Das Fest Allerheiligen dürfe selbstverständlich so gefeiert werden, wie die Kirche es vorsieht, also wird es auch den üblichen Gräberumgang geben. Das sind wir schließlich unseren Toten schuldig, sagen Landesvater und Landrat in den Pressekonferenzen im neu verhängten Lockdown. Ob sich dieser Respekt vor den Toten halten läßt, wird man sehen, wenn der Wert die 300 überschritten hat, heute liegt er bei 292,6. Der Inzidenzwert war bereits am Montag über 250 und deshalb schnelles Handeln vonnöten, die üblichen Regeln wurden verschärft, die Wohnungen dürfen jetzt nur noch aus triftigen Gründen verlassen werden. Was darunter zu verstehen ist, kann jeder mehr oder weniger selber für sich auslegen. Verboten sind zumindest für die nächsten 14 Tage alle (be-)rauschenden Festivitäten in- und aushäusiger Art in Berghütten, Zelten, Gärten und Wirtshäusern, überall da, wo sie jetzt seit Monaten längst wieder praktiziert wurden. Zweitausend Gäste werden heimgeschickt, das sorgt für großen Ärger in der Tourismusbranche, ansonsten ist alles ruhig. Ich spüre sie wieder, diese gläserne Wand um uns herum, wie vor Monaten schon und schaue auf das, was mich umgibt, mit einem Blick wie durch ein Vergrößerungsglas. Ich schaue auf das Leben, das wir in dieser Welt führen.
Eine Schar Leute schlendern auf der Gemeindestraße vor unserem Haus vorbei, im Schlepptau etliche unleidlich blickende Kinder und ein paar leinenlose Hunde … unsere Katzen wahren Contenance, verziehen sich auf die Bäume und blicken verächtlich auf das vorbeischlurfende Geschehen.
Der ehrwürdige alte Nußbaum hinterm Haus hat seine Walnüsse abgeworfen.
Reicher Ertrag auf der Streuobstwiese muß verarbeitet werden, es gibt viel zu tun, manchmal versagen meine Kräfte und ich spüre, daß ich alt werde, und dann lehne ich mich vorsichtig an den uralten Baum mit den Goldperminer Äpfeln und weine ein wenig in seine Borke. Große Pilze wachsen schon an ihm, und die Ameisen erweitern ihr Straßennetz an seinem Stamm, der Prozeß der Verwandlung hat eingesetzt … alles eine Frage der Zeit … aber noch hat er alle Kräfte zusammengenommen und soviele kleine, aromatische Äpfel bekommen wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Im Keller steht ein 100-Liter Ballon mit Apfelmost, er blubbert schon leise vor sich hin. Gerne würde ich im Spätherbst Gäste empfangen und mit ihnen in der Stube Most trinken und Speck und Käse und frischgebackenes Walnußbrot essen. Die Gäste sind rar geworden am Hof, das liegt nicht nur an den derzeitigen Regularien zur Seuchenbekämpfung. Die Art und Weise wie unsere Gesellschaft lebt, erfordert Terminisierung überall und mit genauer Zeitplanung … da bleibt kaum Freiraum für Gespräche, so wie ich sie mir wünsche … dieses Miteinanderreden über Gott und die Welt mit offenem Ende, solang man sich halt was zu sagen hat. Immer wieder stelle ich fest, daß das Gespräch zwischen Menschen, die sich wohlwollend begegnen, der Mittelpunkt meines Lebens ist. Ich leide darunter, daß es weniger wird. Auch Freundschaften verschwinden … erst dachte ich, das würde an dieser Krise liegen … aber mit dem geschärften Blick stelle ich fest, daß vieles, was jetzt verschwindet, auch schon vor der Seuche gebröckelt hat. Ja, auch die Vermutung, daß man erst dann weiß, ob man Freunde hat, wenn man in Not ist, birgt mehr Wahrheit als mir lieb ist. Mehrere Menschen, die sich jahrelang so verhielten, als stünden sie mir nahe, brechen wortlos den Kontakt ab. Ach, die Gefühle sind wahrscheinlich ähnlich wild und gefährlich, weder steuer- noch lenkbar wie die Viren auch, sie bevölkern den Innenbereich und sorgen für Verwirrung und Tumult … sind sie gut, lassen sie uns vor Freude hüpfen, sind sie schlecht, werden wir verzagt. Wenn wir vor ihnen davonlaufen, kommen sie hinterher, und wenn wir uns auf sie verlassen, sind sie plötzlich weg und dann sind wir traurig.
Die 89jährige Nachbarin klopft am Vormittag an die Haustür und sagt : Grete, hast Du schon für´s Mittagessen was angetragen(vorbereitet), wenn nicht, hätt ich paar Nudeln für Euch! Ja, sehr gerne wollen wir welche … sie ist eine wundervolle Köchin und die letzte, die sie noch so macht, wie früher meine Großmutter und schnell treffe ich die Vorbereitungen, denn wir essen sie nach altem Ritual. Bevor die Vanillesoße auch zu uns herschwappte und sich als pappsüß angedickte Milch, gelbgefärbt mit Puddingpulver über alle Mehlspeisen ergossen hat, weil man halt auch mit der Zeit gehen wollte und so sein wie „die in der Stadt“; da haben die Dampfnudeln einfach nur Nudeln geheißen. Im Unterschied dazu gab es die „geschnittenen Nudeln“ , für die meine Oma auf dem Nudelbrett mit dem „Nudelwalgler“ Teigplatten auswellte und Bandnudeln daraus schnitt, die dann zum Trocknen herumlagen. Es gab sie dann als Nudelsuppe oder in der Pfanne gebraten, das waren Festtage für mich und immer, wenn ich selber Bandnudeln mache denke ich an meine Oma und ein Leben lang ist es mir nicht gelungen, mich dieser Köstlichkeit von damals auch nur anzunähern.
