Archiv der Kategorie: In Memoriam

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Am Zeiger der Kirchturmuhr hängt ein langer Eiszapfen, er zeigt die Zwischenzeit an.

David Crosby ist gestorben, er hat Musik hinterlassen.

Auch mein Vater hat Lieder hinterlassen. Er hat sich das Spielen auf der diatonischen Zugharmonie (Ziehharmonika) selber beigebracht und er beherrschte es virtuos, auf seine unnachahmliche Art und Weise. Manchmal, wenn es ganz still ist außen und innen, höre ich ihn, die schnarrenden Bässe, die ich so liebte und den Satz: Das mußt du dir anhören, ich hab ein neues Stückl gelernt.  Der einzige Grund, warum er Musik machte: es gehörte zu seiner Existenz, wie die Luft zum Schnaufen und die Berge zum Anschauen. Er spielte aus Lust am Spielen  und da war immer diese Freude an Harmonien und den Klängen … auch das Üben war ihm Freude. Er brauchte kein Publikum und keinen Applaus und meistens spielte er umsonst, und die Musik und er sind zu einem einzigen Klangkörper der Freude verschmolzen.

Meine Mutter hat den Klang ihres Lachens hinterlassen. An sie kann ich mich kaum mehr erinnern, aber manchmal höre ich  ihr Lachen, es hörte sich an wie Perlen, die über den Tisch rollen.

Ich schaue mir unendlich viele Konzertausschnitte an mit David Crosby, solo oder in Zusammenspiel mit anderen Musikern, den besten und virtuosesten, die man sich nur vorstellen kann, alle standen mit ihm auf der Bühne. Und er schien sich nie hervorzutun, reihte sich stets bescheiden ein, ließ anderen den Vortritt und war doch immer der Mittelpunkt, um den sich alles drehte. All die Jahre stand er da mit der Gitarre, und wenn er nicht spielte, hatte er die Hände in den Hosentaschen, und unter seiner Mütze quollen weiße, lange Haare hervor. Es gibt Menschen, aus denen tropft förmlich die Musik heraus, egal wo sie sind und was sie auch tun. Ich glaube, er war so einer. Und man weiß nicht, woher die Musik eigentlich kommt, sie scheint eine der alten Kräfte zu sein und wenn sie da ist, sucht sie sich einen Resonanzboden in Menschen, die sich ihr hingeben, mit Haut und Haar. Man kann es erkennen, da ist dieser Blick, der aus der Unendlichkeit zu kommen scheint und in unbestimmbare Weiten führt. Neugeborene haben ihn und Sterbende und MusikerInnen. Und es kommt dieser Blick aus einem Körper, der sich diesem Strom hingibt und überfluten läßt. Meist ein leicht glasiger Blick aus einer anderen Welt. David Crosby hatte diese warmen, sanften Augen, die aufblitzten, wenn die Harmonien gelungen waren. In den letzten Jahren  liefen manchmal Töne heraus und neben dem Strom her, wie ein Rinnsal, das aber bald wieder zurück kehrt  und sich mit dem Fluß vereint. Fast meine ich, daß es gewollt war, denn er hatte auch in seinen späten Jahren als alter Mann eine wundervolle Stimme und spielte Gitarre wie ein junger Gott. Ich höre mich durch die Alben seines Lebens und bin immer noch überwältigt von diesen engelsgleichen Gesängen, es zieht mir immer noch den Boden unter den Füssen weg, wenn ich „Helplessly Hoping“ höre und die vielen Variationen von „Guinevere“, u.a. mit der kongenialen Band „Venice“, alle mit perfekten Gesangsharmonien. Wobei mir da die alte Version mit Crosby/Nash am meisten unter die Haut geht, wahrscheinlich auch wegen dieser liebevollen Verbundenheit, die sie miteinander teilten, wenn sie sich anschauten und diese unglaublich schwer zu singenden Harmonien bewältigt hatten.

Ich kenne dieses Lied bereits ein Leben lang und er hat es auch als alter Mann mit so einer Hingabe gesungen, daß ich heute genau wie früher zu träumen beginne und mit Guinevere in den Garten gehe  „in the morning after it rained“…

ES hat aus ihm gesungen ein Leben lang. Und das trotz größter zwischenmenschlicher Tragödien, Alkohol- und Drogenexzessen. Er war aufmüpfig, rebellisch und hat sich von keinerlei Gesetzmäßigkeiten in die Knie zwingen lassen, nicht mal von schwersten Krankheiten. Er ist immer wieder auf die Bühne und bis zum Ende seines Lebens hat er an neuen Songs gearbeitet. Aber jetzt ist er gegangen, der Tod läßt nicht mit sich reden.

Auch das letzte Album von David Crosby, vor paar Jahren aufgenommen, ist für mich ein Meisterwerk. Ich habe das Gefühl, da singt einer ganz entspannt ein paar Lieder, die ihm gefallen. Er muß niemandem was beweisen, er macht Musik, weil er das mag, weil er Freude daran hat, einfach so. Und da ist dieses wunderbare Lied von Joni Mitchell und das singt er von ihr und für sie und seine Platte nennt er auch so.

Und dann höre ich auch meinen Vater wieder, sie hätten nicht verschiedener sein können … und doch …

„He was playing real good,
for free.“

Aus der Zeit gefallen.

Für Dich Paula T., wo immer Du bist.

