Archiv für den Monat: Mai 2015

Leopoldine und Herr Ritz

Es wurde später nie über sie gesprochen, sie wurden „zugewiesen“, das heißt, jeder Haushalt musste welche nehmen, sie wohnten wohl ein paar Jahre bei uns, dann starben sie und wurden vergessen. Keine Spuren haben sie hinterlassen, ein paar wenige Fotos sind von ihnen übriggeblieben und eine Art Gesellenbrief, und ein Poesiealbum, sonst nichts, auch kein Grab, das wurde bald aufgelöst, als mein Vater nicht mehr bezahlen konnte. Aber ich weiß noch, wo das Grab war und ich stelle hin und wieder eine Kerze auf die leere Fläche im Friedhof, dort, wo sie begraben sind, unsere „Flüchtlinge“. Diese Ausdrucksweise ist mir unangenehm, ich empfinde es als demütigend, so von Menschen zu sprechen, die verjagt worden sind.

Leopoldine Ritz, und ihr Bruder, von dem nicht einmal der Vorname bekannt ist, weil sie immer „Herr Ritz“ zu ihm sagte, müssen kurz nach Kriegsende zu uns gekommen sein, sie wurden bei uns im „Stübel“ untergebracht, das ist in einem alten Bauernhaus wie dem unsrigen die Kammer gegenüber der Stube, wo sich das Leben abspielte, dazwischen liegt der Hausgang. Mittels einer sehr gewagten Ofenrohrkonstruktion und eines alten, rauchenden Ofens wurde das Stübel mehr schlecht als recht beheizbar gemacht, auch haben sie selber gekocht darauf. Mein Vater sagte, sie hätten schon recht armselig bei uns  gehaust. Ich kann mich nur noch sehr undeutlich erinnern daran, daß „die Poldi“ mir ziemlich unsanft die Haare kämmte, sie passte auf mich auf, fuhr mich mit dem Kinderwagen spazieren, aber das war schon Mitte der Fünfzigerjahre, der Herr Ritz war schon verstorben und als ich 1959 eingeschult wurde, da war die Poldi auch schon lange tot.

Wie haben sie damals nur alle miteinander gelebt? Meine Großeltern waren ja auch im Haus, ungefähr gleichaltrig wie die Geschwister Ritz. Der Herr Ritz hat wohl nie das Stübel verlassen, saß immer auf dem Sofa Jahr und Tag. Haben sie denn überhaupt miteinander gesprochen? Ich glaube nicht. Meine Mutter, die Hausherrin, von den Eltern meines Vaters weder erwünscht noch gemocht, sie war ja auch einFremdling, und geredet wurde eh nicht viel. Und dann noch diese Not, der kleine Hof hat nichts abgeworfen, es gab nie genug Holz zum Heizen, Großvater und Vater mussten zusätzlich arbeiten gehen und die Frauen mochten sich nicht sehr und schon gar keine Fremden wollte man im Haus. Mein Vater schimpfte auch, wie alle, über diese „Flüchtlingsweiber“, vor allem die bei unseren Nachbarn, die sich Gänse hielten, die sie mit Kartoffeln stopften um ihnen dann, wenn sie fett genug waren, mit angeblich stumpfen Messern weißgottwielang die Krägen durchzusäbeln, langsam und qualvoll. Meine Güte, ja, grausig, und keiner hat aber was unternommen, vielleicht hätte ja mal wer das Messer schleifen können. Naja, aber das war halt so „bei denen“. Ach, die waren auch nicht schlimmer als der reiche Wirt, der als Metzger zum Nachbarn kam und die Schweine ewig schrieen, bis er sie endlich abgestochen hatte, diese Schreie verfolgen mich ein Leben lang.

Untereinander hatten sie anscheinend keinen Kontakt, die Verjagten. Ein gemeinsames Schicksal macht noch lang keine Freundschaften.

