Archiv für den Monat: Dezember 2018

24 T. + Nachspiel – Mutmaßungen über das Deutschsein, Gastbeitrag: #Andreas Glumm

Mutmaßungen übers Deutschsein

Wir waren per Autostopp in Frankreich unterwegs. Drei 16jährige Rabauken, drei Rucksäcke, der Staub der Straße. 1976. Es war der Sommer, in dem Schnaat uns mit Zigeunerjazz bekannt gemacht hatte, all die wunderbaren Sachen von Django Reinhardt. Wir hörten von einem Zigeunertreffen in Saintes Marie de la Mer, das jeden Sommer stattfand. Eine Wallfahrt. Auf dem Weg in die Camargue, wo es angeblich wilde Flamingos geben sollte, von denen wir aber nie einen zu Gesicht bekamen, pausierten wir in einer Tabac Bar. (Tatsächlich hatte uns ein Stück des Weges ein VW-Bus voller Zigeuner mitgenommen, und Schnaat prüfte immer wieder das Messer in seinen Stiefeln.) Wir nahmen drei Pastis mit Wasser, fühlten uns wunderbar Französisch in der Bar und taten so, als wären wir hochnäsige Engländer. Wie das so ist mit 16. Wie das so sein kann.
Noch drei Pastis, si vous plais!
Als ältere Einheimische am Nebentisch mitbekamen, dass wir lauthals Witze vom Stapel ließen, und zwar auf Deutsch, drehte sich der Wind binnen Augenblicken und man jagte uns aus dem Lokal. Erst wussten wir gar nicht, wie uns geschah, was los war, bis wir es aus dem Geschrei der Alten heraushörten: sie hatten uns als Boche identifiziert. Weil zu laut gelacht hatten – auf Deutsch. Und wir waren alle drei blond. Wir flohen regelrecht über die Felder und ließen die einheimischen Franzosen hinter uns, die sich am Eingang der Bar sammelten und uns zum Teufel wünschten.
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Einige Jahre zuvor, ich war noch ein Kind, reisten wir mit der Familie zum Campingurlaub nach Holland. Als wir einen Zwischenstopp einlegten und den Käsemarkt in Gouda besuchen wollten, parkte mein Vater den Wagen in einer Nebengasse, und wir wurden von Rockern angegriffen. Sie pöbelten uns als Nazis an, als „Moffen!“ und droschen mit Holzknüppeln auf den Wagen ein. Wäre nicht zufällig Polizei aufgetaucht, keine Ahnung, was passiert wäre.
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Boche und Moffen, Moffen und Boche. DEUTSCHER. Gebrandmarktes Vieh.
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Einmal waren wir auf einer Party. Auf dem Küchentisch lag ein Bildband aus, aufgeschlagen genau in der Mitte. (Künstlerszenen-Party.) Zu sehen war ein großes s/w-Foto aus dem Konzentrationslager, aufgenommen gleich nach der Befreiung durch alliierte Streitkräfte. Man sah Leichenberge, übereinander gestapelte tote Menschen, ermordete Menschen, von Boche und Moffen ermordete jüdische Menschen, hunderte von ausgemergelten hohlwangigen jüdischen Leibern, ineinander verknotet wie Schnürsenkel, ein Menetekel für das große böse Mordbrennen unserer arischen Seele. Möglicherweise waren nicht nur Juden, vielleicht waren auch Schwule, Kommunisten und Zigeuner unter den Leichen. Ich kam mehrfach an diesem Abend in die Küche und sah nach dem Bildband. Es lag jedes Mal da wie zuvor. Niemand blätterte die Seite um. Ein Leichenberg zwischen leeren Weinflaschen, Aschenbechern, Geschenkpapier.
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„Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“ war ein Stück von James Last, enthalten auf irgendeinem Sampler in der Plattensammlung meiner Eltern. Zu einer Zeit, als noch niemand von Easy Listening sprach, schuf James Last ein Stück Instrumental-Musik, perfekt für das Bild vom Deutschland der frühen Siebziger. Es war der Wunsch, sich der Welt heiter und freundlich zu präsentieren, getrieben von einer bösen Vorahnung, dass der Leichenberge-Spuk wieder von vorn beginnen wird, irgendwann in grauer Ferne, nur bitte nicht jetzt, nicht morgens um sieben.
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Sie nennt es den „Kosmischen Sprung“. Wenn die Chemie zwischen zwei Menschen plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät, einen Deut nur vielleicht, und niemand eine Erklärung dafür findet. Wenn sich eine unerklärliche Nervosität einschleicht, „dann hat der Himmel eingegriffen. Aus purer Lust am Eingriff.“
„So ein Himmel ist ja auch nur Chirurg“, stimme ich zu.
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Zwanzig Jahre lang hörte man in Deutschland nichts anderes als Krise, kranker Mann Europas, Arbeitsplätze, Milliarden Euro, man konnte es schon nicht mehr hören, dann kam der Aufschwung, und von nun an hörte man nichts anderes als Algorithmus, Arbeitsplätze, Best of Europe, Milliarden Euro, seit bestimmt zehn Jahren ist das so, man kann es schon nicht mehr hören.

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„Deutschland… das ist beim Küssen anschnallen“, lacht der Syrer, der einige Häuser weiter wohnt. Er kam nach Deutschland mit Frau und seinen beiden kleinen Jungs, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten sind. „Wenn Polizei dich anhält und du küsst gerade deine Frau, musst du angeschnallt sein, sonst Strafe!“ Er macht diese arabische Ich-schlitze-dir-sonst-den-Hals-auf-Geste und lacht.
Wir unterhalten uns ab und zu. Er siezt mich, ich duze ihn. Obwohl ich ihm das Du schon ein halbes Dutzend Mal angeboten habe, bleibt er beim Sie. Ihm gefällt das deutsche Sie, sagt er. Der Respekt, den man seinem Gegenüber erweist. Wenn ich mich jetzt also nach ihm richte, müsste ich ihn siezen. Habe ich aber keine Lust zu. Ich duze ihn gnadenlos, er dagegen kann das verdammte Siezen nicht lassen.
Egal. Was ist ihm noch an Deutschland aufgefallen, frage ich ihn, außer der Anschnallpflicht beim Küssen. Er muss nicht lange überlegen. Es fiel ihm in den Moment auf, wo er samt Familie in unser Viertel zog, raus aus dem Wohnheim. Ihm fiel auf, dass in Deutschland sogar jeder Hund Steuermarke und Haftpflicht-Versicherung hat, während die Menschen in seiner Heimat nicht mal einen Ausweis kennen.
Er spricht schon ganz gut Deutsch. Ein weiteres neues Wort in seinem Sprachschatz: Kreuzbandriss. Es passierte beim Fußball. Jetzt muss er sechs Wochen zu Hause bleiben und die Knochen schonen.
„Kannst du das Du üben“, sag ich.
Er ist ein cleverer Bursche. Hat einen syrischen Schnellimbiss in der City eröffnet. Er fährt Motorroller und hat im nahen Kleingartenverein einen Schrebergarten gepachtet, wo er Gemüse zieht. Bis zu seinem Kreuzbandriss winkte ich ihm oft zu, wenn er mit seinem Roller an mir vorüberdonnerte und so wild hupte, als wäre er in Damaskus unterwegs zur nächsten Tattoo-Sitzung.
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Ich stand 1984 mittags in der Pommesbude am Schlagbaum und erinnerte Hitler daran, dass er mir beim letzten Mal schales Flaschenbier angedreht hatte.  Hitler, der Inhaber, ein alter Türke, den alle Hitler nannten wegen seines prominenten Oberlippenschnauzbarts, protestierte.
„Wieso Bier schal..? Bier nie schal, nie bei Hitler! Hier, Flasche gut zu! Flasche zu, Bier gut!“