In den unergründlichen Tiefen der Bücherregale im alten Haus finde ich zwischen Stifters Witiko, Patti Smith, Ragnar Helgi Ólafsson und Robert Walser endlich den gewünschten Gerhard Roth und dann fällt noch ein dünnes Buch heraus, eher ein Heft. Ich kann mich nicht erinnern, es jemals gesehen zu haben, eine gewisse „Paula Tacke“  hat es wohl am 14.7. 1929 gekauft und gleich ihren Namen mit Tintenfeder hineingeschrieben.

Gedichte von Fritz Woike mit Bildern von Karl Kühnle
Barmen 1929
Emil Müller´s Verlag

An des Menschen Auge hängt
Seines Lebens Glücke,
Wie er Lust und Leid umfängt
Mit dem inneren Blicke.

Reichtum, Ehre, Gut und Geld
Wohl zu vielem taugen;
Reicher sind, die durch die Welt
Gehn mit hellen Augen.

Tobt des Lebens Wirbelwind
Auch um deine Klause …
Wo die hellen Augen sind,
Ist das Glück zu Hause.

 

Mich trieben Sehnsuchtsbrände
Von Land zu Land,
Das Suchen nahm ein Ende,
Die Seele fand.

Da deines Lichts Gefunkel
Mein Herz berührt,
Ward ich aus Qual und Dunkel
Zum Licht geführt.

Nun liegt auf allen Wegen
Dies stille Licht.
Ich geh ihm froh entgegen,
Mehr will ich nicht.

 

Der Wind…der Wind…

Sie versteht mich sofort, als ich sage, daß ich mal wieder verlorengegen bin, weil ich mich inwendig verlaufen habe. Wir pflegen keine Bekanntschaft, wir kennen uns nicht mal, unsere Welten sind sehr verschieden. Aber manchmal gibt es ein Synchronleben, wir scheinen dann nicht nur das gleiche, sondern dasselbe Gefühl zu empfinden. So, als teilten wir in diesem einen Moment eine einzige gemeinsame Seele. So stelle ich mir schon mein ganzes Leben lang diesen ersehnten eineiigen Zwilling vor. Manchmal scheinen sich unsere Umlaufbahnen zu kreuzen, dann sagen wir: merkst du es, es ist grad wieder passiert. Einmal sagt sie: weißt Du eigentlich, daß es schon Jahre so geht … magisch, gell? … ja, magisch … nein, nicht drüber reden, keinen Namen geben, das Geheimnis bewahren und dieses warme Glück tief im Herzen spüren…

Stürme kommen und gehen, lassen das alte Haus ächzen und zittern, treiben Schneemassen vor sich her oder diesen lauen Wind wie heute. Alles was nicht niet- und nagelfest ist, gerät in Bewegung und fliegt davon. Alles nimmt er mit, der warme Föhnwind, auch die Stunden und Tage des Lebens , plötzlich leuchtet grell wie ein Scheinwerfer eine deplazierte Sonne auf all das, was vom alten Jahr noch übriggeblieben ist an Sorgen, vergebliche Liebesmühen, Enttäuschungen, das geglückte Glück und das gescheiterte.  Und dann kommt die nächste Sturmböe und wirft all das in die Luft … alles, das Schwere und das Leichte. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“ … der allerliebste Zauberspruch meiner Kindheit, als ich ihn hinaufsage zu den rasenden Wolken, fliegt haarscharf an meinem Kopf vorbei die gußeiserne Bratpfanne, die vom Vater, dem Kunstschmied, mit einem Eisengestell und Blechdach zu einem Eßplatz für Vögel umfunktioniert wurde und an einem großen Haken am Nußbaumast hängt. Der Wind hat die Schraube aufgedreht, die alles zusammengehalten hat. Jetzt liegen die Teile verstreut um den Baum herum.

Die Eichkatzwohnungen hängen noch ganz oben, kunstfertig in die Geäste von Eberesche und Zwetschgenbaum verflochten, es werden immer mindestens zwei Nester gebaut, damit man bei Gefahr eine Ausweichwohnung hat.

Nach einer kleinen Pause am Nachmittag kommen die wilden Winde jetzt mit lautem Gebrause zurück und peitschen eiskalten Regen vor sich her. Sofort ist die Futterschüssel der Katzen voller Wasser, vorhin lag da noch eine herausgewürgte Maus, wurde wohl ein weiteres Mal verzehrt, bevor sie im Wasser aufweicht.

„Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben“

Ich schaue hinaus in die stockfinstere Nacht und ich denke an das Buch, das ich gerade lese:  „Die Ausgewanderten … vier lange Erzählungen“. Jahrelang konnte ich mich in den verschachtelten Sätzen und Geschichten von W.G. Sebald nicht zurechtfinden, jetzt werde ich immer süchtiger danach und ich ergebe mich dem Sog, der von seinen Worten ausgeht. Es ist nicht nur seine Sprache, die mit mikroskopartiger Genauigkeit ungeheuerlich weitläufig mäandernd um ein paar Menschenleben kreist, sondern deren geheimnisvolle, nie ganz geklärte Verbindung zur Person des Schriftstellers. Er scheint einer Verantwortung den längst Gestorbenen gegenüber nachzukommen, indem er auf ihre Schicksale einen letzten Blick wirft und ihnen die Achtung erweist, die sie sich verdient haben, bevor sie im ewigen Dunkel des Vergessens untergehen.