Heute sitze ich manchmal im Stübel im alten Haus und schau mir das Foto an vom Herrn Ritz und frage mich heute, erst heute, selber eine Alte werdend, wie es ihm denn so ergangen sein muß, was hat er gelesen, wer war er denn, von ihm weiß ich gar nichts, schade, ich sehe das Bild eines gepflegten alten Herrn mit gescheiten und ein wenig traurigen Augen. Seine Schwester konnte wenigstens das Zimmer verlassen, aber er, was hat er gemacht, die langen Tage und Nächte, an einem Ort, wo er hingejagt wurde und nur gezwungenermaßen geduldet? Nichts weiß ich, nichts, gar nichts. Geboren und gelebt haben beide in Neutitschein. Ein verblichenes Poesiealbum existiert noch, keinen hat es interessiert, ob ich meine Kinderkritzeleien dort hinein schmierte, sie hatten andere Probleme wahrscheinlich, wir mussten irgendwie überleben.

Ich zünde eine Kerze an im Stübel, dort, wo der kleine Tisch stand und der armselig geflickte Teppich lag, auf den Herr Ritz die Füsse in den peinlich sauberpolierten Schuhen stellte, sitzend auf dem Sofa. Heimat. Fremde. Heimat.

Längst sind alle Spuren verweht, auch wir werden verwehen über kurz oder lang und doch hänge ich jetzt endlich die Bilder der Verjagten auf hier in diesem alten Haus, wo sonst.

Heimat. Fremde. Heimat.

 

Ritz-Pass

 

Ritz-Foto2

 

Ritz-Foto

Anders Petersen

Im Stadtmuseum in München ist gerade eine Retrospektive der Arbeiten von Anders Petersen zu sehen, einem der wirklich und wahrhaftig Großen der zeitgenössischen Fotografie. Nachdem es wochenlang geregnet hat, tat sich am Pfingstsonntag für ein paar Stunden der Himmel auf und die Sonne kam, genau zu dieser Zeit waren wir in der Ausstellung, aber es hat sich gelohnt. Die Wahrhaftigkeit dieser Bilder, dieser Blick, schonungslos in die Wunde gerichtet, das rohe Fleisch zeigend, da gibt es keine Masken mehr und keine Ausreden, das, was ist, ist wirklich so. Ungebremst kam ungefilterte Wahrheit auf mich zu, drang in mich ein bis in den hintersten Seelengrund und die Konfrontation mit fremden Bildern war längst mit den eigenen inneren Gesichtern verschmolzen.
Der schmerzenden Wahrhaftigkeit dieser Bilder entströmt eine behutsame Zartheit, eine mitfühlende Liebe…
Eine unglaublich intensive Ausstellung, der Künstler spiegelt sich in der Welt und die Welt spiegelt mich mir zurück…ein wirkliches Erlebnis.
Ein paar Worte von Anders Petersen hängen an der Wand:
Er sagt, daß er für gute Fotografien, also für die richtige Distanz mit einem Fuß im Thema und mit dem anderen draussen stehen muß – sein Problem sei aber, daß er immer mit beiden Füssen drinsteht…ja, das Gefühl hatte ich beim Anschauen seiner Bilder auch!
Und was mir noch sehr durch den Kopf geht, ist , daß seiner Meinung nach ein Bildnis nicht nur den anderen, sondern möglichst einen selbst darstellen sollte, seine Arbeiten wären also Selbstbildnisse…er findet das sehr interessant, ja, ich auch, denn in der Betrachtung entsteht ja dann für mich aus seinem Selbstbild mein eigenes, ich sehe mich in ihm…oder so ähnlich, nicht wahr?
Aber ich möchte da nicht noch mehr Worte drumherum machen, die Fotos können nur durch Ansehen zur Offenbarung werden. Die Ausstellung läuft bis Ende Juni.

www.muenchner-stadtmuseum.de

www.anderspetersen.se

Schattenspiel

Das Buch „Unruhestifter“ von Fritz J. Raddatz jetzt ausgelesen.

Ein ganzes Leben vor mir ausgebreitet, begehbar wie ein Labyrinth aus Steinen, gelegt an irgendeinem Strand, der mir unbekannt ist, vielleicht auf Sylt, auf „seinem“ Sylt,  das Meer spür- und hörbar, der Wind fährt mir in die Haare, über mir und durch mich hindurch kreisen klagende Möwen, das große Wasser ist wie es immer ist, es rollt vorwärts und rückwärts und manchmal scheint es stillzustehen.