„Ja klar ist die Flasche zu. Aber wenn die fünfzehn Jahre unten bei dir im Keller steht bevor du sie verkaufst, wird das Bier da drin trotzdem schal, irgendwann. Is doch klar.“
„Bier nie fünfzehn Jahre inne Kella bei Hitla! Bier frisch! Bier imma gut bei Hitla!!“
Ich winkte ab. Was sollte ich mich groß aufregen über eine verdorbene Kanne Kölsch. Ich ärgerte mich, es überhaupt erwähnt zu haben.
„Na gut. Tu mir ne Currywurst“, sagte ich, „mit Pommes..“
Hitler guckte reichlich grau.
„Wat drupp op de Pommes?“
„Mayo“, sagte ich.
Er schüttelte verstimmt den Kopf und zeigte in die Auslage, wo die frischen Sachen standen, Salate und so.
„Du immer nur Pommes, hömma…! Kein Wunder, du kotzen mein Bier. Hier, probier mal gefüllte Auberginen, ganze frisch..“
„Ach, Scheiße. Nee..! Hau ab!“
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“Im deutschen Beliebigkeitsbrei lässt sich nicht einmal mehr der Feind ausmachen. Früher wusste man genau, wer auf welcher Seite stand. Heute ist jeder sein eigener Feind, so beliebig sind wir alle geworden. Dabei bräuchte man nur ein paar aufrührerische Gedanken. Kosten nicht mal Geld. Hat aber niemand.“ (Gräfin)
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“Das liegt in der deutschen Natur: Wenn etwas schlimm ist, machen wir es noch schlimmer. Das haben wir quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Ein normaler Krieg reicht uns nicht, wir zetteln gleich zwei Weltkriege an. Wir können nur extrem. Extrem langweilig übrigens auch.“ (Gräfin)
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Wer jung ist, muss im Kontra sein. Doch wie soll die deutsche Jugend heutzutage im Kontra sein, wenn die Alten einfach nicht altern wollen und alles daransetzen, jung zu bleiben. Was bedeutet es für die Jugend, die im Kontra zum Zeitgeist stehen muss? Es bedeutet, dass sie mit dem Jungsein bricht. Dass sie vorschnell altert. Man hat gar keine andere Wahl, als junger Mensch in Deutschland.
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Es ist nicht das Mittelmaß, das in diesem Land den Ton angibt, es sind vielmehr diejenigen, die sich nichts sehnlicher wünschen als dazugehören zu dürfen zum erklärten Mittelmaß.
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Was ich heut Morgen auch sage, sie versteht es falsch.
„Ich krieg meine Tage“, klagt sie. „Du musst Mädchendeutsch mit mir sprechen.“
Schön. Aber dazu muss man erst mal Mädchendeutsch denken. Das ist gar nicht mal so einfach für einen eingefleischten Buben.
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Zwei der dööfsten Volkslieder rücken die deutsche Oma in den Mittelpunkt: „Wir versaufen uns’rer Oma ihr klein Häuschen“ und „Unsere Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“. Auffällig auch, dass es in beiden Refrains um Behausung geht: das kl. Häuschen und der Hühnerstall. Und der Opa scheint in beiden Fällen ausserhäusig zu sein, ER bekommt nichts mit.
Was solls.
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Je älter ich werde, desto mehr arrangiere ich mich mit Deutschland, ja, desto mehr freunde ich mich an mit meiner Heimat. Mir gefällt dieses seltsam sterile ex-Filterkaffee-Land, auch wenn ich gar nicht so ganz genau weiß, warum. Aber das weiß ich nie, wenn mir etwas gefällt. Ist auch nicht so wichtig. Etwas mögen braucht kein Motiv.
Man mag.

Text: Andreas Glumm
Blog: Glumm

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 24: Finale

Lauwarmer Föhnsturm die ganze Nacht, das Dach des alten Hauses scheppert so stark, Angst, es könnte wegfliegen, kein Schlaf möglich. Heute schüttet es aus Kübeln, die Bäche hier im Tal laufen über, 50 Meter oberhalb schneit es in dichten Flocken … passender Einstieg in die verrückte unberechenbare Zeit der Rauhnächte. Wir versuchen, kurz vor Torschluß wie jedes Jahr, einen kleinen Christbaum verbilligt zu ergattern, irgendeine windschiefe Fichte, die liegengeblieben ist … keine Chance. Im dritten Gartencenter erfahren wir, daß überhaupt keine Fichten mehr verkauft werden, weil die Menschen sich nicht stechen lassen wollen beim Schmücken … na sowas! Es gibt nur noch Nordmanntannen, teuer, aber mit abgerundeten Nadeln! Die Christbaumverkäuferin sagt: Sucht Euch einen aus, dann schaun wir mal, wir kommen schon irgendwie zusammen! Sie verlangt nur die Hälfte und dann bleiben wir noch stehen und plötzlich erzählen wir uns aus unserem Leben und die junge Frau berichtet von ihrer Arbeit, daß sie normalerweise täglich nach München fährt (einfach 120 km)um in der Notfallambulanz zu arbeiten und nebenbei fährt sie Taxi, heute auch. Heute am Hl. Abend, ja, das sei schön, weil man da Menschen eine Freude machen kann und sie in  dieser speziellen Nacht herumfährt, eine Zeitlang, und da sei niemand allein. Aus ihren Augen kommt so ein Strahlen, es wird ganz warm hier im kalten strömenden Regen … Wir reden und reden auch über ihre Hunde, zwei Rauhaardackel, die dringend jemand bräuchten, der sie täglich mal Gassiführt. Wir reden und reden und auf einmal fallen wir uns in die Arme und sagen uns, welch ein unerwartetes Geschenk unsere Begegnung ist und dann verabschieden wir uns und gehen und dann laufen wir nochmal aufeinander zu und machen die Arme weit auf und dann seh ich es aus ihren Augen herauslächeln, dieses kleine Kind in der Krippe … wir gehen zum Auto, verwundert und glücklich, jetzt haben wir halt auch so eine Nordmanntanne, egal, wenn wir ihn schmücken, wird ein besonderes Gefühl für einen fremden Menschen, der nicht mehr fremd ist,  zwischen den Zweigen hängen und hervorleuchten.