„… die widersprüchlichen Dimensionen unserer Sehnsucht …“

Von vier Menschen ist die Rede, die sich auf ihren Wegen vergangen haben und auf der Suche nach einer sinnvollen Existenz innerlich verunglückt und verloren gegangen sind. Das Schicksal mit allen seiner widrigen Machenschaften ließ für ein paar wenige Augenblicke ein Glück aufleuchten aber sie hatten keine Chance, dem letztendlichen Scheitern zu entgehen.

Merkwürdig, wie oft ich jetzt an einen denken muß, der vor vielen Jahren zusammen mit seiner Schwester in unserem Haus gelebt hat, weil beide uns nach dem Krieg „zugeteilt“ worden sind. Sie wurden verjagt aus ihrem Ort, aus ihrem ganzen Leben und dann waren sie gezwungen zu einer armseligen Existenz. In unserem kleinen Stüberl, beheizt von einem ständig rauchenden Ofen hausten sie dann, beide heimatlos geworden, seine Schwester und der Herr Ritz, wie sie ihn immer nannte. Den Herrn Ritz hatte ich als kleines Kind viel lieber als seine Schwester, die immer meine Locken bürsten wollte und mich dabei mit ihren Knieen in den Schraubstock nahm, ich versuchte deshalb  ihre Nähe zu vermeiden. Ich kann mich außer an diese Haarkämm-Prozedur an nichts mehr erinnern, weiß nicht, wie sie aussah, nur daß sie mir groß und mächtig erschien. Erst vor kurzem hatte ich ihren Ausweis in der Hand, da steht bei Körpergröße: 1,48 …

Der Herr Ritz ist mir in einer Erinnerung geblieben. Er hatte gutmütige Augen und saß immer in einem alten Lehnstuhl am Fenster mit einem Buch in der Hand und ich weiß noch ganz genau, wie liebevoll er mich anlächelte, wenn ich ihn im Stüberl besucht habe. Gesagt hat er wohl nichts, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, daß wir miteinander gesprochen hätten. Aber ich war gerne bei ihm, er trug immer einen Anzug mit Weste und Krawatte und hatte immer glänzend polierte Schuhe an. Er war ein leiser und feiner Herr und wir mochten uns, der Herr Ritz und ich.

Weil mich das Schicksal unserer „Flüchtlinge“ interessiert, gehe ich zur Gemeinde und frage nach, möchte wissen, wie der Herr Ritz mit Vornamen geheissen hat und wann sie zu uns kamen. Ich erzähle von diesem freundlichen alten und gebildeten Mann, während der Gemeindeangestellte in alten Büchern blättert und dann schaut er mich lächelnd an und fragt: Sag mal, wann bist du denn geboren … ich sage: 1952.

Aha, sagt er, aber der Herr Ritz ist 1949 gestorben.
Sein Name war Josef.

„Zerstöret das Letzte
Die Erinnerung nicht“

 

die Zitate stammen aus dem Buch: Die Ausgewanderten, von W.G.Sebald

 

 

 

 

 

 

Karl und die Freiheit der Rosen

Hin und wieder soll es vorkommen, daß sich einer verfliegt im Duft der Rosen und abstürzt ins Dickicht und seine Flügel zu Dickicht  werden und man ihn nur erkennt am Schimmer seiner Augen…

Bei der Kapelle vor dem kleinen Wäldchen spiegelt sich die Sonne in einer Windschutzscheibe, wie früher, als der Karl noch lebte.

Er ist immer mit dem Auto herumgefahren, weil ihm die Zeit einfach zu lang wurde. Irgendwo blieb er stehen und schaute einfach nur und auf die Frage, nach was er denn Ausschau halte, seufzte er  und konnte es nicht so genau sagen. Und wenn ich weitergehen wollte, sagte er, bleib doch noch ein wenig stehen bei mir. Immer hat er jemand zum Reden gebraucht, den meisten ging er auf die Nerven. Auf mich hatte er es besonders abgesehen, vermutlich deshalb, weil ich es nie übers Herz brachte, ihm nicht jedes Mal zuzuhören, bis die ganze Geschichte erzählt war. Die ganze Geschichte eines unglücklichen Lebens. Er war unerbittlich und böse auf sein Schicksal und alle, die daran mitgewirkt hatten, ihm das Leben schwerzumachen. Und mit den meisten, mit denen er jahrelang auf der Hausbank gesessen hatte war er über kurz oder lang auch zerstritten, auch mein Vater konnte ihn nicht mehr aushalten in seinem ewigen Geschimpfe und es wurde immer einsamer um ihn herum. Manchmal bin auch ich geflüchtet, wenn ich ihn kommen sah, aber meistens hielt ich ihm stand und ließ ihn reden und schimpfen. Alle meine Bestrebungen, aus seinem Leben ein wenig Hoffnung herauszupressen, hat er weggewischt und er bestand auf diesem Fluch, der über ihm hing und der ihn zwang, ein armselig-elendigliches Dasein zu fristen. Eines Tages hat er mir mal gesagt, Grete, Du bist immer gut zu mir gewesen. Wenn ich mal gestorben bin, kommst Du dann an mein Grab und betest mir ein Vaterunser? Ja, Karl, das werd ich tun, hab ich gesagt. Und seither besteht er darauf, daß ich dieses Versprechen auch einhalte. Wenn ich den Gottesacker betrete, dann hör ich ihn schon … kommst Du heute nicht zu mir und ich sage, gleich Karl, laß mich nur schnell die Blumen gießen und eine Kerze anzünden… und bald darauf hör ich ihn schon, wo bleibst du denn? Gehst du schon? Und ich sage, ruhe in Frieden Karl und manchmal hör ich ihn noch außerhalb rufen, Du kommst aber schon bald wieder, gell?

