Archiv für den Monat: August 2016

Der Cowboy

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Lieber Wolfi, viele Jahre hat mein Vater immer mal wieder gesagt: „Was wohl aus dem Cowboy geworden ist?“ Aber da warst Du ja schon längst erwachsen und wir hatten uns komplett aus den Augen verloren.

Als wir die Jugendwohngruppe 1988 gegründet haben, kam ein dünnes, blasses Bürschchen daher, blond und blauäugig mit einem Cowboyhut, der wohl ein Stetson sein sollte auf dem Kopf und Cowboystiefel an den Füssen. Wolfi, hast Du die denn jemals ausgezogen? Du bist mit ihnen die Berge hoch gerannt, barfuß in den Stiefeln, und alle paar Meter eine Kippe rauchend, in den Augen diese strahlende Lebenslust, und so eine große Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer. Du warst der Boss der Truppe, eindeutig, intellektuell, ein wenig verschlagen, immer fast ehrlich, aber nie so ganz, Du weißt schon, was ich meine, nicht wahr? Was innen sich so abspielte in Dir konnte ich nie ganz rauskriegen.

Wenn ich Dienst hatte, saßen wir halbe Nächte herum und hörten alte Country- und Westernsongs aus Deiner Sammlung, was wir gesprochen haben…ich hab es vergessen…aber wenn ich zurückdenke, sehe ich gewaltige Sonnenuntergänge im Kopf und meine, wir wären an einem Lagerfeuer in den Rocky Mountains gesessen, und hätten aus einer verbeulten Pfanne gebackene Bohnen gelöffelt.

Einmal, weißt Du noch, Wolfi, da saßen wir abends daheim, ich nähte Vorhänge und Du hast ferngesehen, es lief „Der Shut“ von Karl May, da kam der Anruf aus dem Jugendzentrum, in dem die übrige Truppe den Abend verbrachte:

„Bitte komm schnell, es fließt Blut, die lassen uns nicht weg hier!“

Weißt du noch Wolfi, Du hast es später tausendmal erzählt: ich mit schwarzem Trainingsanzug, in Hausschuhen und Du neben mir mit klackernden Stiefeln und Stetson am Kopf, stiegen wir vom Pferd und betraten das Haus…eine Gasse bildete sich…wie wir da hineingingen muß mächtig Eindruck hinterlassen haben, wir holten schweigend unsere Leute raus, stiegen auf die Pferde und ritten in die Nacht davon.

Noch vor ein paar Jahren, als wir uns das letzte Mal sahen, da hast Du mir gesagt, wie Du mich in jener Nacht bewundert hättest, ich hätte so eine Macht ausgestrahlt…ach Wolfi, und nicht mal da hab ich Dir sagen können, welch großen Schiß ich hatte damals vor diesen Schlägertypen und wie froh ich war, Deinen „Marshall-Blick“ neben mir zu wissen..

Vor mehreren Jahren, als wir uns trafen, weil einer von Euch sich in der Zelle eines Gefängnisses erhängt hatte und wir zusammenkamen, um an ihn zu denken, da warst Du schon weit über dreissig Jahre alt und hattest Dich endlich geoutet. Du warst damals, mit 17 schon stockschwul, Wolfi, aber erst zwanzig Jahre später, nach unzähligen sinnlosen Gesprächen und gebrochenen Mädchenherzen, hast Du Dich endlich dazu bekannt und es gelebt.

Damals hast Du was zu mir gesagt, was ich nicht mehr vergessen konnte, und jetzt, Wolfi, wo Du tot bist, noch viel weniger. Du hast gesagt: „Du warst meine richtige Mama!“ Ich hab das abgetan, konnte nichts damit anfangen, daß Du so um mich herumscharwenzelt bist, meine Güte, Wolfi, ich war so blöd, das Glitzern in Deinen Augen war nur zum Teil von den Drogen, die Du damals schon eingeworfen hast, da war noch was anderes…so ein Brennen und Sehnen, so ein Kinderblick voller Liebe und Traurigkeit…ich habs nicht erkannt, Wolfi, damals nicht, heute schon.

Ja, Du hattest es ernst gemeint, ich war Deine richtige Mama. Grad ich, die ich immer meine, alles sehen zu können, war so blind…wäre alles anders gekommen, wenn ich Dich in den Arm genommen hätte wie einen kleinen Buben?

Wahrscheinlich nicht. Aber ich werde es nie wissen.

Weißt Du noch, Wolfi, als Ihr Deinen Saloon gebaut habt im ehemaligen Geräteschuppen? Mit Schwingtür natürlich und diesem furchtbaren Kuhkopf mit Loch in der Stirn, der über dem Eingang hing und den alle so cool fanden. Und eine Theke gab es und Feste wurden gefeiert und „Money for Nothing“ lief viel zu laut und wir tanzten alle wie verrückt herum…war das eine schöne Zeit!