Anschließend werde ich den traditionellen böhmischen Kartoffelsalat machen, den meine Mama in  die Familie gebracht hat. Ich bin eine Deutsche mit österreichisch/böhmisch/bayrischen Vermengungen. Die direkte Linie zum hannoveranischen Königshaus und dementsprechender Verbindung zur Königin von England pflege ich schmunzelnd in der Schatztruhe der charmanten, mütterlichen Lügengeschichten aufzubewahren, dahin , wo auch die vielfältigen Theaterklamotten lagern.

So, Ihr Lieben da draußen, jetzt gilt es, das 24 T – Projekt der Mutmaßungen zu beenden. Ich danke Euch allen sehr für Euer Mitmachen, für die wundervollen Gespräche backstage, für all die Freundlichkeit und liebenswürdige Art, mir zu begegnen, jede und jeder hat auf eigene Weise mein Leben bereichert und durch sein Wirken diese virtuelle Bühne zwischen Himmel und Erde zu einem besonderen Ort der Begegnung und des Austauschs, der Schreib- und Fabulierkunst und der Phantasie gemacht. Ich bin sehr dankbar für die Tattsache, daß, wenn ich rufe, tatsächlich Menschen kommen und gerne mitmachen bei einer Idee und den ewigen Traum eines Miteinanders auf dieser Welt zumindest für ein paar Wochen gemeinsam träumen …

Wo Ihr auch seid, da draußen, ich schicke Euch gute Gedanken, den Traurigen ein wenig Trost und die Gewissheit, daß alles vergeht, wenn es bis zu Ende gelitten ist … laßt uns die Heilige Nacht feiern, laut oder leise mit einer oder tausend Kerzen mit Rockmusik oder Glockenklang ,weinend oder lachend, üppig oder spartanisch, ganz egal, Hauptsache die Tür im Herz ist offen! Jetzt hat mal wer zu mir gesagt: Du scheinst ja jedes Gefühl schon mit Liebe zu verwechseln, oder?
Ja, aber selbstverständlich, mit was denn sonst!!

In diesem Sinne: JUBILATE!

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 22 #Andréa Catel de Prates Soares

Mutmaßungen über das Deutschsein

Deutschsein, das ist für mich vor allem das Beherrschen der Deutschen Sprache. Eine harsche, viel zu oft schwierige, und mit Regeln versehene Sprache – die ich trotzdem wundervoll finde. Wer die Sprache nicht beherrscht, wird Schwierigkeiten haben sich zu integrieren, Deutsche und deren Kultur kennen zu lernen.

 

In Sao Paulo, Brasilien geboren wurde ich mit 7 von meiner Mutter nach Belgien geschickt, wo meine Tante mit ihrer Familie lebte. Ihr Grund: eine bessere Schulbildung. Bevor ich nach Deutschland kam, konnte ich also fließend Portugiesisch und Französisch. Erst mit 10 bin ich nach Deutschland gekommen. Meine Tante hatte ein Stipendium für ihren Doktor und konnte sich aussuchen ob sie in Belgien bleiben, nach London oder nach München gehen wollte. Sie entschied sich für München.

 

In München war ich erstmal in einer französischen Schule. Diese Zeit betrachte ich heute noch als “Eingewöhnungszeit”, es war Deutschland und doch irgendwie nicht. Zwar hatten wir Deutschunterricht, als ich aber schließlich in eine deutsche Schule kam, konnte ich gerade mal die Grundlagen, wie “ja”, “nein”, “Guten Tag”, “Danke” und “Bitte”. Das erste Mal, dass unsere Lehrerin einen “Andreas” aufrief fühlte ich mich angesprochen – und war peinlich berührt als ich merkte es war ein Junge gemeint. Mein erster kleiner Aufsatz, ich glaube es war eine Erzählung, hatte dafür schon einen ganz deutlich bayerischen Einfluss. Statt “plötzlich klingelte es” habe ich “da glingelts” geschrieben.

 

Natürlich war es für mich als Kind einfacher Deutsch zu lernen. Klar wurde es auch schnell besser, ich musste ja in der Schule und überall Deutsch reden (da ist es wieder, das Bayerische). Allerdings hat ewig gedauert, bis ich diese Sprache in meinen Augen wirklich beherrschte. Ganze 25 Jahre waren es, und ich bin sicher, die Kommasetzung werde ich nie ganz beherrschen.

 

Irgendwann habe auch ich geheiratet. Einen Amerikaner, der Deutsch lernen musste. Schließlich haben wir in Deutschland gelebt. In seiner Naivität (es gibt kein passenderes Wort)

und nicht zuletzt, weil ich fließend Deutsch rede, dachte er, ich wüsste alle Regeln und könne ihm helfen. Allerdings habe ich mich immer wieder dabei ertappt, die eine oder andere Regel vergessen zu haben. Was ist ein Gerundium gleich wieder? Und wie geht das mit dem Genitiv?

 

Deutsch ist schwierig. Ich rede hier nicht nur von der Aussprache, die fast jedem nicht-deutschen so schwer fällt. Es gibt so viele Regeln, die man beachten muss. Grammatik, Rechtschreibung, Satzzeichen und dann auch noch das Neutrum (das schwierig zu verstehen ist, wenn man dieses Konzept gar nicht kennt).

 

Deutsch ist aber auch ungemein präzise und akkurat. In keiner anderen mir bekannten Sprache können zwei scheinbar zufällig aneinandergereihte Wörter eine Sache so genau auf den Punkt bringen. Wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass es einige Wörter im Deutschen gibt die keine Übersetzungen haben, wie Fahrvergnügen oder Schadenfreude. Deutsch ist die Sprache der Erfinder und Ingenieure, denn es werden mehr Patente auf Deutsch angemeldet als in jeder anderen Sprache. Und dann sind da noch die “Ausnahmen von der Regel”, aber selbst die machen Sinn.

 

Meiner Meinung nach fängt diese Genauigkeit in der Sprache, einschließlich ihrer Ausnahmen das Deutschsein ein. Es ist kein Zufall, dass der Stereotyp eines Deutschen mit Präzision, Pünktlichkeit und Höflichkeit zu tun hat (und auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel).

 

Ein Beispiel: die sogenannte “Work-Life-Balance”. Ein Amerikaner arbeitet anders als ein Deutscher. Es gibt sogar Studien darüber, dass Deutsche in ihren 8 Stunden Arbeit mehr “schaffen”. Deutsche lieben ihre Freizeit, die sie gerne im Freien verbringen, oder im Urlaub. Fast kein anderes Land in der Welt hat so viele Urlaubs- und Feiertage. Das alles gehört für mich zum Deutschsein dazu.