Nein, normalerweise sprechen die Toten nicht mit mir, am Familiengrab sagt keiner was, nur halt der Karl.

Früher hat er mich oft mitsamt meinem Radl ins Auto gepackt, wir hatten den selben Heimweg aus der Kreisstadt, dadurch mußte ich nicht den steilen Berg raufschieben. Wo auch immer er mich sah, hat er mich mitgenommen. Sein Leben war eine einzige Misere und es hat schon mit einer Kindheit angefangen, in der er gequält und geschunden wurde und halb verhungert ist. Dieser Schmerz hat sich um sein Herz gelegt und ihn schier erdrückt. Sowas wie Liebe oder auch nur ein wenig Freundlichkeit hat er nie erfahren und so ging es weiter, das Glück hat ihn nicht gefunden, er hat sich halb tot gearbeitet, aber rechtmachen konnte er es wohl trotzdem niemandem. Eines Tages ist ihm ein Auto reingefahren, als er zu seinem Haus abbiegen wollte und dann lag er sterbend und zitternd auf der Straße, so einsam wie immer in seinem Leben.

Er war ein armer und trauriger Mann und ich mochte ihn sehr gern und manchmal erzähle ich ihm Geschichten, wenn ich an seinem Grab stehe. Und manchmal hoffe ich, es möge doch auch bei ihm mal ein Engel abstürzen und an seinem Grab liegen bleiben, ihm den Kummer von der Stirne streichen, den Reif aus Eis von seinem weichen Herzen sprengen und wenn die Flügel wieder stark genug sind, ihn mitnehmen dorthinauf, wo alle diese verdammte Erdenschwere von ihm abfällt und er endlich endlich freigelassen wird.

Ich lege ihm eine Rose aufs Grab und vertraue ihrem Duft.

 

Zweistundenfrau und Totentanz

Im nicht allzuweit entfernten Salzburg steht der diesjährige Jedermann auf der Bühne,  in Gestalt eines kongenialen Schauspielers, und wirft sich der spektakelhungrigen Meute zum Fraß hin. Die Reichen und die mit Mundschutz nicht mehr ganz so Schönen, flankiert von unzähligen  A-dabeis, lechzen danach zu sehen, wie nackt oder zumindest halbnackt er´s heuer so treibt mit der Buhlschaft und warten auf das wohlige Gruseln, wenn der Tod ruft. Wenn der Jedermann seine Sache gut gemacht hat, wird er hinterher auf Händen getragen und abgeschleckt. Eigentlich geht es ja in diesem Stück um eine einfache, fast lächerlich anmutende Frage, die in diesem ganzen Brimborium untergeht, aber doch der wunde Punkt ist, um den sich alles dreht:

Was bleibt?

Am Morgen kommt der große Lastwagen vorgefahren, darauf steht: „Tierkörperentsorgung“. Der Fahrer ist unfreundlich, weil er die Schubkarre selber zum LKW fahren muß. Seit kurzem hat ein Schafzüchter 11 Schafe zu uns auf die Weide gestellt. Mietschafe sozusagen, die sich mit Heißhunger zu unserer großen Freude über die Streuobstwiesen hermachen. Ein altes Mutterschaf hat sich wiederkäuend und leise hingelegt und ist gestorben, über Nacht. Von der Schubkarre wird es in eine Klappe, die an einen Kleidercontainer erinnert, gekippt  und fällt mittels Hydraulik von oben in den Auffangbehälter. Dann das Geräusch des aufprallenden Körpers, Klappe zu, dann nichts mehr.

Das ist die Antwort.

Meine schöne Freundin mit den Jadeaugen erscheint mir im Traum, wir stehen im Treppenhaus dieses wundervollen alten Stadthauses, ich kann das Bohnerwachs riechen und diesen zarten, blumigen Duft meiner Freundin. Wir wollten so gerne in diese Altbauwohnung ziehen und dort gemeinsam wohnen. Was Neues sollte beginnen, nachdem ein Mann sie verlassen hatte für eine Frau, die ihm liebenswerter erschienen war. Oft, so oft habe ich mich gefragt, was aus uns beiden geworden wäre, hätten wir damals die Wohnung bekommen. Ich spüre sie heute noch, die Sehnsucht nach diesem kurzen Augenblick einer so intensiven Nähe … ins Herz gebrannt, das Schmerzende an dieser Freundschaft, die Liebe, die wir spürten und die wir dann verraten haben. Wir gingen bald wieder zurück in unsere Leben, ich in die Endphase einer depressiven Beziehung, und sie ziemlich schnell in eine Ehe mit Kindern, Hund und einem Trinker als Mann, der seiner gescheiterten Ehe hinterher trauerte. Vor einigen Jahren ist sie gestorben, verhungert ist sie, meine schöne Freundin mit den Jadeaugen. Wenn ich von ihr träume, weine ich ein wenig.