Du warst ein Rattenfänger, Wolfi, alle wollten zu Dir, aber Du konntest niemand halten.

Nach der Wohngruppenzeit bekam ich noch hin und wieder Post von Dir aus irgendwelchen Gefängnissen, wegen allen möglichen nicht ganz legalen Tätigkeiten, immer im Sinne der Menschlichkeit oder was Du drunter verstanden hast. Ich gebe zu, ich war froh, nicht alles zu wissen, was Du so getrieben hast. Irgendwie warst Du eine tragische Figur, oder? Rastlos umherirrend, auf der Suche nach was? Du hattest soviel Köpfchen, konntest alle Gespräche anführen, konntest alle beeindrucken mit Charme und Coolness und anscheinend wolltest Du immer ganz knapp an den Rand des Abgrunds…Du, ich mochte dieses gefährlich Verwegene in Dir, aber ich fürchte, ich habe Dich gar nicht gekannt, Wolfi, mein Cowboy.

Jetzt, vor ein paar Tagen haben sie Dich in der großen Stadt gefunden, als sie die Wohnung aufbrachen. Du hast schon tagelang tot dort gelegen. Mühsam flicken wir aus verstreuten Schnippseln Dein Lebensmosaik zusammen und finden rastloses Umherirren, irgendwelchen längst verlorenenTräumen hinterher, viele Drogen, immer knapp am Verhungern, viel rennen und viel betäuben und Suche nach Liebe und eine Einsamkeit, in die Du so eingesperrt warst, daß Du auch nach der Hand Deines einzigen Freundes nicht mehr greifen konntest.

Ich werde natürlich die anderen Eurer Truppe zusammenholen und wir werden viele „Weißtdunochs“ austauschen, alles ist schon so lange her und alle sind über vierzig Jahre alt und die Vergangenheit verblasst schön langsam und wir werden ein wenig traurig sein und an Dich denken.

Ich sitze da und habe dieses Klackern Deiner Stiefel im Ohr, sehe, wie Du in der Sonne sitzt, die Beine auf irgendeinem Tisch und lässig den Hut über das Gesicht ziehst wie in „High Noon“, ich höre Deine Stimme: „kommst Du auf mein Zimmer, ich hab wieder eine neue total geile Scheibe, die musst Du unbedingt hören“…und ich sehe dieses charmante, immer leicht süffisante Lächeln in Deinen Mundwinkeln.

Weißt Du, Wolfi, ich hatte viele Kinder, die habe ich alle ein wenig begleitet und sie dann wieder freigegeben, ins Leben hinaus… Was das wohl ist, dieses Leben?

Es bleibt was in meinem Herzen von Dir, mein Cowboy.

„Du warst meine richtige Mama“, hast Du gesagt,

ja, und Du warst mein richtiges Kind

und jetzt bist Du weggeflogen, für immer

und für immer wird mir ein Schmerz bleiben, wenn ich an Dich denke,

ein Schmerz ganz nah dem Glück, Dich gekannt zu haben..

es ist still geworden in diesem brütend heissen August,

gute Reise, mein Cowboy.

 

Von einer, die auszog…

Ein paar Tage bin ich nun wieder daheim. Auf dem Bauernhof, da, wo alles anfing. Ein „Gütel“ nennt man so ein Anwesen wie das unsrige, wenn es zum „Gut“ nicht reicht, wenn es zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel ist. Das Weideland konnte grade so zwei Kühe ernähren und von der wenigen Milch trotzte die Großmutter noch so oft es ging ein wenig Butter ab, die sie dann zwölf km mit dem Fahrrad in die Kreisstadt auf den Markt brachte, um ein paar Pfennige für den Haushalt zu bekommen. Sieben waren es, zwei Mädchen und fünf Buben, die sie hier geboren und großgezogen hat.

Der Älteste wollte den Hof nicht, er und die zwei Schwestern heirateten woanders ein.  Einer war krank und ging zugrunde und zwei blieben im Krieg, gefallen an irgendeiner Front. Der Jüngste, mein Vater, übernahm den Hof.

Der Zweitälteste, der ihn kriegen sollte, ließ eine Frau und einen kleinen Sohn zurück, als er den Heldentod starb, meinen Cousin, den ich endlich, nach so vielen Jahren am Rhein besuche.