 

Deutschsein ist seine Arbeit gut zu tun und pünktlich abzugeben – während der Arbeitszeit. Deutschsein ist nach der Arbeit mit den Kollegen auf ein Bierchen zu gehen. Deutschsein ist seine Freizeit zu genießen (außer man ist Selbständig). Deutschsein ist aber auch mit der Geschichte konfrontiert werden, so gut wie überall (und nicht immer nett). Deutschsein ist leider auch von Leuten umgeben sein, die von dieser Geschichte nicht gelernt haben (was aber nicht nur ein Deutsches Phänomen ist). Deutschsein ist Erfindungsreichtum, Schrebergärten, schnelle Autos und Autobahnen, grantig sein und Gemütlichkeit. Vor allem ist Deutschsein für mich aber Freiheit, Freiheit zu sagen und zu tun was man will (solange das tun nicht gegen das Gesetz verstößt).

 

Es hat lange gedauert, bis ich endlich von mir aus gesagt habe ich bin Deutsch. Viele meiner Freunde sagen das schon lange. Trotzdem habe ich mich lange dagegen gesträubt meine brasilianischen Wurzeln aufzugeben. Erst nachdem ich, auch wegen des oben erwähnten Amerikaners, in die Vereinigten Staaten zog und schon ein paar Jahre dort lebte, fiel mir auf wie Deutsch ich wirklich bin. Deutschsein kann abfärben. Ich habe über die Jahre so einige dieser Eigenschaften übernommen und bin froh drum.

 

Eines ist jedoch sicher, ich hatte verdammtes Glück in dieses Land zu kommen und immer noch hier sein zu dürfen. Wäre ich in Brasilien geblieben oder hätte sich meine Tante für Brüssel oder London statt München entschieden, wäre ich ein anderer Mensch.

Text: Andréa Catel de Prates Soares

 

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 21 #Graugans

In den letzten Wochen war hier sehr viel Betrieb, viele hielten ihr Gastspiel hier auf meiner Bühne, zwischen Himmel und Erde. Jetzt ist die Bühne leer, ich habe den Haupteingang geschlossen, halte aber immer noch eine kleine Türe offen für Seiteneinsteiger, Nachzüglerinnen, versprengte Geister … Ich liebe es, Gäste zu haben, die mein Dasein bereichern, weil sie mich teilhaben lassen an ihrer Art, die Dinge zu sehen.

Ich bin aber auch sehr gerne alleine, rieche die Theaterluft und höre meinen Schritten zu auf dem Bühnenboden, der klingt, als wäre ein Hohlraum darunter, zum Sichverstecken vor der realen Welt. Eine virtuelle Bühne, eine die erstaunlich lange sich schon hält, alle anderen Versuche waren nicht so erfolgreich. Das halbfertige Papiertheater lehnt seit Jahren hinter einem Schrank. Das wunderbare „Theater hinterm Ofen“, ein Geschenk in Form einer Palette mit einem Stuhl darauf kommt nur an einem Abend zum Einsatz, beim Verlesen eines meiner besten Gedichte, wie ich meine, fängt der Ofen an, Funken zu sprühen, der einzige Gast ist eingeschlafen, schreckt auf und geht nach Hause … ach ja …und die Idee eines lauschigen, intimen Kellertheaters mit frivolem Saxophon scheitert an diversen Gründen, u.a. weil es vom einzigen Stück nur den letzten Satz gibt, an den ich mich aber nicht erinnern kann. Für eine, die zumindest teilweise von einer alten Theaterfamilie abstammt, bisher keine erfolgreiche Bilanz. Ich gehe nicht gern ins Theater, mag es nicht, eingeklemmt zwischen Vielen stundenlang auf eine Bühne zu starren. Aber ich habe Sehnsucht nach der Bühne, weiß genau, wie es da riecht und habe die Geräusche im Ohr, und ich spüre den Stoff des Vorhangs auf meinen Fingerkuppen … meine Sinne sind erregt, wenn ich nur an eine  Bühne denke und das Seltsamste ist, ich bin noch nie auf einer gestanden.

Die Mama muß es mir direkt vererbt haben, so eine Art Gen. Sie erzählte diese Geschichten, immer und überall. Sie spielte Szenen. Sie hat Arien aus Toska gesungen, während sie die Kuh gemolken hat. Woher kam sie … aus Deutschland, aus Österreich, aus Böhmen? Ja, aus Böhmen. Ihre Gefühle sind mir ein Rätsel geblieben, sie wechselten mit dem Publikum, mit dem sie jonglierte je nach Lust und Laune, ihre Paraderolle war die junge Naive … „wir spielen alle, wer´s weiß ist klug“ soll Arthur Schnitzler gesagt haben. Mein wahrheitsfanatischer Papa spielte nie. Er mochte das alles nicht, was da an „gschlamperter Scheinwelt“ von Österreich/Böhmen herüberwehte.

Ach, was für Gedanken mir da so kommen, während ich auf meiner leeren Bühne herumgehe.

Heute, in der Stunde vor Mitternacht, ist Wintersonnwend, der Kreis schließt sich und alles beginnt von Neuem. Ich setze mich auf den gebohnerten Bühnenboden und schaue hinaus ins All, hier zwischen Himmel und Erde kann ich erkennen, wie sich der blaue Erdenball  unter mir dreht, ich habe Zeit, Zeit in Hülle und Fülle. Bald ist Weihnachten. Das Land rennt und rennt, um sich noch schnell, schnell intensiv zu besinnen.

Ich verschenke gerne meine Zeit, aber das ist nicht so einfach, denn es hat eigentlich niemand Zeit für die Zeit. Und so bleibe ich allein ein wenig hier in diesem virtuellen Zwischenraum sitzen, sehe den Sternen beim Glänzen zu und dem Mond beim Kugelrundwerden und finde dieses Lied. Es klingt zwischendurch ein wenig schräg, beide später sehr berühmt singen und spielen hier, so scheint es, erfrischend unprofessionell … es klingt, als wären sich zwei Menschen so vertraut , daß sie nicht mehr reden müssen, da beginnen sie zu singen, miteinander, füreinander … und zufällig lehnt da eine Gitarre …

Irgendwo tief innen in uns vergraben, liegt ein kleines Kind in der Krippe, und allein durch sein Lächeln zerplatzen die Dämonen der Angst und der Einsamkeit, ich weiß es genau, es ist nie zu spät, es zu suchen … Singen hilft … da bin ich sicher.

 

 

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 19 #Michael Helminger (Teil2)

Meine Mutmaßungen:

Klar ist, ich bin Deutscher. Meine Familie war und ist deutsch. Damit trage ich all die »deutschen Prägungen« in mir. Natürlich verschlüsselt. Verwoben mit meinen persönlichen Prägungen. Aber dennoch da.

Natürlich möchte ich mit großen Teilen der deutschen Geschichte nichts zu tun haben. Aber als Deutscher trage ich Urheberschaft ebendieser Geschichte in mir. Sicher nicht direkt. Aber indirekt. Ich trage nicht schwer, aber ich trage. Meine Existenz heute fußt auf den Urhebern damals. Und Urheberschaft ist nicht übertragbar, auch nicht ablegbar. Das gilt für den malenden Künstler ebenso. Er kann sein Werk vernichten, verschenken, verkaufen. Urheber bleibt er aber trotzdem. Nur die Personen, die das Werk an die Wand hängen, ändern sich.