Ich fahre mit dem Radl immer den gleichen Rundweg. Manchmal denke ich an die überaus geschätzte Ilse Aichinger, die jahrelang einen immer gleichen Weg gegangen ist zu ihrem Lieblingskino, um sich dann die immer gleichen Filme anzuschauen und dann im immer gleichen Kaffeehaus zu sitzen und auf irgendwelchem Papier ihre wunderbaren „Unwahrscheinlichen Reisen“ zu notieren, die sie dann als Kolumne in der Zeitung veröffentlicht hat. Der immer gleichbleibende Weg, der doch nie derselbe ist, eine unerschöpfliche Quelle von Erfahrungen. Das ist, wie immer den gleichen Tanz tanzen. In Osteuropa gibt es das noch, daß Dörfer ihren eigenen Tanz haben, der wird getanzt bei allen Gelegenheiten … immer der gleiche, doch nie derselbe. Die Magie ist in der Wiederholung.

Gestern kam ein Reh aus der Wiese auf die Straße, es sah mich an, ich sah es auch an, wir waren beide so erschrocken, daß wir nichts sagen konnten. Das Reh blieb  stumm und ich auch, dann bewegten wir uns wieder auf unseren Wegen in entgegengesetzte Richtungen.

An einer bestimmten Stelle im Wald drehe ich mich immer um, weil ich meine, hinter mir jemanden zu spüren, aber nie ist wer da. Die Stelle hat sich verlagert, früher war sie ganz vorne am Rand,  schon als  Schulkind hatte ich Angst, das kleine Wäldchen zu betreten … heute ist die Stelle ein paar hundert Meter weiter in den Wald hinein gerutscht.

Der Tod sitzt gerne im Hochsommer auf den sonnenwarmen Steinen unter blauem Himmel und lächelt versonnen, helle klare Augen hat er … zwei Bussarde kreisen … das Dasein streicht mir sanft mit dem weichen Fell einer Katze um die Beine. Zwei Freunde meines Vaters haben sich im Sommer erschossen. In der Zeit nach dem Krieg gab es eine kleine Gruppe Freunde, sie hatten kein Geld aber große Begeisterung für Motorräder, „Schnauferln“ genannt. Der Vater sagte immer, der Hias hätte die größte Leidenschaft gehabt und er sei  ein genialer Mechaniker gewesen, der beste überhaupt. Ich glaube, er hat eine Horex gefahren und er war sein liebster Herzensfreund und ein Leben lang hat er gerätselt, warum sich der Hias eines Tages erschossen hat. Er fuhr an einem strahlenden Sommertag zu einer kleinen Kapelle und da drinnen erschoß er sich. Anscheinend war er nicht gleich tot und da hat er sich mit letzten Kräften noch zu seinem Motorrad geschleppt … dort haben sie ihn gefunden.

Beim zweiten Herzensfreund viele Jahre später hat es gleich geklappt, er konnte schießen und wusste genau, wie er es anstellen mußte, damit er nicht mehr aufwachte. Mein Vater hing sehr an W., sie machten „Ausfahrten“ mit den Motorrädern und sie sind zusammen aufgetreten bei allerlei Festivitäten, der Papa mit der Zugharmonie und der W. mit der Gitarre. Sie haben viel gelacht miteinander, denn W. war einer, der gut Witze erzählen konnte. Eines Tages war er tot, seine Frau hat ihn gefunden. Vermutlich hatte er Angst vor einer möglichen Erkrankung, aber niemand weiß wirklich, was in ihm vorging. Was wissen wir schon voneinander.

Das Haus am Waldrand hinter dem  Dorf war schon lange nicht mehr bewohnt und ist ziemlich verwahrlost. Der neue Besitzer ist oft da, wahrscheinlich, um es instandzuhalten. Seine Frau kommt am Samstag und bringt ihm das Mittagessen. Und während der Woche, jeden zweiten Tag, pünktlich von 17.30 bis 19.30Uhr kommt die Zweistundenfrau, sie parkt ihr teuerglänzendes Auto am Dorfeingang und wird vom Hausbesitzer geholt, dazu steigt sie in sein Auto und sie fahren durch das Dorf zu seinem Haus. Pünktlich nach zwei Stunden bringt er sie zurück zu ihrem Auto und dann fahren sie beide weg, in die gleiche Richtung. Alle sehen das, alle wissen das, nur seine Frau sieht es nicht, die kommt Samstag Mittag und fährt nach dem Essen wieder. Um 17.30 kommt die Zweistundenfrau in ihrem schnittigen Sportwagen und parkt am Dorfrand.

Seit Neuestem sind plötzlich durch und durch orangene Schmetterlinge da.

 

 

 

 

 

Das Rosenkarussell und der Herr Jesus

Wie schnell doch die Zeit vergangen ist seit damals im Kinderheim, Anfang der siebziger Jahre als ich ihr im lächerlich kleinen Zimmer mitten im Schlafsaal der Kinder gegenüber saß, meiner Freundin Brigitte.  Ein Raum der Wunder für mich, bunte Flickendecke auf dem Bett, lackierte Obstkisten, Gitarre, Räucherstäbchen  … ein Hauch Berliner Großstadtluft umgab sie … ich war eine kleine Praktikantin und bewunderte sie, die erfahrene Erzieherin. Ich verehrte sie wie eine Königin. Und bis heute bin ich ihr dankbar, daß sie mir von „Franny und Zooey“ erzählte und vom „Fänger im Roggen“, in diese Geschichten bin ich damals eingetreten wie in eine neue Welt und bis heute traue ich mich nicht, sie wiederzulesen, um den Zauber von damals nicht zu zerstören.

