fuß“
von:   Wolfgang Büscher
rororo 2003

Das Buch kam heute mit der Post, ich habe es ausgepackt und aufgeschlagen und wusste nach den ersten Zeilen, daß ich auch auf diesem Weg, den Wolfgang Büscher vor zwanzig Jahren abgeschritten hat, hinter ihm hertrotten würde wie ein streunender herrenloser Hund, der einer Fährte folgt. Und ich folge dabei nicht erstrangig seinen Stiefeln auf fremden Straßen, nicht den Abenteuern, die er erlebt, wahrscheinlich nicht mal seiner Person. Ich kann das nicht näher beschreiben, aber es ist die Poesie seiner Sprache, der ich folge. Mit dem ersten Satz beginnt der Weg, der sich Wort für Wort weiter fortsetzt wie Lichtzeichen von einem fremden Stern oder wie eine Melodie, die sich von selbst weiterspielt. Ich sehe es nicht und höre auch keine Musik und trotzdem ist es so. Bruce Chatwin hat über die Traumpfade geschrieben, niemand kann sie erklären und doch sind sie da. Ich folge den Traumpfaden der Sprache, des geschriebenen Wortes schon lange. Ich kann sie  weder sehen noch riechen oder hören, aber ich spüre sie. Ich habe mit W.G. Sebald England mit Linien überzogen, bin J.L.Borges ins Labyrinth gefolgt, mit Bruce Chatwin nach Patagonien, wo in dieser Höhle das Fell von einem uralten Wesen verborgen war und bin mit Werner Herzog nach Paris gegangen, eine Linie, die den Tod überwinden konnte.

Von Wolfgang Büscher habe ich „Ein Frühling in Jerusalem“ gelesen und irgendwann mitten in seinem Text habe ich sie gespürt: die Songline der drei Frauen, oder waren es mehr und seitdem möchte ich genau dorthin, wo sie waren und noch sind …  diese Frauen.

Seit diesem Buch bin ich seiner Sprache gefolgt und mit ihm durch Deutschland gegangen und um das Holzhaus im Wald geschlichen und jetzt werde ich ihm folgen nach Moskau, lange bevor der schreckliche Krieg so viele Menschen in Tod und Verderben gestürzt hat. Und dann werde ich nach Amerika reisen, durch das Hartland und durch Asien und … nicht zu vergessen, das neue Buch über seinen Weg durch die Wüste.

Auf meinem Tisch liegen mindestens zwanzig ungelesene wunderbare Bücher, die Lettre mit einem hochinteressanten Text über Patti Smith und W.G.Sebald, es wird langsam eng, kaum haben noch Teekanne und Tasse Platz, aber alles muß warten, denn ich bin unterwegs nach Moskau mit Wolfgang Büscher, dem ich hiermit nochmal herzlich danke, daß ich aus dem Buch zitieren durfte!

Ihr könnt es gerne Leidenschaft für Sprache nennen oder auch sagen, daß ich spinne, beides würde ich nicht ausschließen, aber ich sage, ein paar wenigen gelingt es, mit ihrer Sprache Songlines zu schaffen, auf denen man reisen kann, wenn man den Mut hat, sich treiben zu lassen. Da ich eine Träumerin bin …

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 75 „Bin ich der einzige der so lebt?“ (Charles Bukowski)

Der Föhn, der mit seiner falschen Wärme in den letzten Tagen verlogene Frühlingsgefühle in Mark und Bein säuselte, hat sich in kalten Sturm verwandelt und ist zusammengebrochen. Sturzbäche fallen vom Himmel, die genauso grau daherkommen wie die  darauffolgenden Schneeflocken und wie überhaupt der ganze Tag.

Ich liebe diese grauen, naßkalten Tage im Januar und daß sie so schonungslos wahrhaftig die ehrliche Häßlichkeit ringsherum zeigen, bevor die Welt wieder mit dem sogenannten Schönen geschmückt wird, das aus großen Containern farbenprächtige Wegwerfblumen über dem Land auskippt und allerorten für Verhübschung sorgen soll.

Ich lasse mich treiben, tief in das Grau hinein und wären da nicht meine roten Strümpfe, so würde ich mit dem Hintergrund verschmelzen und verlorengehen.

Neben mir liegen „439 Gedichte“ ( Zweitauseneins) von Bukowski. Als ich das Buch betrete wie eine seltsam vertraute und doch fremde Welt und herumgehe in den Geschichten aus seinem Leben ist es früher Nachmittag, mit Müh und Not finde ich wieder heraus bei völliger Dunkelheit. Es ist Nacht geworden darüber. Ich kann jetzt verstehen, warum dieses Buch bei Menschen auf dem Nachtkästchen liegt, um jederzeit in schweren Nächten sich aufrichten zu lassen von dieser schonungslos ehrlichen Poesie der Straße, der Existenz nicht nur am Abgrund sondern mittendrin im Dreck … und dann dieser leise Humor, der genau dort, wo es absolut nichts mehr zum Lachen gibt, sich darüber erhebt und, so gut es halt geht, den Rücken aufrichtet und sich einen Jux macht aus dem ganzen Wahnsinn dieser Welt. Ja, lieber Mr. Bukowski, selbstverständlich müsste man Gott dringend fragen, warum er in München herumhockt und grünes Bier trinkt!

 

Und hier schreibt die Kraulquappe