Deutschsein. Was über all die Generationen hindurchwirkt, vermag ich nicht zweifelsfrei zu benennen oder auseinanderzudividieren. Ich weiß nur eines: Wäre ich in Italien zur Welt gekommen, mit italienischen Eltern und italienischen Großeltern, in einer mediterranen Landschaft. Ich wäre heute jemand anderes. Was aber anders wäre, kann ich wiederum nicht mit Exaktheit benennen.

Halbleer anstelle halbvoll. Zwei Grundgefühle. Eines ist für mich deutsch und eines nichtdeutsch. Minderwertigkeit, fehlende Authentizität, Unreife schwingt mit. Gibt den Ausschlag. Wahrscheinlich auch bei mir. Ebenso in der Biografie eines Adolf Hitler. »Leer« beinhaltet ironischerweise Potenzial. Zum »mehr« werden, zum »besser« werden. Zur bedingungslosen Höchstleistung. Dennoch ist Halbleer vorweggenommene Niederlage.

Die Angst vor dem Untergang. Vor Verlust. Zwei Pole, die, wenn sie zueinander finden, frei jeglicher Moral Grenzziehungen niederreißen. Ich weiß heute: meine (deutsche) Erziehung war eine Erziehung immer hin zum Halbleer-Sein, niemals zum Halbvoll-Sein. So bin ich wohl auch in dieser Hinsicht Deutscher.

Uneindeutigkeit. Gegenteil von Stringenz. Ein klarer, übergeordneter Zielfokus fehlt auch mir. Auf dem Weg Irgendwohin gibt es immer Umwege. In Teilstrecken bin ich als Deutscher zu ungeheurer Systematik fähig. Als Deutscher trage ich beide Seelen in mir. Die Seele des Disziplinierten. Die Seele des Leistungswilligen. Das sind die Aspekte mit denen wir Deutschen assoziiert werden. Auf der anderen Seite steht die Seele desjenigen, der vergessen hat, wo er eigentlich hinwill, weil Vorbilder nie wirklich da waren. Das ist das, was die Deutschen auf meisterliche Weise zu verbergen gelernt haben.

Des kleinen Jungen, losgelassen in die Welt der Großen. Vielleicht, weil fehlende Vorbilder das Karma der deutschen Geschichte darstellen? Mein eigener Vater eignete sich nicht wirklich als Vorbild. Die Figuren des 3. Reiches dürfen keine Vorbildfunktion haben. Aus früher Geschichte hat sich keine schillernde Figur erhalten. Das ist für mich die wichtigste Mutmaßung in meinem Deutschsein.

Deutsche Reflexion. Ja, ich glaube Uneindeutigkeit und die deutsche Variante von Minderwertigkeit haben etwas hervorgebracht. Widersprüchlichkeiten zum Ausgleich bringen zu wollen. Durch Für und Wider. Durch Madigmachen. Durch Provozieren. Durch Gegenrede. Durch Illoyalität. Durch Verweigerung. Selbst durch das gelebte Empfinden der Nicht-Zugehörigkeit. Durch sich selbst Zerfleischen. Eine Bedrohung für alle Rechten und wie ich heute gelesen habe »Rechtsintellktuellen«.  All das führt letztendlich zu einer dialektiktischen Betrachtungsweise – und, das ist mein fester Glaube: Zu einer lebenswerteren Gesellschaft, die nicht Widersprüche einebnet, sonder ausfechtet.

Und all das sind auch … deutsche Tugenden!

Text: Herr Graugans / Michael Helminger
Blog: Erkundungen in der Ungleichzeitigkeit

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 19 #Michael Helminger (Teil1)

Weiberschlucht das heißt Babyn Jar. In Kiew. In der Ukraine.
Ich stehe am Abgrund. Am 29. und am 30. September 1941 wurden 33.771 Juden hier an dieser Stelle erschossen. In großen Marschgruppen kamen die Juden. Aus der Stadt Kiew und aus der Umgebung. Freiwillig. In der Hoffnung auf Züge, die sie weiter in den Osten bringen sollten. Das hatten die Deutschen versprochen. Bereits in der Stadt an entscheidenden Kreuzungen Gestapo-Leute, die den Menschenstrom lenkten. Sie hielten sich im Hintergrund. Geordnet. Ein logistisches Großprojekt. Minutiös geplant. Präzise. Effizient. Ja, die Ukrainer haben geholfen. Bereitwillig. Mich interessiert aber die »Projektabwicklung«. Spezialisten. Gingen mit der Erschießung um, wie mit einem Großtransport, bestehend aus vielen Einzelteilen. Exakte Arbeitsteilung. Exakte Zeitplanung. Schichtdienst. Mechanisierung des Tötens. Großteils SS-Angehörige. Aber auch Wehrmacht.
Vorher »normale Deutsche«. Hinterher »normale Deutsche«. Die, die später nicht identifiziert und verurteilt wurden … also die Mehrheit … leben noch heute unter uns. Als geliebte Großväter. Viele, die irgendwann am Grab ihrer Großväter oder Väter standen, hatten keine Ahnung davon.
Ich stehe genau an dem Abgrund, an dem damals die Kiewer Juden heruntergestoßen wurden. Um unten in der Schlucht erschossen zu werden. Es ist November. Schneeregen. Lehmboden. Steile Schlucht. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich will nach unten  sehen. Verliere das Gleichgewicht. Komme ins Rutschen. Rutsche. Genauso wie die Juden damals. Hinunter zum Boden der Schlucht. Verdreckt stehe ich auf und gehe zurück zur Metro. Blonde Ukrainerinnen schauen mich skeptisch an. Im Zug geht man auf Abstand. Man will sich nicht schmutzig machen.

Meine Großmutter. Nimmt mit einem Blick der Ehrfurcht ein Buch in die Hand. Erzählt, dass sie dieses Buch all die Jahre retten konnte. »Solche Bücher gibt ja heute nicht mehr, sagt sie«. Auf dem Titel steht in Goldprägung »Unser Heldenkaiser«. Sie erzählt dann mit glänzenden Augen von ihrem Vater. Kaiserlicher Offizier. Später Bahnhofsvorsteher. Beamter. Ein stattlicher Mann. Sonntags immer Spaziergang mit Degen. Sie erzählt vom Kaiser. Dann von den Braunen. Scheußliche Uniformen. Schlechte Umgangsformen. Schlechter Stoff der Uniformen. Die schreckliche Ruhrbesetzung durch die Franzosen. Von ihrem Vater als Erniedrigung erlebt. Wollte zu den Freicorps. Aber zu alt. Hat die »Ruhrschmach« an sie weitergegeben. Sie zieht ein weiteres Buch aus dem Bücherschrank.  »Feind im Land«. Es steht noch ihr Mädchenname im Innentitel. Nein, sie war ganz sicher keine NationalsozialistIn. Sie stand für eine protestantisch-preußische Tradition. Sie glaubte an deutsche Tugenden. Für sie war »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen« keine Worthülle. Für sie war das eine Tatsache. Die Nazis haben alles vertan. Die Größe Deutschlands. Die Nazis waren in ihren Augen profan. Ohne Glanz. Ohne Würde. Das warf sie ihnen vor. Juden. Schreckliche Dinge. So war das eben… Dann schlägt sie die Frau im Bild auf, liest von irgendeiner hohen Heirat aus der hannoverischen Linie.