Jetzt, 45 Jahre später,  stehen wir in dichtem Nebel, der vom Grenzfluß aufsteigt, vor dem Grab ihrer Familie und sehen zu, wie der Steinmetz mit Pickel und Spaten die uralte Rose unter dem Grabstein herausreißt und ihren Klammergriff abhackt. Ich werde sie mitnehmen, und ihr einen würdigen Platz zum Weiterleben anbieten. Auch die vielen Blumenzwiebeln und was sonst noch so übrigbleibt, wenn man ein Grab auflöst.

Der Blick, im Äußeren vernebelt, führt zu Bestandsaufnahme als Innenschau mit der gnadenlosen Wahrhaftigkeit des Novembers. Nicht nur die Häuser zeigen jetzt die Wunden ihrer Seele, unverblümt und schmucklos … mein Leben liegt vor mir und ich sehe zu, wie bunte Glücksmomente aufleuchten in einem immerwährenden Vergehen … und auf einmal fällt mir wieder dieses kleine Karussell im Englischen Garten ein, so gerne würde ich es wiederfinden, ob es überhaupt noch existiert? Vor Jahren bin ich an einem Novembertag davorgestanden und habe einer großen Liebe nachgeweint. Wir drehen unsere Runden wieder und wieder … aber auch wenn wir uns noch so gut festhalten, irgendwann schleudert es uns hinaus ins All wie so viele vor uns …

Jetzt ist der Ernst also auch gestorben. Einer der letzten Freunde meines Vaters. Ob der ihn als einen „Freund“ bezeichnet hätte, ist fraglich. Der Ernst stand oft beim Vater in der Werkstatt und meistens hörte man ihn herumschreien. Er war halt lange Jahre ein Barrashengst, sagte der Vater, und daher hat er diesen Kassernenton.  Aber der Ernst lag halt mit allen und jedem in Streit wegen irgendwas und kämpfte ständig vor Gericht um seine Rechte. Und wenn er sich aufregen musste, dann hat er geplärrt.  Aufgewachsen ist er in der Barackensiedlung am untersten Rand der Kreisstadt und er hat lautstark ein Leben lang der Welt beweisen wollen, daß jeder sich herausarbeiten kann aus dem Sumpf, wenn er sich nur anstrengt. Stundenlang sind sie in der Werkstatt herumgestanden und mein Vater, ein alter überzeugter Sozi hat sicher nicht zu allem Ja und Amen gesagt, was der Ernst so von sich gab; und jetzt ist er tot.

Frau P., der ich immer eine Flasche Schampus geschenkt habe, wenn ich mir bei ihr ein neues Auto gekauft hatte, ist auch grad gestorben. Immer war sie bestens gekleidet und makellos geschminkt, vielleicht ein bißchen zu schwarz um die Augen und die Lippen etwas zu rot, die Haare hoch aufgetürmt. Sie hatte wunderschön zarte Haut, wie das üppige Frauen oft haben und um sie herum schwebte stets ein teures Düftchen. Ich habe nie bei jemand anderem ein Auto gekauft. Sie selber fuhr nach Möglichkeit eines der PS- stärksten Vorführmodelle und man sah ihr an, wie gern sie selber auf der Piste war, mit durchgedrücktem Gaspedal. Sie war eine Instanz im Autohaus. Schwere Krankheiten musste sie mitschleppen, aber nie hätte sie mit irgendwelchen Klagen die Kundschaft belästigt … nur einmal zeigte sie mir ihre geschwollenen Beine und nur für einen Moment verschwand die Härte in ihren Augen und sie ließ mich den Schmerz sehen. Andeutungen lassen mich vermuten, daß sie sich hinausfallen ließ aus dem Karussell. Ihre Hände waren weich, sehr weich. In der Zeitung steht: Wohnungsauflösung, läuten bei Frau P.

Rose und Lavendel sind im Auto, das Familiengrab ist aufgelöstund wird dem Erdboden gleichgemacht. Mit aufgewühlten Herzen sitzen wir im Café und lassen uns wärmen von der Sicherheit unserer Freundschaft  und von den Kaffeetassen in den kalten Friedhofshänden.

Das Karussell bewegt sich weiter und weiter, alles dreht sich immer nur im Kreis und doch bleibt nichts, wie es war, nach jeder Umdrehung sind wir nicht mehr dieselben und auf Schritt und Tritt begegnen uns das Abschiednehmen, aber auch das Glück, wenn man die Augen offen hält, dann sieht man es , überall.

Ein wenig weiser geworden in meiner Erkenntnis gehe ich hinaus in die Tenne und hole einen Krug mit goldfarbenem Apfelmost, der sich selbst in einen überirdisch guten Zustand gereift hat … die Freude über dieses Geschenk unserer alten Bäume ist grenzenlos. Auf dem Brett über dem Ballon liegt seit vielen Jahren ein steinernes Christusantlitz und man kann es durchaus als sakrale Handlung beschreiben, das Mostholen beim Herrn Jesus.

