Es ist sehr warm. Ich versuche, den Ausgang zu finden. Irgendwo in einem der oberen Etagen des Parkhauses, stehe ich und bemühe mich, weder die Taschen, gefüllt mit Handtuch, Büchern und anderen diversen existenziellen Notwendigkeiten, noch den über dem Arm lose hängenden Mantel zu verlieren. In der Nähe rutscht ein kleiner alter Mann vom Fahrersitz eines sehr großen Autos herunter und kommt langsam auf mich zu. Wir suchen gemeinsam die Fußgängerbrücke, die vom Parkhaus über die Straße zum Haupteingang vom Krankenhaus führt. Er geht schwer atmend neben mir her und erzählt mir, daß er leider nicht schneller gehen kann, weil da was ist mit dem Herz und er jetzt in eine Sprechstunde muß. Seine schmächtige Gestalt ist mit teuerem Schwarz eingekleidet, er riecht dezent nach Rasierwasser und die Sonne spiegelt sich in der glänzenden Lederjacke. Er hält mir alle Türen auf und drückt die Liftknöpfe für mich, spricht zu mir, schaut mich dabei aber nicht an. Im Haupteingang will ich mich von ihm verabschieden, aber er ist bereits im Inneren der großen Klinik verschwunden.
Am Abend zünde ich in der nahen Kapelle eine Kerze an für die, die sie grad dringend brauchen und für mich, die ich hoffe und bange. An der Wand über dem kleinen Altar ist ein großes Spruchband aufgemalt: „Maria, Friedenskönigin, bitte für uns in der Not!“ Darunter steht die Madonna, so gekleidet, wie sie damals von den Kindern in Fatima beschrieben wurde. Ich denke an meinen Vater, der sich ketzerisch darüber aufgeregt hat, ob man denn meint, daß die aus Fatima noch heiliger wäre und mehr ausrichtet dort oben als eine einfache Bauernmadonna von hier, aus dem oberbairischen Alpenvorland. Als ob das nicht überall die gleiche Muttergottes wäre. Sehr tief und schwarz leuchtet es aus den Augen der Heiligen Frau im Kerzenlicht. Ich hatte schon immer ein ganz besonderes Verhältnis zur Frau des Himmels und vor allem zu ihrem Schutzmantel, von dem Sie umgeben ist und unter den man sich flüchten kann, wenn man nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Ich wende mich nicht an sie, damit sie ein gutes Wort beim lieben Gott einlegt. Das Gebet ist die Sehnsucht, Teil der göttlichen Kraft zu sein, die dieser Schutzmantel repräsentiert.
Als die Freundin eine Diagnose bekommt, die ihr den Boden unter den Füssen wegzieht, sage ich zu ihr: Du stirbst nicht an einer Diagnose, wir sterben alle nicht an einer Krankheit, sondern daran, daß wir sterblich sind. Alle. Auch die, die nie krank sind, leben nicht unendlich. Wann wir sterben, wird an ganz anderer Stelle entschieden. Im Himmel. Kurzzeitig hab ich mir gedacht: meine Güte, was redest du denn da … aber jetzt denk ich mir, daß diese Aussage ganz und gar nicht so dumm ist, wie ich befüchtet hatte. Der rote Willie spaziert laut miauend in die Kapelle und wir gehen mit diesen Gedanken heim. An der Türe dreh ich mich um und blicke in ihre dunkel glänzenden Augen … ich suche Schutz unter Deinem Mantel … und ich komme nicht alleine … Gegrüßet seist Du Maria.
Im Birkenwipfel hat sich ein halbwegs gerundeter Mond niedergelassen.