Ich denke nach. Deutschsein. Deutsche Tugenden. Deutsche Nation. Wann hat das begonnen? Viel später als gedacht. Norddeutscher Staatenbund ab 1866. Dann preußisches Kaiserhaus. Vorher zwar Römisches Reich deutscher Nation. Aber das war etwas Anderes. Bin kein wirklicher Geschichtskenner. Während in Frankreich und England schon kräftig an der Nationenwerdung gebastelt wurde, gab es in Deutschland Viel- bzw. Kleinstaaterei. Erst ab 1848 kann so allmählich von einer echten deutschen Nation gesprochen werden. Vielleicht sehen das Historiker anders. Kommt vielleicht daher so etwas wie ein immwährendes deutsches Minderwertigkeitsgefühl? Gute Geschichten wollen klar umrissene Helden, die zwischen Gut und Böse trennen. Die Tradition der starken Monarchen findet in Deutschland immer nur eine eher schwächliche Variante. Deutsches Kaiserhaus. Naja. Deutsche Kolonien. Naja. Wenn also Nationen so etwas wie Ideenwelten zur Ordnung der Welt sind, ist die in Deutschland verspätet und lange sehr schwach. Vor dem ersten Weltkrieg kommt mir Deutschland so vor, wie ein zu schnell gewachsener, altkluger Junge, der jetzt vehement und jähzornig auf sein Recht pocht. Flankiert von deutschem, völkischen Nationalismus: Wir mussten aufholen. Mangels glorreicher monarchischer Tradition kam das Argument der rassischen Stärke…

Mein Vater. Blond. Blauäugig. Erzählte mit Ehrfurcht von den deutschen Landsern. Er war noch zu jung für den Krieg. Zu jung für Volkssturm und all die anderen Dinge. War wohl gern gesehen bei den Nazigrößen der Heimatstadt. Eines Weihnachtens bekam er von meinem Großvater eine geschneiderte Kinder-Landser Uniform geschenkt. War stolz darauf. Es gibt Fotos davon. Hätte das tausendjährige Reich länger gedauert, wäre er sicher seinen Weg gegangen. Hat ins Bild gepasst. Germanisch. Deutsch. So hatte er Glück. Aber das sage ich und nicht er. Die Erlebnisse gaben dennoch Prägung. Für das ganze Leben. War immer konservativ. Nie ausgesprochen rechts. Immer unauffällig in der Mitte.

Meine Mutter. Aus Pommern. Pietistisches Elternhaus. Freie evangelische Gemeinde. Gibt des Kaisers was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist. Die Strenggläubigkeit bewahrte vor Nazi-Anhängerschaft. Eine Großtante, die in den frühen 30er Jahren als evangelische Diakonisse nach Amerika ging. Im Namen des Herren. Eine Tante die als Diakonisse nach dem Krieg in der DDR verblieb. Meine Mutter macht ihre Ausbildung in der noch jungen DDR. Kehrt nach einem Verwandtenbesuch aber nicht zurück. Zwei Jahre später werde ich geboren. In meiner Kindheit Pakete für meine Tante in die DDR. Ich musste immer einen Brief schreiben. Jedes Mal eine Tortur. Kannte sie ja gar nicht. Die Pakete hatten einen doppelten Boden. Da hinein kamen die guten Sachen. Die gute Schokolade. Als Kind hätte ich sie gern selber gegessen. Aber das durfte ich nicht laut sagen.

Protestantismus. Pietismus. Kant. Und ich. Pietismus kommt von Pflichtgefühl, Pflichtbewusstsein, Ehrfurcht, Frömmigkeit. In meiner Familie die vorherrschende Glaubensrichtung. Ich kann Frau Graugans nie erschöpfend erklären, was der Pietismus beinhaltet. Ich kann nur sagen, wenn ich einen Pietisten vor mir habe, erkenne ich ihn. Ich habe Antennen, ein »Gefühl« dafür. Pietismus mit seinem Pflichtgefühl gehört für mich nicht nur zu meiner Familie. Pietismus gehört zu Deutschland. Ein Stallgeruch.

In einem Quergedanken fällt mir Moritz Schreber ein, mit seiner Erziehung zur »Triebableitung«. Auch er hat etwas mit Pietismus und Deutschsein zu tun. Pietismus meint: Das körperliche, lustvolle verneinen. Immerwährende Verantwortlichkeit gegenüber »dem Herrn«, relative geistige Freiheit gegenüber »den Herren der Welt«. Verantwortung für das eigene Tun übernehmen, persönlich seinem Gott gegenübertreten.

Da begegnet sich der strenggläubige Pietist und der Aufklärer Kant. »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« oder auch »Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu werden, sondern um unsere Pflicht zu erfüllen.« Ja, wenn ich darüber nachdenke, komme ich aus dieser Gemengelage, glaube ich, daß dies zum Deutschsein zumindest in einer Facette gehört. Ich kann tun, was ich will, der leichtfüßige Papillon werde ich wohl nie werden…

Ein Ostpaket. Zu meinem Geburtstag 2018 erhielt ich von lieben Freunden ein Ostpaket. Mit Produkten, die zumindest markentechnisch ihren Ursprung in der ehemaligen DDR haben. Ich fragte, wie es war, wenn sie damals »Westpakete« erhielten. Eigentlich wollte ich fragen, wie das Leben in der DDR überhaupt war. Eigentlich war mir aber auch klar, dass es hier keine erschöpfenden Antworten geben kann. Das ist wie zur Zeit der »Westpakete«, wenn ein Foto meiner Tante zurück kam. Für meine Mutter eine Freude und sofortiger Anknüpfungspunkt. Für mich nur die Unmöglichkeit mit diesem Foto etwas zu verbinden. Fremde Erinnerungen, nicht meine Erinnerungen. Auch erkenne ich einen Unterschied in deutscher Wahrnehmung. Abgehängtsein ist ein Wort. Da ist nicht persönliches Abgehängtsein gemeint. Dafür gäbe es keinen wirklichen Grund. Da ist kollektives Abgehängtsein gemeint. Nicht wirklich angekommen sein. Eine Empfindung, die ich nicht haben kann, denn ich bin ja schon immer da… habe dadurch bereits meinen »Erbplatz«; bin kein neu hinzu gezogener.

