Ich höre den Schlafenden träumen:
Teile dein Brot mit dem Fremden,
das Herz mit der Liebsten,
den Wein mit Vertrauten,
die Sitzbank mit Wolf und Derwisch.
Wirf keinen Stein ins Becken,
du verschreckst durstige Schafe.
Scheuche keine Vögel vom Weizenfeld.
Schließe die Tür nicht hinter dir,
lass deinen Schatten folgen.
Kaufe nur so viel du verdauen kannst.
Säe am Fenster,
was du nicht verkaufst, nicht einmal pflückst.
Betrachte dein graues Haar,
es zeigt, wie sehr die Eltern gealtert sind.
Begehe die Erde behutsam,
sie spiegelt deinen Körper.
Unterwirf dich nicht –
weder Gott, den Eltern noch einer Idee.
Glauben bedeutet zu lieben, nicht unterworfen zu
sein
und nicht zu unterwerfen.
Aus dem Buch: „Nachruf auf die Leere“ von Yamen Hussein
aus dem Arabischen von Leila Chammaa und Jessica Siepelmeyer
Vielen Dank an Dincer Gücyeter, der mir erlaubte, dieses Gedicht von Yamen Hussein, das mich bis in den hintersten Herzwinkel getroffen hat, hier zu veröffentlichen! Yamen, der Dichter aus Homs/Syrien, hat 2014 sein Land verlassen.
Also, anstrengend ist ein Literaturfestival schon, auch wenn es so wunderbar gestaltet ist wie das diesjährige Europa der Muttersprachen mit dem Schwerpunkt Ukraine! Ich weiß, daß ich nichts weiß über dieses Land, nicht mal so genau, wo es liegt. Und wer, bitteschön, soll sich noch auskennen in dem ganzen politischen Wirrwarr, den kriegerischen Auseinandersetzungen um ständig sich ändernde Abgrenzungen ? Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich nach diesen drei Abenden im Literaturhaus Salzburg besser die Hintergründe durchblicke, aber ich erfahre ein wenig, was heutige KünstlerInnen mit ihren Mitteln auf dem Hintergrund ihres Heimatlandes aus ihrem Leben preisgeben, wie sie ihre Erfahrungen verarbeiten…ja, ich mag es gerne, eine fremde Sprache zu hören, die immer vertrauter wird, aucch wenn ich sie nicht verstehe und ich liebe es, wenn es Menschen gelingt, dem, was sie zutiefst erregt und erschüttert eine künstlerische Gestalt zu geben…aus dem Unsäglichen formt sich Sprache, aus dem Unsichtbaren werden Bilder und aus unbegreiflichen Weiten am Rande jeglicher Existenz kommt das Unhörbare und schickt Töne bis in die Urgründe unserer Seele…
Gestern begann der erste Abend mit Kurzfilmen von ukrainischen FilmemacherInnen, die alle so um die dreissig Jahre alt sind. Nicht zu beschreiben diese Filme, weitestgehend tonlos, reine Bilder…Spürungen durchströmen mich, als ich die Plattenbaustädte sehe, ich denke an den Blick aus dem Fenster am Stadtrand von Leipzig, letzten November…eine Plattenbausiedlung, und auch an den Blick aus dem Hotelfenster erst kürzlich in Berlin. Da sah ich oft nachts über den Hinterhof auf die grauen Mietskasernen und dachte mir, daß man schon brutal einsam sein kann nachts in so einem Zimmer…
Bei der Eröffnung der Fotoausstellung mit der anwesenden politisch höchst aktiven und engagierten Fotografin Yevgenia Belorusets hätte ich nicht mehr zu sagen gewusst, was mir mehr unter die Haut ging: die Kunst, solche Bilderreihen herzustellen, die keines Wortes mehr bedürfen, die aus sich heraus Geschichten erzählen über die Arbeit im Bergwerk, die Angst, die unglaubliche Hilflosigkeit, nicht das Geringste tun zu können, um die drohende Schließung zu verhindern, Existenznot und in der absoluten Hoffnungslosigkeit dennoch „Die Siege der Besiegten“ herauszuarbeiten, ohne, wie die Fotografin sagte, in irgendeiner Weise zu beeinflussen, wie sich die Menschen auf ihren Bildern darstellen wollten…
…oder das, was Yevgenia Belorusets insgesamt über ihre Arbeit unter den Bedingungen ihres Landes zu sagen hatte…und noch dazu, was sie in perfektem, makellosen Schriftdeutsch über Walter Benjamin sagte, dessen Aufsatz über „die Siege der Besiegten“ ich dringend suchen und nachlesen muß!