Jedes Jahr kommen die wilden Schneeglöckerln. Sicher ist nur, daß sie kommen, wann und wo kann man nicht sagen. Ich würde sie auch keineswegs Frühlingsboten nennen, sie haben einen eigenen Plan, sind schon im tiefsten Januarwinter unter dicker Schneedecke aufgetaucht oder erst im Februar, wenn klimamäßig schon Frühsommer ist, wie heuer. Sie bilden große Flächen oder stehen vereinzelt herum und wechseln die Plätze. Es kann sein, daß sie einen Platz, eine Wiese, auf der sie jahrzehntelang standen, plötzlich verlassen und woanders auftauchen. Heuer kamen sie in großen Scharen oder Rudeln am Hang hinter dem Nußbaum, da waren sie früher nie. Wie sie das machen, ist mir ein Rätsel, sie wachsen aus Zwiebeln und wie sie mit ihren Zwiebeln von einer Wiese zur anderen wandern, bleibt ihr Geheimnis. Auf FB wurde ich zu einem Foto heftig bedrängt von alleswissenden BotanikerInnen, die mir klarmachten, daß ich mit der Bezeichnung Schneeglöckchen komplett danebenliege. Denn was bei uns Schneeglöckchen heißt, sind sogenannte Frühlingsknotenblumen oder Märzenbecher. Da ich diesbezüglich unbelehrbar bin, hat man von mir abgelassen mit der Bemerkung, man hätte ja schon gehört, daß in Bayern die Uhren anders gingen. Ich sage, es ist so, daß manches woanders halt einfach anders ist. Unterm Birnbaum wachsen seit vielen Jahren auch einige Büschel von den kultivierten Schneeglöckchen und zwar brav nur da, wo sie damals eingesetzt wurden.
Die anderen, die wilden, sind außerhalb jeglicher Norm und tun, was sie wollen. Sie eignen sich überhaupt nicht für die Vase, kaum stehen sie im Zimmer, ist es schon vorbei mit ihnen. Sie tauchen auf aus dem Nichts, über Nacht, bleiben kurze Zeit da, werden immer größer und verschrumpeln, sie ziehen sich dann in ihre Zwiebeln zurück, die langen Blätter bleiben stehen, bis das Sommergras sie verschluckt. Den Rest des Jahres leben sie praktisch im Untergrund, niemand weiß, was sie da treiben.
Sie passen gut zu uns, unsere Schneeglöckerln, sie sind Outlaws wie wir. Wir sind auch so eine Mischung aus Underdogs, Desperdos und Outlaws. Wir passen nicht gut in die gängigen Normen, wir leben in einem Haus, das nach altem Holz und Mauerwerk riecht, die Handtücher riechen nach dem alten Bauernkasten, in dem sie liegen und wir leben mit Spinnen, die ihre Fäden über die Dinge ziehen wie im Rilkegedicht die Kreise. Die Bücher führen ihr Eigenleben, bleiben nicht in den Regalen, wandern überall herum wie der Staub. In der Küche wird viel und gut gekocht, die Holzflächen sind fleckig und die Schubladengriffe kleben, wie auch der Boden meistens. Und Kater Willie verteilt großzügig sein rotes Fell überall, vor allem auf schwarzen Hosen. Ums Haus herum wachsen die Rosen, in zwei Gärten wächst Wildnis. In diesem Haus war noch nie genug Geld, so ist es bei uns auch und das Dach war immer schon ein Problem. Wir sind entscheidungsschwach, überhaupt nicht konfliktfähig, keine zum Durchstarten oder zum Anpacken, haben keine Systeme, wie man am besten mit bedrohlichen Krankheiten und überhaupt mit den Erfordernissen des Lebens fertig wird und neigen, ersichtlich an tonnenweise aufbewahrter „Schaddrumms“ zur Vermüllung.
Was es ganz viel und im Übermaß bei uns gibt sind Träume, gutes Essen, guten Apfelmost, Geschichten, Geschichten, Geschichten und Visionen, die nie in die Tat umgesetzt werden.
Egal wie grad die Sorgenlage ist, ich freu mich immer wahnsinnig, wenn die Schneeglöckerln da sind, die Outlaws hinterm Nußbaum.