Mutmaßungen über das Deutschsein? Nein, Mutmaßungen über das Deutschsein kann ich nicht liefern, liebe Frau Graugans. Wenn, dann Mutmaßungen »im« Deutschsein. Wenn ich den Versuch machte wäre es das gleiche wie jener aus Sparta, der sagte, alle Spartaner wären Lügner, obwohl ja bekannt war, dass die Menschen aus Sparta lügen… Hat jener jetzt gelogen oder nicht? Eine Form der Selbstreferenzialität. Viele fühlen sich dazu berufen. Weil sie glauben, man könne von außen in sich hineindenken. Draufsichten des Glashauses, in dem man selber sitzt. Drin sitzen und Draufschauen geht aber nicht gleichzeitig.

Deshalb überlasse ich das Draufschauen lieber anderen, die meinen, dieser Spagat wäre schaffbar und liefere weitere Gedanken am morgigen Tag …

 

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 18 #Irm und die Graugans

Kürzlich sagt der Moderator in einer Talkshow, er fände es sehr bedauerlich, daß man sich nicht mal mehr als befreundete Menschen „mal eben so“ anrufen könne, geschweige denn, besuchen … so ganz ohne Grund, und alle in der Runde nicken und bestätigen es. Ja, ein Ausdruck unserer Zeit, in der man jede Minute „effektiv“ verplanen muß, um nicht in Gefahr zu geraten, Zeit zu verschwenden.

Wir haben das gestern getan, meine Freundin Irm und ich. Sie kommt, einfach so, mitten in mein vorweihnachtliches Chaos hereingeschneit und wir setzen uns hin mit einem Tannenzweig und einer Kanne Tee. Dann lassen wir uns einfach reden, was so daherkommt.

Aus unseren Gedanken züngeln die Flammen, wir vergessen darüber, eine wirkliche Kerze anzuzünden. Ein altes Thema, das uns beide schon seit vielen Jahren beschäftigt, wird neu belebt durch einen aktuellen Dokumentarfilm: „Fatima – Das letzte Geheimnis“. Auf unterschiedliche Weise sind wir vom Katholizismus geprägt, hatten im Laufe des Lebens beträchtliche Auseinandersetzungen damit, Zweifel und Verzweiflungen und können doch, zumindest die spirituelle Seite, die weit über alles hinausragt, nie ganz verlassen … ein Thema für die Rauhnächte bahnt sich an …

Wie das so ist, wenn Kanne um Kanne Tee geleert wird und wir schmunzeln, weil meine Weihnachtsplätzchen krachen beim Hineinbeissen, bewegen sich die Gedanken weiter und weiter in diesem Wunder einer völlig zeitlosen Begegnung … was wissen die Menschen in diesem Land eigentlich von Weihnachten … eine ehemalige Bischöfin schreibt ein Buch für Kinder, um ihnen die frohe Botschaft zu erklären … denn die Kirchen sind zwar überfüllt an Weihnachten, aber wer weiß es, daß das Heil, nach dem wir uns alle sehnen, von einem kleinen Kind in tiefster Armut ausgeht, dessen Eltern man verjagte, weil sie nirgends erwünscht waren … vor ein paar Tagen war eine Mutter mit schwerster Depression, barfuß, im vor Angst vollgenässten Nachthemd, in ein Flugzeug gesetzt worden, hier in Bayern, in Deutschland, und abgeschoben nach Albanien, wo sie die Blutrache befürchten muß … meine Güte.

Und Dein Projekt, die „24 T. – Mutmaßungen …“,  wie geht´s damit … oh ja, gut ist es gelaufen, obwohl ganz viele Angeschriebene sich einfach nicht gemeldet haben,  nicht jeder mag auf einer fremden Bühne als Gast gerade bei diesem Thema ihr/sein Gesicht offen zeigen, ist schon in Ordnung.

Irm sagt:

„Als ich diesen Titel gelesen habe war es mir, als würde ein schwerer Mantel mich umfangen. Er zieht mich in eine Schattenwelt, die sich in mir auszubreiten droht. Unangenehm düster und schuldbelastet erscheint die Geschichte dieses Landes, das mich beheimatet. Irgendwie ein kollektives, schlechtes Gewissen, das sich mir aufdrängt. Vergessen all das andere, das mich in einem unglaublich reichen Land leben und trotz aller Ecken und Kanten in Freuden sein und tun lässt.

Deutsch sein – eine zutiefst eingepflegte Unsicherheit:

dürfen wir uns an unseren Talenten und Tugenden und deren Auswirkungen erfreuen – oder müssen wir den Blick dahingehend schärfen, dass ebendiese uns in zwei Weltkriege befördert haben? Welche dieser deutschen Tugenden sind denn an dieser Stelle von so großer Bedeutung?

Geht es nicht vielmehr darum, den Fokus auf das eigene Gedankengut zu legen. Das könnte eine schmerzhafte Wunde sein und dennoch lohnt es vielleicht, dieses Weh genauer zu erspüren. Gibt es vielleicht eine andere Seite der Medaille? – und könnte diese Vielschichtigkeit aus diesem Labyrinth von Schuld, aufgebaut in Generationen, einen Weg in eine andere Freiheit kennzeichnen?

Verantwortung für das weitere Ausmaß von Deutschsein versus ängstliches Betrachten von Deutschsein. Im Gegensatz zu Stolzsein für etwas – fern des eigenen Wirkungsbereiches – das scheinbar auf Neid und Angst vor Verlust und so einiges mehr fußt.

Auch wenn ich es manchmal nicht mehr hören kann – so scheinen mir Haltung und ein wertschätzendes Menschenbild, die Formeln für Frieden und Freiheit, sowie daraus folgende Zufriedenheit und Wohlstand zu sein und nicht so sehr die Pflicht, Pünktlichkeit, Sauberkeit und dergleichen, die uns so gerne beim Deutschsein zugeordnet werden.

Wenn ich mir für Weihnachten was wünschen könnte, so würde ich mich an Mitmenschen in meiner Heimat erfreuen, die sich mit einem Lächeln begegnen und die unglaublich anstrengenden Regelwerke wie:  schön, sauber geputzt und dekoriert, ordentlich und gepflegt im Äußeren und superfleissig in der Arbeit – einfach mal ins Kammerl sperren und die Seele baumeln lassen!

Ich freue mich auf ein weiteres Jahr in diesem wunderbaren Land mit dieser abwechslungsreichen Landschaft und mit Menschen, deren Herzen mich mit einer Großzügigkeit hineingelassen haben UND nicht zuletzt auf zauberhafte Märchen und Geschichten, welche ich auch immer mit Deutschsein verbinde!“

Es ist finster geworden, ich zünde die Kerze in der Laterne vorm Haus an und begleite Irm zum Auto … auf bald! Ja, auf bald , das ist alles noch nicht  zu Ende gedacht, nein, natürlich nicht, ich bleib dran! – ruft sie mir noch zu und fährt weg. Die Sterne funkeln auf einmal so stark wie noch nie in diesem Winter und der Schnee glitzert, wie die Augen meiner Freundin, wenn sie lächelt.