 

 

 

 

Mein Papa, die Zugharmonie und die kalte Sofie

Es wird schön langsam ein bisserl wärmer, immerhin haben wir schon 13 Grad vor der Küchentüre. Der Barometer zeigt „veränderlich“, und da ich nicht täglich nachschaue, weiß ich jetzt nicht, ob er runter- oder raufgeht. Du hast das immer gewußt, Papa, seltsam, was man vermisst, wenn ein Mensch nicht mehr da ist … ich weiß noch genau, wie es sich angehört hat, wenn Du am Abend vor dem Bettgehen kurz auf den Barometer geklopft hast, der im Hausgang neben der Stubentüre hängt. Jetzt sind die Eisheiligen vorbei, Pankraz, Servaz, Bonifaz haben uns schon wochenlang den verfrühten Sommer ausgetrieben und die kalte Sofie hat gestern noch den Rest vom Wintervorrat an Schneegraupeln um das Haus verteilt. Am Tag der kalten Sofie bist Du geboren und vor neun Jahren bist Du um 0.30 Uhr in Deinen 85. Geburtstag hineingestorben. Du hast geschlafen, ganz ruhig und leise habe ich Dich atmen gehört. Ich bin am Tisch gesessen und habe vor mich hingeschaut und dann hatte ich so ein Gefühl … und dann hast Du nicht mehr eingeatmet … und dann war es still, sehr sehr still. Ich habe das Fenster aufgemacht und dann war da so eine weiche Wehmütigkeit, die hat alles Schwere leicht gemacht und dann bist Du davongeflogen, in die Nacht und unendlich weit darüber hinaus.

Ich sitze in der Dunkelheit und lausche, aber es ist nichts zu hören. Weißt Du noch, Papa, wie ich manchmal in die Stube gekommen bin, weil ich Dich spielen gehört habe, und ich mußte erst mal das Licht anmachen, weil Du gar nicht gemerkt hast, daß es schon finster war. Und dann bist Du dagesessen im Arbeitsgewand und ich sehe noch so genau, wie die schwarzen Schmiedhände über die Tasten huschen, manche Tasten klappern ein wenig und ich höre sie schnaufen, die Zieharmonika. Du wirst immer in meinem Herzen bleiben, Papa, wie Du so dasitzt, ein Mensch mit seinem Instrument, in größter Wertschätzung werden sie zu einem einzigen Klang … wenn ich an Dich denke, Papa, dann ist meine Seele voller Musik.

Lange habe ich gesucht und dies hier gefunden, der Herbert Pixner ist sehr berühmt geworden und füllt große Hallen mit seiner Art, die Musik seiner Heimat zärtlich und behutsam in fremde neue Räume zu führen um sie, ohne ihre Herkunft zu verleugnen, weiten Horizonten zu öffnen. Als er die Alpler Polka gespielt hat, da war er noch unbekannt … wie er so dasitzt, diese Versunkenheit, dieses versonnene Lächeln, diese Hingabe …  das erinnert mich an Dich, Papa, und ich meine jetzt nicht die wundervoll schnarrenden Bässe und nicht die Virtuosität … sondern diesen Zustand, in dem einer durch das Spielen nichts anderes mehr sieht und hört, sich vergißt und selber zu Musik wird.

Ich liebe sie sehr, die Musik vom Herbert Pixner … aber was würde ich dafür geben, Dich wieder in der Stube spielen zu hören, so wie früher…

Papa.

Mitten ins Herz

Der Film „Lucky“ ist mir unter die Haut mitten ins Herz gegangen. Schier unbeschreiblich,  Handlung gibt es kaum, passieren tut nichts, eigentlich wirkt alles wie eine Momentaufnahme des Lebens in einem kleinen Nest irgendwo in Amerika. Die Straßen sind staubig, die Sonne scheint grell und ein alter Mann geht durchs Bild, wie durch die Kulissen einer Westernstadt.Er hat seine Verrichtungen, hat feste Regeln und Zeiten, wo er seinen Kaffee trinkt und Kreuzworträtsel löst, alles läuft nach Plan, er geht nachhause, um bestimmte Shows im Fernsehen anzuschauen und am Abend sitzt er in einer Bar und trinkt Tomatensaft und unterhält sich mit den immer gleichen Leuten.

Harry Dean Stanton(91) spielt seine letzte Rolle in diesem großen kleinen Film, einen 91 jährigen, kauzigen Eigenbrötler und er spielt in einer vollkommen unsentimentalen Wahrhaftigkeit, die kaum auszuhalten ist. Die Kamera geht erschreckend nahe an ihn heran, man sieht jede Falte an diesem alten, dürren Klappergestell von einem Körper und man sieht diesen schönen sinnlichen Mund, einen Schopf brauner, ungebändigter Haare und Augen …diese Augen, dunkel und so tief wie das Weltall und ich denke, daß ich diese Tiefe bis jetzt nur bei denen gesehen habe, die von weit her kommen und gerade geboren werden oder bei denen, die sich bald auf die Reise hinaus machen. Später erfahre ich, daß Harry Dean Stanton kurze Zeit nach dem Fertigstellen des Films plötzlich gestorben ist …

Irgendwann merkt Lucky, daß auch er sterblich sein wird, daran hatte er bisher noch nicht gedacht. Und er sagt zu jemandem: wenn Du mir versprichst, daß Du es nicht weitererzählst … ich hab eine Scheißangst!  Und irgendwann sieht er diese Frau an und in ein paar Sekunden spielt sich zwischen ihnen eine Liebesgeschichte, für die andere ein Leben brauchen und dann singt er dieses Lied …

Schön ist das, nach dem Kino 35 km durch die Nacht zu fahren, über Land, auf kleinen leeren Straßen, achtzugeben auf die Krötenwanderungen, den Mond über den Bergen zu sehen und an diesen schönen alten Mann zu denken, der mit einem Lächeln einfach weitermachte egal, wie lang es noch dauern sollte.