Dann kamen zwei Schriftstellerinnen: Kateryna Babkina und Natalka Sniadanko. Da der zweite Abend bald beginnt, und wir schon sehr früh losfahren müssen, um in der Parkplatznot in Salzburg irgendwann irgendwo das Auto loszuwerden für fünf sechs Stunden, und ausnahmsweise mal keinen Strafzettel zu kassieren, werde ich hier und heute nichts über die Lesungen gestern sagen, sondern die #Bücher lesen und dann darüber berichten!
Der Schlußpunkt gestern kam in Form von Musik, es waren leider nur noch halb so viel BesucherInnen da und die hingen schon ziemlich müde in den Stühlen.
Mariana Sadovska trat auf und sang Lieder, die sie in entlegenen Dörfern der Ukraine gehört hatte, heidnische, uralte Gesänge voller Magie und Zauberkraft…heute wird sie wieder singen und ich werde morgen davon erzählen…nur soviel sei gesagt:
Es gibt Musik, die dringt in die hintersten Kammern der Seele und bei diesen Gesängen da spüre ich eine Sehnsucht, die hineinreicht bis zum Urgrund allen Seins und sie mündet in eine Verbindung , eine Verschmelzung mit allem was war und was ist und was jemals sein wird und ich wäre nicht ich, wenn ich nicht sagen würde, daß es Liebe ist, was mich dabei durchströmt…
Wer irgendwie in der Lage ist, heute und morgen dieses Festival zu besuchen, sollte es tun, unbedingt!!!
„Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.“ …Franz Kafka
Nach unzähligen gescheiterten Versuchen, mich Kafkas Fragment „Das Schloß“ lesend zu nähern, hatte ich längst aufgegeben.
Eine Begegnung mit Jaroslav Rudis und der „Kafka Band“, die er zusammen mit dem Zeichner Jaromir 99 mit Mitgliedern anderer tschechischer Bands (z.B. Priessnitz) ins Leben gerufen hatte, veränderte meine Sicht so total, daß ich zu diesem großen Text heute tiefe Verbundenheit fühle.
Eine ganz eigenArtige Magie entsteht durch das Zusammenwirken von Vorleser, Musik, SängerIn und animierter Zeichnung.
Und – ich liebe es, mir Geschichten erzählen zu lassen, von Menschen, die das mit so großer Spielfreude tun und mir Sinnenbalsam schenken.
Kafka Band:
Jaroslav Rudis, Jaromir 99, Dusan Neuwerth, a.m.almela, Iiri Hradil Zdenek, Iurcik Tomas Neuwerth Clad
„Zunächst war K. froh, dem Gedränge der Mägde und Gehilfen in dem warmen Zimmer entgangen zu sein. Auch fror es ein wenig, der Schnee war fester, das Gehen leichter. Nur fing es freilich schon zu dunkeln an, und er beschleunigte die Schritte.
Das Schloß, dessen Umrisse sich schon aufzulösen begannen, lag still wie immer, niemals noch hatte K. dort das geringste Zeichen von Leben gesehen, vielleicht war es gar nicht möglich, aus dieser Ferne etwas zu erkennen, und doch verlangten es die Augen und wollten die Stille nicht dulden. Wenn K. das Schloß ansah, so war es ihm manchmal, als beobachtete er jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondern frei und unbekümmert, so, als sei er allein und niemand beobachte ihn, und doch mußte er merken, daß er beobachtet wurde, aber es rührte nicht im geringsten an seiner Ruhe, und wirklich – man wußte nicht, war es Ursache oder Folge -, die Blicke des Beobachters konnten sich nicht festhalten und glitten ab. Dieser Eindruck wurde heute noch verstärkt durch das frühe Dunkel; je länger er hinsah, desto weniger erkannte er, desto tiefer sank alles in Dämmerung.“ Franz Kafka
Aus dem „Mond der reifenden Beeren“ ist längst eine Sichel geworden, das Rad dreht sich weiter, nach dem 63. Geburtstag kommt das 64. Lebensjahr. Nichts bleibt, gar nichts, alles vergeht und ändert ständig seine Gestalt. Der Körper wird weiter verfallen, um sich irgendwann abzustreifen und davonzufliegen. Wilde Kräfte sind am Werk, der Feuerdrache bläst heisse Wüstenluft über das Land, das schon nach Herbst riecht. Aber „noch“ ist Sommer. „Noch“, nicht mehr abzuschütteln wie „Seniorin“ und so manche andere Gemeinheit. Wenn schon, dann müsste es „DENNOCH“ heißen! Dennoch tanzen, dennoch schreien, singen, jauchzen, spinnen, in den Wald laufen, die Dinge verwandeln, Freude in die Augen der Menschen zaubern, aufregen, trommeln und nicht aufgeben, weiterhin Didgeridoo zu lernen, grad extra! Ja, und „Schreiben als Dennoch“, wie es der versteckte Poet formuliert hat, der leider noch immer verstummt ist, ich vermisse ihn!