 

 

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 17 #Zeilentiger

Koordinaten

Nehmen wir „Deutsch-Sein“ als politische Kategorie, finden wir uns im Bereich des historischen Zufalls wieder. Die Geschichte ist so reich an Wendepunkten, dass das, was heute als „Deutschland“ bezeichnet wird, auch völlig anders aussehen könnte.

*

„Prima, dass wir uns so weit geeinigt haben. Dann können wir ja jetzt eine Liste aufsetzen, was wir alles dazu brauchen.“ Meine spanischen Freunde sehen mich verdutzt an. Eine Liste? Wozu denn das? Sie organisieren sich nicht in Listen.

Vielleicht waren es ja auch gar nicht Menschen aus Spanien – ich will mit diesen Zeilen schließlich nichts über irgendein Spanisch-Sein aussagen -, vielleicht waren sie auch aus Moldawien oder Tunesien, das ist einerlei. Die Liste aber, die ist mein.

Listen mochten ja auch die Nazis. Ich weiß nicht mehr, wer es sagte: Die Nationalsozialisten waren so blöd, dass sie selbst über ihre abscheulichsten Verbrechen penibel Listen führten.

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Im Arabischen bezeichnet al-nimsa das Land Österreich. Das Wort wurde über das Osmanisch-Türkische aus slawischen Sprachen übernommen. Aus der slawischen Wurzel nem(e)c, das deutschsprachige (eigentlich: stumme) Menschen bezeichnete, entspringt der heutige Name für Deutschland in einigen slawischen Sprachen. Als die damals über weite Teile Südosteuropas herrschenden Osmanen das Wort übernahmen (und es von dort ins Arabische weitergetragen wurde), war Österreich der wichtigste deutsche Staat Europas. Im Türkischen wird das heutige Österreich nicht mehr als nimsa bezeichnet, im Arabischen hingegen gilt dem eigentlichen Wortsinne nach – wenn man es auf seine Wurzel zurückverfolgt – bis heute die Republik Österreich als „Deutschland“, die Bundesrepublik Deutschland (almania) hingegen nur als nachgeordneter, nach einem Einzelstamm bezeichneter deutscher Staat.

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Der Schalter am Flughafen Manchester war nicht besetzt, die Schlange der Wartenden wuchs und niemand kam, um ihren Check-in durchzuführen. Die Unruhe nahm zu, hie und da ein Murren, zunehmende Schärfe in den Stimmen und den eruptiven Bewegungen der Fluggäste. Der Schalter aber blieb leer.

Als er doch endlich einmal besetzt wurde, teilte sich die bisherige Schicksalsgemeinschaft der Wartenden in zwei Lager. Das eine johlte und applaudierte höhnisch, rief Worte des Unmutes nach vorn. Sie alle sprachen deutsch. Das andere Lager blieb unbewegt, ja wurde desto unbewegter, je lauter das andere höhnte. Auch ich zog mich in die Stille zurück, nahm

aus meinem Gesicht jeden Ausdruck von Ungeduld, überhaupt Gefühl, und hoffte, so ganz im Lager der tadellos schweigenden Engländer zu verschwinden.

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Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, wirkte er sehr niedergedrückt, beinahe depressiv. Gründe dafür hatte er genug. Nun aber hatte sich etwas bewegt und plötzlich sprüht er vor Energie. Er strahlt so viel Kraft aus wie noch nie, seit er – aus Syrien geflüchtet und nach monatelanger Bewegungslosigkeit in einem Krankenhausbett – vor einem Jahr in Deutschland angekommen war. Innerhalb von sechs Wochen hat er deutlich abgenommen und aus seinem Blick spricht ein Wille, den er seit Jahren erprobt haben muss, sonst wäre er gar nicht zu diesem Punkt gekommen, an dem er jetzt steht.

Heute hat er Prüfungstermine erhalten für die Qualifikation, sich an einer deutschen Universität einschreiben zu dürfen. Der Termin liegt zu früh für seinen derzeitigen Sprachkurs und er hat Angst, nochmals ein halbes Jahr zu verlieren. Wir sprechen die Möglichkeiten durch, er überlegt, den Vorbereitungskurs parallel zu seinem eigentlichen Deutschkurs zu machen und vorzeitig in die Prüfung zu gehen.

„Wenn es erlaubt ist, mach das“, empfehle ich. „Es wird halt anstrengend.“

Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Anstrengend ist egal. Das spielt keine Rolle.“

Er meint es, wie er es sagt, und ich frage mich mit einem mulmigen Gefühl, ob ich in meinem Leben auch nur einen Bruchteil der Willensleistung aufgebracht habe wie er.

„Gibt es etwas an der deutschen Grammatik, das dir gefällt?“, frage ich später.

„Der Genitiv“, kommt es wie aus der Pistole geschossen als Antwort. Ich mache mir keine Sorgen mehr um ihn.

*

Wir sind als Individuen ein Kontinuum an Identitäten. In meinen Jahren in Stuttgart war mir wichtig, mich als Bayern-Schwabe zu bezeichnen. Zurück im bayerischen Allgäu, will ich nicht als Schwabe und noch viel weniger als Bayer betrachtet werden, sondern eben als Allgäuer – als den mich wiederum viele ‚Bergler‘ nicht sehen. In diesem schillernden Spektrum aus Identitäten, vom Bewohner eines kleinen Ortes bis zum Erdenbürger, vom Süddeutschen zum Europäer und so fort, ist das „Deutsch-Sein“ eine Ebene. Rechtlich relevant und sprachlich entscheidend, aber doch nur eine Koordinate des Kontinuums.

Text: Zeilentiger
Blog: Zwischen zwei Flügelschlägen

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 16 #Arno von Rosen

»Deutschsein«

Bin ich deutsch, nur weil meine Familie dieses Land seit 800 Jahren nicht mehr verlassen hat?
Bin ich deutsch, wenn ich mir Fähnchen an mein Auto stecke?
Bin ich deutsch, solange ich Parolen brülle, lauter als jeder andere?
Bin ich deutsch, wegen meines deutschen Passes?
Bin ich deutsch, weil ich Schnitzel und Bier mag?
Bin ich deutsch, aus Liebe zu Hunden oder Katzen?
Bin ich deutsch, da meine Eltern deutsch sind?
Bin ich deutsch, mit Deutsch als Sprache?
Bin ich deutsch, da mein besonderes Fest vor der Türe steht?
Bin ich deutsch?
Ich BIN deutsch! Ich könnte aber genausogut aus jedem anderen Land der Erde kommen und ich wäre noch der, der ich bin. Ich mag Menschen und Tiere, gutes Essen und ein gutes Wort, Gerechtigkeit gegen Jedermann, Gleichheit aller Menschen und Mahner, wenn es Not tut. Ich bin nicht besser oder schlechter als Du, Du oder Du, also stellt sich mir diese Frage nie, denn Du bist mein Nächster und wo Du auch herkommst, jetzt sind wir beide hier und machen das Beste daraus, denn Grenzen sind nur in unseren Köpfen, aber in unseren Herzen existieren diese nicht, und so sollte es immer sein.
Text und Bild: Arno von Rosen