Und so betrete ich das Labyrinth, von dem es heißt: „Auf die Mitte weise den Umherirrenden hin“! Ich begegne den Großen der Literatur, erlebe das, was auch meine Existenz maßgeblich beeinflusst: die Liebe zum geschriebenen Wort. Verirre mich in Ränkeschmieden, Konkurrenzgebaren, politischen Verstrickungen, einer geht mit auf diesem Weg, ein Schatten unter Schatten, brillianter Literat, voller Leidenschaft an der Rede, schnell, schnell, wir rasen, nach allen Seiten befreundet, nach allen Seiten verfeindet, zu tiefer Liebe fähig und doch überall Unruhe stiftend, große Erfolge, vielen Hilfe gebend und mit Häme überschüttet…weiter, weiter, rasend schnell…fast schon hinein in die Erlösung versprechende Mitte, da müssen wir nochmal ganz hinaus an den Rand, ein paar mal wieder von Vorne beginnen, so sieht es aus…wieder weiter und weiter durch tiefe Freundschaften, Gespräche, in die einer sein ganzes Sein werfen kann, in denen es Antworten gibt obwohl im Kopf sich noch gar keine Fragen herausgebildet hatten…Zeit, viel Zeit für Freundschaften inmitten von permanenter Zeitlosigkeit, in der Lebenshetze Inseln, Schlösser der Glückseligkeiten, wunderbare Abendessen, wunderbare Gespräche immer wieder. Ich traue mich nicht, nachzusinnen, wie lange es wohl her ist, daß sich wer für meine innersten Gefühle, meine Gedanken zum Lauf der Welt, wann mich überhaupt mal wer fragt, was ich über irgendwas denke…aus reinstem Interesse und mit der verfügbaren Zeit, abwarten zu können, bis ich es ausformuliert habe und – den Ball auch zurückzuwerfen? Nein, nicht nachdenken, weitergehen durch fremde Freundschaften, große Karriere im Literaturbetrieb, Begegnungen mit Augstein, Grass, Ledig-Rowolt, Tucholsky usw. usw. viel lesen, viel schreiben, viel sprechen –  mit dem vorauseilenden Schatten…

Endlich – die Mitte! Dort , in den Sand gekratzt ein Satz von Fernando Pessoa, er nennt sich ein „Buchwesen“ und sagt vom „gelesenen Leben“:

„Was ich fühle, wird, ohne daß ich das wollte, gefühlt, damit aufgeschrieben werden kann, daß es gefühlt worden ist. Was ich denke, steht sogleich in Worten da, untermischt mit Bildern, die es zerstören, ausgebreitet in Rhythmen, die etwas anderes sind. Über der Mühsal, mich selber wieder zusammenzusetzen, habe ich mich zerstört.“

Was kann nach der Mitte noch kommen? Der Weg geht da wieder hinaus, wo wir hereingekommen sind. Sind wir durch ein Buch gegangen oder durch ein Leben? Tagebücher hat er noch hinterlassen, erst als diese Arbeit beendet war, sagte er öffentlich, sein Leben sei jetzt „ausgeschritten“, das haben doch alle gehört, wo waren die Freunde, die Lieben seines Lebens, warum zog ihn denn niemand vom Abgrund weg, so wie er es unzählige Male bei anderen gemacht hat? Wie wenig wissen wir voneinander, wie wenig können wir tun, um einen davor zu bewahren, daß er in die Schweiz fahren muß, um dort den Schierlingsbecher zu trinken? Wie wenig. Ich meine, schon in diesen Erinnerungen, die er ja vor über zehn Jahren schrieb, zwischen den Zeilen eine Traurigkeit zu spüren, so wie ein kühler Hauch an einem lauen Abend…ein wenig hat es mich da und dort gefröstelt in der Schilderung dieses übervollen Lebens…

Das Labyrinth ist wieder geschlossen, der Schatten bleibt kurz stehen und scheint mir zum Abschied zuzuwinken, bevor er im Meer verschwindet.

Seien Sie gegrüßt, Fritz J. Raddatz, wo immer Sie jetzt sind, es war mir eine Ehre, mit Ihnen durchs Labyrinth zu schreiten!