Für das alte Ritual beim Verspeisen der Dampfnudeln brauche ich ein speziell gekochtes Sauerkraut als Vorspeise und ein Apfelkoch(dickes Kompott), das noch warm sein muß. Das Dampfnudelessen ist immer ein kleiner Festtag und ein Gedenken an die Ahninnen im alten Haus, die in großer Armut mit Nudeln und Knödeln ihre vielen Kinder ernährten und dank selber eingestampftem Sauerkraut einigermaßen gesund über den Winter brachten. Das weiße Mehl war kostbar und der Weizen teuer. Ich höre meinen Vater noch sagen: alle wollten nur die weizenen, ich hab aber auch die roggenen Nudeln mögen, die waren dunkler und wurden in der Milch gekocht und hatten einen ganz speziellen Geschmack. Ich glaube, mein Vater hatte kein gutes Verhältnis zu seiner Mutter, in der Vergötterung des Erstgeborenen war für ihn als Jüngsten von sieben nichts mehr übriggeblieben an Mutterliebe. Vielleicht war ihr Herz irgendwann nach Not und Elend, Krankheit und zwei im Krieg verlorenen Söhnen ausgeschöpft und leer. Immer wieder einmal sagte er: also mir ist es ein Rätsel, wie die Mutter das geschafft hat, daß wir nie hungern mussten … dann war so ein trauriges Glänzen in seinen Augen.
Kater Herbert hat einen schlimmen Abszess am Bauch bekommen nach einer nächtlichen Rauferei und wir mußten ihn behandeln lassen, heute ist Herr Graugans mit ihm in der Tierklinik, natürlich maskiert … aber bei dieser bedrohlichen Lage im verseuchtesten Landkreis Deutschlands, jeder Kontakt ist riskant … mir ist mulmig. Permanent liegt eine diffuse ängstliche Verunsicherung in der Luft. Ein verzweifelter Anruf, bitte komm sofort, der Herbert ist abgehaun! Er war (klugerweise vor der Behandlung!) aus dem Auto gesprungen und im Gebüsch verschwunden. Als ihn der Gatte fast wieder eingefangen hätte kommt eine Frau dahergerannt , fuchtelt mit einem Ast herum und will ihn zum Auto treiben, daraufhin verkriecht er sich unter einem Haufen Altholz, wo überall die rostigen Nägel herausstehen. Herbert, dessen kätzisches Naturell weder von irgendwelchen banalen Leckerlis oder sonstwas bestechlich ist und dessen Charakterfestigkeit sich so äußert, daß er – und nur er – selbst entscheidet, wann er geruht, den Scherben – und Dreckhaufen wieder zu verlassen, wartet erstmal ab, bis alle Menschen und Hunde weg sind und auch der Bauer über der Straße seine höllisch laute Kreissäge wegpackt, das ist ca. nach zweieinhalb Stunden. In der Zwischenzeit hat Herr Graugans eine wichtige Videokonferenz absagen müssen … wir sehen jetzt zumindest ein wenig weißes Fell in den Zwischenräumen von Latten und Gittern und verhalten uns so, als hätten wir alle Zeit der Welt. Und nach einer weiteren halben Stunde taucht ein weißer Fellkopf unter dem Gerümpel auf und sagt: „Mmmrrreeeh.“ Es dauert dann noch ein Weilchen, bis er beschließt, aus der Deckung und anmutig an Scherben und spitzen Nägeln vorbei herauszuklettern. Alle drei sind wir ziemlich erledigt und fahren nach drei Stunden mit unbehandeltem Abszeßgeschehen wieder heim, froh, daß es so schnell ging , ich hatte durchaus mit einer halben Nacht Wartezeit auf dem Parkplatz der Tierkinik gerechnet.
Der Sohn der Nachbarin, ein sehr freundlicher und hilfsbereiter Mensch, der vor Freude strahlt, wenn er seine kleine Enkeltocher auf dem Arm hat, sagt: Du, wir lassen uns da mit dieser Seuche jetzt nicht verrückt machen, gell! Wie schauts denn bei Euch aus, habt Ihr Eure Äpfel gut unter Dach und Fach gebracht? Solltet Ihr noch welche haben, da kommt morgen einer, der schüttelt die Reste herunter…
Wie die Krummetvögel, denke ich, die waren jetzt auch ein paar Tage auf Zwischenstopp in den Süden in großen Scharen vom Himmel direkt in unsere verwilderten Gesträuche gefallen, und haben die Reste des Sommers weggepickt, Trauben, Hagebutten, Brombeeren und sind dann mit vollen Vogelbäuchen ab nach Süden weitergeflogen.
Im Gottesacker stelle ich aufs Grab eine Schale voller kleiner, bunter Hornveilchen … ganz unscheinbar sehen sie aus inmitten des unglaublich perfekten Grabesgestaltungsdesign ringsherum … ich habe einfach überhaupt kein Talent zum Dekorieren … aber wenn ich mich so umschaue, was die Frauen da mit Hilfe der Gartencenter veranstalten … für wen ist das alles? Nur zur Ehre der Toten … wirklich?
Langsam wird es Abend, der Mond steht kerzengerade mit seiner Sichel am Himmel, die Viren sind nicht weniger geworden, aber die Blüte der Rose leuchtet so flammend auf, daß hinter ihr das Abendrot verblassst.
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