Und dennoch die Musik laut aufdrehen und einen dieser wilden jungen Männer mit den alten Gesichtern singen lassen.
Es gibt junge, wilde Männer mit jungen Gesichtern, die wunderbare Musik machen, in der ist die wilde, ungestüme Kraft des Aufbruchs, alles beginnt neu und sie stürzen sich in das Leben, das vor ihnen liegt, alles wird sich erst formen, alles ist noch möglich… lieben tu ich die jungen Männer mit den alten Gesichtern, denen man das Leben ansieht, das sie gelebt haben, und in deren Musik alles ist, was ein Mensch erleben kann, die ganzen Freuden, aber auch die Einsamkeiten und all die Schwere der Existenz. Alles, alles und dennoch!
Bei einem dieser alten, jungen Männer geschieht dieses Wunder, das nicht zu erklären ist, ein Phänomen, das ich nur Liebe nennen kann in Ermangelung jeglicher Begrifflichkeit, einer der so Musik macht, muß ein übervolles Herz haben!
David Gilmour rettet mir förmlich das Leben, sobald er den ersten Ton spielt!
Ich möchte dieses Erlebnis gern mit Euch teilen als Dank für die lieben Worte und Wünsche und was noch so alles daherkam, um mich trotz Melancholie in mein neues Lebensjahr hinüber zu schubsen, hab mich sehr gefreut darüber und überhaupt freue ich mich immer sehr über alles, was Ihr hier hinterlasst, auch über die bunten Bildchen, jeder Klick erscheint mir wie ein Lichtzeichen aus fernen Galaxien, herzlichen Dank an alle und Eure wertschätzende Beachtung!
Vor mehreren Wochen, um mich nicht ganz in den düsteren Welten von Ole Knausgard zu verlieren („Es hat alles seine Zeit“), wollte ich zwischendurch was anderes lesen und griff zu dem Buch: „Das Paradiesghetto“ von Eberhard Rathgeb. Kein dickes Buch, 235 Seiten. Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf, es geht mir nach, verfolgt mich, nein, nicht bedrohlich, leise und unauffällig ist es in meinem Leben aufgegangen und ich sehe es in meinen Augen, wenn ich in den Spiegel schaue. Es ist die völlig unspektakuläre Geschichte einer alten Frau, Mutter von vier erwachsenen Töchtern und Witwe, die alleine in ihrem Haus lebt, ihren täglichen Verrichtungen nachgeht und über ein Leben, ihr Leben, nachdenkt. Und sie sinnt nach über Fragen, auf die sie keine Antworten bekommt…oder sollte ich sagen, daß sie über Antworten nachsinnt, zu denen sie nie die richtigen Fragen gestellt hatte? Ich ahne Geheimnisse und ich ahne, daß sie sie auch ahnt, warum wurden denn soviele Dinge nicht angesprochen, frage ich mich. Eine müßige Frage und nicht zu beantworten.
Ein Buch voller Melancholie, Lebensüberdruss, Einsamkeit, einem alten, lästigen Körper, Schrulligkeiten, fixen Ideen, einer ungeklärten Schuld…nein, nicht zu viele Worte machen…es ist die einfache Geschichte einer alten Frau, deren Leben zu Ende geht, erzählt von einem, dem ich sie glaube.
„Sie hatte das Glück nicht gemocht und war mit ihrem Unglück alt und einsam geworden. Sie wusste, dass sie nicht in Frieden sterben würde. Die Unruhe blieb, der Zweifel, das Mißtrauen, die Empörung und eine ungewisse Sehnsucht. Das Leben zog sich aus ihr zurück, müde und schwermütig, wie nach einer Niederlage, ganz so, als sei ihr nicht zu helfen gewesen.
…
Sie saß im Sessel, die Beine ausgestreckt auf dem niedrigen Tisch vor sich, und schaute in die Leere zwischen den Dingen, die sie überleben würden.“
Das Paradiesghetto
Eberhard Rathgeb
Carl Hanser Verlag
2O14