„Der Mensch, den Schatten schon erregen, empfindet immerfort als Last, daß seiner Unrast er erlegen“. Paul Wunderlich übergab dieses Zitat von Baudelaire seinem Freund, weil er ihn erkannte.

 

 

er – Innern

Erinnern:  althd.  „innaro“ : inwendig

Wie weit geht Erinnerung zurück, über unser Leben hinaus? Wenn wir doch in unserer DNA das Erbgut der gesamten Menschengeschichte gespeichert haben, dann tragen wir die „Erinnerung“ an alles in den Genen mit uns herum. Manchmal gibt es diese visionären Erlebnisse, rätselhafte Deja-vu, unerklärliches Wiedererkennen von Orten, Gestalten, Begegnungen…

Manchmal fällt mir was ein, es fällt in mich hinein oder er – innere ich es? Es gibt in der Bayrischen Sprache eine Redewendung, die heißt: Etwas  „inner werden“, nur sehr unzulänglich in Schriftdeutsch mit „erfahren“ übersetzt. Wenn ich was „inner werde“ oder was „er – innere“, dann hat es was mit Innen zu tun, ganz egal, woher es kommt.

Aus dem kleinen Wäldchen, in dem wir meinten, nach einem verplauderten Abend noch schnell eine Walpurgisfeier veranstalten zu können, wurden wir vertrieben von einem heftigen Sturm, der förmlich aus dem Nichts bei sternenklarer Nacht über uns herfiel, begleitet von einem Nebelschwaden, der wie eine leckende Zunge sich um uns schlängelte…es wird einfach nichts, wenn man meint, man dürfe auch halbherzig und weil doch so eine magische Nacht ist, durch die dünnen Schleier der Welten…nein, nur wer reinen Herzens ist, heißt es doch im Märchen, der findet die Schätze…man findet nur das vor, was man mitbringt, nur dann wird man was „Inner“ !

Sie scheinen mir zu folgen,  in gebührlichem Abstand, wie viele weiß ich nicht, und sie kreuzen immer wieder meine Wege und machen sich bemerkbar, und immer wieder zeigen Namen an, daß sie da sind!

Walpurgis:

Walburg, die Sybille, eine Seherin.

Die Große Vala, Göttin Hel, Herrscherin des Totenreiches

In Niederösterreich und Böhmen erscheint Walpurga als Weiße Frau (Sonnengöttin), mit feurigen Schuhen (Erdwärme), goldener Krone (Sonne), Spiegeln(Seelenspiegel, Auferstehung), Spindel (Spinnen des Schicksals), Sie wird gefeiert in der letzten Nacht der dunklen Jahreshälfte.

Völva, die Seherin, wichtigstes Attribut: „Walus“, der Stab.

Die „Völuspa“ (isl.), die Weissagung der Seherin, in der „Edda“, berichtet von Frauen, die weissagend über das Land zogen, zu dritt, zu zwölft, eine allein…

Ich sehe sie vor mir gehen, mit langen, nachtblauen Mänteln, sie gehen auf weiter Ebene, die Stäbe funkeln im Mondenschein und der Mond ist rot. Waren es Feen, Göttinnen, weise Frauen, Heilerinnen, ganz sicher waren es „Sehende“…sind sie ausgedacht, gab es sie wirklich, entspringen sie Sehnsüchten, oder waren sie schon immer da, gehen mit uns durch den Kreis des Lebens aber wir sehen sie nicht mehr? Alles bleibt nur Fragment und doch gehen sie vor mir, manchmal folgen sie mir, ich bin sie „inner“ geworden, sie möchten, daß wir uns an sie er – innern, schwer, sie zu verstehen, denn sie haben weder Körper noch Stimme, wir müssen das  Horchen mühsam lernen, vielleicht hat Erinnern mit Nach- innen-horchen zu tun. Irgendwas haben sie vor mit mir, was soll ich wissen? Ich bin bereit.

Herzlichen Dank an Monika Philip und ihre sehr gute Seite „Altes Wissen im Jahreskreis“, für das Verwendendürfen von „sachdienlichen“ Hinweisen zu Walpurgis und sicher auch zu den Wölfischen Tänzen an Sommersonnwend!