Ich werde liebevoll willkommen geheissen, jeder Wunsch wird mir von den Augen abgelesen, ich bekomme ein ausgeklügeltes Besichtigungsprogramm serviert, ich stehe auf der Fähre über den großen Fluss, flaniere durch wunderschöne alte Städte, werde ins Elsaß kutschiert und stundenlang durch die Churpalz gefahren, durch hügeliges Weinbergland,  viel plaudernde Freundlichkeit ringsherum, ich werde als die Cousine aus Bayern herumgezeigt. Ich bekomme Einführungen über russische Raumgleiter im Museum und über Kernkraftwerke, zu denen man niemals Atomkraftwerk sagen darf.

Über mir im offenen Verdeck des Wagens ein Himmel, der mir höher und weiter erscheint als im  Voralpenland, P. freut sich und legt ihn mir zu Füssen.

Und in allen Besichtigungspausen, beim Essen und am Abend in der Wohnung reden wir über früher…eigentlich reden wir pausenlos über früher. Und als ich im Dom zu Speyer an eine romanische Säule gelehnt dastehe, denke ich, wie weit man doch manchmal herumfahren muß, um zu erkennen, daß die ganze Reise nach draußen nur das eine Ziel hat, innen anzukommen.

Merkwürdig, P. fährt mich mit großem Aufwand in seiner Heimat herum und zeigt mir alles, gleichzeitig reden wir aber über meine Heimat, die wohl auch mal seine war. Und, obwohl er ein glückliches Leben hatte, zieht sich durch alles Erinnern eine kleine Wehmut, ich spüre sie in allen Antworten, die er mir auf meine Fragen gibt, aber vor allem in den Antworten, nach denen ich gar nicht frage.

Er hätte den Hof geerbt, wenn sein Vater nicht verschwunden wäre. Diese Tatsache sitzt zwischen uns im Auto und ich ahne die Zeichen einer alten Verbindung zwischen uns, wir teilen den Schmerz von verlassenen Kindern. Ein Hauch von Glück , durch dunkle, traurige Geschichten unserer Abstammung zu gehen und uns im hier und jetzt über alle Ungereimtheiten hinweg die Hände zu reichen.

Wir sitzen im Auto und fahren durch unsere Erinnerungen.

Auf dem Michaelsberg erfahre ich von einer geheimnisvollen Geschichte über einen ehemals dort hausenden grausligen Drachen und ich freue mich so darüber, an diesem Ort gelandet zu sein, weil Drachen älter als die Welt sind und ich ihre Spur verfolge…P. versteht zwar nicht, was ich meine, aber plötzlich weiß ich, er würde mich beschützen vor allem Bösen. Und ich weiß, daß ich den großen Bruder, den ich mir so gewünscht hätte, ein Leben lang schon hatte, ohne es zu wissen. Ich sehe seine Hände an und sehe die Ähnlichkeit. Alle in unserer Familie haben diese eher großen Hände, warm und trocken. Arbeitshände, die zupacken können. Ich mag unsere Hände, auch meine, die ein wenig zu weich sind um ständig zuzupacken.

Und als wir zum Auto gehen auf dem Drachenpfad, da hätte sich beinahe die Hand der kleinen Schwester in die des großen Bruders geschoben.

Ich treffe dann auch noch den Stiefvater meines Cousins und irgendwann verabschieden wir uns, nicht ohne die feste Zusage, doch nochmal in die „alte Heimat“ zu fahren, ja, gerne , bei uns ist die Türe offen, wir sind auch in der Seele verwandt. Vollbepackt mit vielen Geschichten und noch mehr offenen Fragen, mit Umarmungen und guten Wünschen und ein paar Tränen im Augenwinkel mache ich mich auf den Weg.

Am Ende meiner Reise verfahre ich mich total im Gewirr unbekannter Straßen und stehe vor einer verschlossenen Pforte. Ein freundlicher Fremder bittet mich herein, führt mich in ein kleines verzaubertes Gärtchen und überläßt mich für ein paar Stunden  einem goldenen Nachmittag und meinen Gedanken, die durch mich hindurchziehen wie die weißen Wolken über mir am blauen Himmel.

Märchenhafte Geschichten von zwei Kindern und dem Verschwinden seines Vaters, ihrer Mutter…der gemeinsame Großvater, der die eine Mutter vertreibt und die andere anspuckt, der große Krieg, die weinende Großmutter…die Hand im Butterfass…und zwei , die alt geworden sind und sich liebhaben wie Brüderchen und Schwesterchen…

aus einem kurzen Schlummer erwacht sehe ich rings um mich herum wunderschöne Rosen, die sich duftend in einem Sommerlüftchen wiegen…

ja, es war eine schöne Reise, weit hinaus und doch hinein und wohin man auch fährt und was man auch sucht…ich glaube, letztendlich findet man immer nur sich selbst…

bedächtig nicken die Rosen ihre Zustimmung, ich danke dem freundlichen Fremden für das Glück in seinem Garten und dann fahre ich heim.