Wir haben alle mal Angst, nicht wahr, eine Scheißangst sogar. Auch in dieser Geschichte damals, im Garten Gethsemane , da war einer mitten unter seinen Freunden und er wusste, er würde bald sterben, aber die Freunde schliefen. Dann hat er Blut geschwitzt vor Angst.

Er sprach nicht nur davon, er war ein Liebender, das verbindet mich mit ihm.

Drachenherz

Ein flirrendes Rauschen in der Luft, eine Bewegung gegen den Strom, die Krone zittert, schert aus, Blätter rascheln, ein Ächzen, eher ein leises Stöhnen und dann fällt sie … die Krone fällt immer zuerst … und dann fällt auch er … der Stamm … dumpf das Ende … erbärmlich und dumpf der Aufprall am Boden … und dann ist es still.

Wenn ich am Hof vorbeigeradelt bin, hat sie mir oft zugerufen: „Wann kommst denn endlich mal wieder?“ Seit die Füsse sie nicht mehr trugen, saß sie auf ihrem Sessel vor dem Haus, den ganzen Tag und meist in der prallen Sonne, rauchte und hielt immer einen Groschenroman in der Hand, in dem sie von morgens bis abends las. Sie trug irgendeine Hose und eine Bluse, die wie ein Männerhemd aussah, in ihrem Gesicht die langen Jahre Bauernarbeit  in dunkles Leder eingegerbt. Die kurzen Haare so weiß, daß sie leuchteten, die blauen Augen blitzten spöttisch und immer lachte sie, wenn ich sie besuchte.  „Daß Du nur grad mal wieder da bist,“ sagte sie und dann schimpfte sie auf die alten Füsse und: „Mit mir ist es nichts mehr, Gret!“ Niemand nannte mich jemals so, ich hatte es gern, wenn sie „Gret“ zu mir sagte, es hörte sich immer so an, als hätte ich einen ganz besonderen Wert für sie. Jedes Mal erzählte sie mir von früher und ich sehe sie in der Erinnerung lachend in der Stube stehen, während wir Kinder durchs Haus tobten, wir durften alles bei ihr, es gab keinerlei Verbote. Sie erzählte vom Unglück, das den Ältesten, Vielgeliebten hinwegraffte, vom Tod meiner Mutter und von der Krankheit ihrer Tochter, die einmal meine Herzensfreundin war. Sie hat mich nie gefragt, woran diese Freundschaft zerbrochen ist und ich habe auch nie was gesagt.

In den letzten Jahren haben sie die Umstände ihrer Herkunft verfolgt und es lief ihr das Wasser aus den Augen und sie wurde weich und klagend, wenn sie erzählte … von ihrer Mutter, einer Magd, die sie an die Hebamme verschenkte, zur Aufzucht für die Arbeit am Hof. Kein einziges gutes Wort habe sie da bekommen, man hat sich nicht um sie gekümmert. Die Mutter wollte nie mehr was von ihr wissen und als sie sie besuchen wollte, da wurde sie von ihr verjagt.

Dann hat sie geheiratet, einen wortkargen Einödbauern, etwas sonderlich aber gutmütig. Der hauste mit seinen zänkischen Schwestern und schickte immer sie , wenn es was zum Schimpfen gab.

Und sie sagte zu mir: “ Weißt Du Gret, gefallen lassen hab ich mir nie was!“ Ja, das war bekannt, niemand wollte sich mit ihr anlegen, sie hatte ein freches und ungehobeltes Mundwerk, konnte fürchterlich fluchen und Zoten reissen, war vulgär und machte schlüpfrige Anspielungen. Sie war wild und ungezügelt und fuhr mit einer entfernteren Nachbarin, die auch einen sonderbaren Mann hatte, mit deren Goggomobil durch die Gegend auf alle Tanzveranstaltungen, die es nur gab und wenn keine Tanzpartner da waren, dann tanzten sie eben miteinander die Nächte durch.

Es hieß, sie sei mit ihrer Freundin „andersherum“ und ich habe mir als Kind oft den Kopf darüber zerbrochen, was das denn bedeuten könnte …

Sie hat ihre Schwiegertochter drangsaliert und sagte immer ihre Meinung, auch wenn sie niemand hören wollte und hat sich zeitlebens einen Dreck drum geschert, wenn die Leute von ihr sagten, sie sei eine böse Frau. Sie ließ sich die Wurzeln nicht ausreissen, stark wie ein Baum erzwang sie sich das Leben auf diesem Hof, auf dem sie geschuftet hat wie ein Ackergaul.

Wenn ich bei einbrechender Dunkelheit mit dem Rad vorbeifuhr, hat sie mir zugerufen: „Gret, wo treibst Du dich denn wieder herum, heut ist kein Herr Molicht (Licht vom Herrn Mond), traust dich denn so allein durch den finsteren Wald? “ Und dann hat sie mir zugewinkt und wir haben uns angelacht. 96 Jahre ist sie geworden.

Ich mochte sie.

Still ist es.