Archiv für den Monat: Januar 2025

# 75 „Bin ich der einzige der so lebt?“ (Charles Bukowski)

Der Föhn, der mit seiner falschen Wärme in den letzten Tagen verlogene Frühlingsgefühle in Mark und Bein säuselte, hat sich in kalten Sturm verwandelt und ist zusammengebrochen. Sturzbäche fallen vom Himmel, die genauso grau daherkommen wie die  darauffolgenden Schneeflocken und wie überhaupt der ganze Tag.

Ich liebe diese grauen, naßkalten Tage im Januar und daß sie so schonungslos wahrhaftig die ehrliche Häßlichkeit ringsherum zeigen, bevor die Welt wieder mit dem sogenannten Schönen geschmückt wird, das aus großen Containern farbenprächtige Wegwerfblumen über dem Land auskippt und allerorten für Verhübschung sorgen soll.

Ich lasse mich treiben, tief in das Grau hinein und wären da nicht meine roten Strümpfe, so würde ich mit dem Hintergrund verschmelzen und verlorengehen.

Neben mir liegen „439 Gedichte“ ( Zweitauseneins) von Bukowski. Als ich das Buch betrete wie eine seltsam vertraute und doch fremde Welt und herumgehe in den Geschichten aus seinem Leben ist es früher Nachmittag, mit Müh und Not finde ich wieder heraus bei völliger Dunkelheit. Es ist Nacht geworden darüber. Ich kann jetzt verstehen, warum dieses Buch bei Menschen auf dem Nachtkästchen liegt, um jederzeit in schweren Nächten sich aufrichten zu lassen von dieser schonungslos ehrlichen Poesie der Straße, der Existenz nicht nur am Abgrund sondern mittendrin im Dreck … und dann dieser leise Humor, der genau dort, wo es absolut nichts mehr zum Lachen gibt, sich darüber erhebt und, so gut es halt geht, den Rücken aufrichtet und sich einen Jux macht aus dem ganzen Wahnsinn dieser Welt. Ja, lieber Mr. Bukowski, selbstverständlich müsste man Gott dringend fragen, warum er in München herumhockt und grünes Bier trinkt!

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 74 Aquarius

Steinbock übergibt Wassermann den Stab und einen kleinen Kristall mit einer eingeschlossenen Sehnsucht.

Sternkundige der alten Zeit berichten von einer Vision: Die Gottheiten verlangten nach dem Wasser des ewigen Lebens und fragten, wer den größten Mut habe, es ihnen zu bringen. Nur einer nahm den Krug und ging hinauf auf den Olymp und weiter, bis dahin, wo keine Materie mehr existiert … dort überreichte er den Gottheiten den Krug mit dem Wasser des ewigen Lebens, und so sind sie unsterblich geworden.

 

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

„Fremde Zärtlichkeit“

 

In meiner Schulter zuckt eine Idee.
Ein Liebespaar wandert die Hecken entlang
Arm in Arm, lächelnd und sehnsuchtsbang …
Auf die Berge Jütlands fällt blau der Schnee.

Ich trage so viel fremdes Leid
Und wein für andre viele Tränen.
Ich fühle unbekanntes Sehnen
Und gebe fremde Zärtlichkeit

Emmy Hennings
(In: Helle Nacht, 1922)

 

 

 

# 73 Wesentlich werden

Noch ist Steinbockzeit.
Das Land ruht in Winterstarre.
Eisig kalt weht der Wind herab von den Bergen.
Im Hochgebirge auf ausgesetztem Felsbrocken steht
regungslos und einsam der strenge Wächter.
Eine große Verantwortung trägt er.
Er kennt den geheimen Schatz
und
er weiß, wo er wächst,
der Bergkristall.

 

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 72 Abgesang

Jetzt haben sie es also abgerissen, das Moorbad. Vor 100 Jahren konnte man sich dort warme Wickel machen lassen und darin baden in diesem schwarzen Moorschlamm, den sie hinter dem Haus ausgegraben haben. Ich kenne dieses Gebäude schon mein ganzes Leben lang und es waren mir Haus und Ort lebenslang immer ein wenig unheimlich. Es stand, umringt von alten, finsteren Tannen, direkt an der Bundesstraße, und in den Jahrzehnten wuchs es immer mehr zu mit wilderndem Gebüsch. Niemand wusste so recht, was sich in diesem Haus abspielte, nie sah man irgendjemand auf dem Balkon oder um das Gebäude herum gehen oder sitzen. Es standen immer ein paar Autos auf düsterem Parkplatz, ja, düster war es dort. Irgendwann hieß es dann „Tannenhof“ und war angeblich eine Frühstückspension für Vertreter und allerlei Gestalten, die vorübergehend eine Bleibe brauchten. Manch einer vermutete rote Laternen im Fenster.

Man kann die Straße nach Osten nicht benutzen, ohne an diesem Ort vorbeizukommen. Und jedes Mal, wenn ich dran vorbeifuhr, unterstellte ich ihm ein Geheimnis, oder sogar mehrere und manchmal dachte ich an den „Tanz der Vampire“, an schön gekleidete Menschen, die im Walzertakt über das glänzende Parkett eines Saales gleiten, beleuchtet von tausend Kerzen in tausend Spiegeln, in denen sonst nichts zu sehen ist …

In den letzten zehn Jahren verfiel das Gebäude zusehends, hin und wieder war abends noch ein einziges Licht in einem einzigen Fenster zu sehen. Das endgültige Sterben begann, als der Parkplatz zu einer Art Gebrauchtwagendeponie umfunktioniert wurde. Abgestellte Autos bedeuten den unumgänglichen Tod eines Ortes.
Als der Besitzer vor zwei Jahren gestorben ist, hat die Gemeinde das Anwesen gekauft und dann wurde der Abriß geplant, um den Ort einer Neubebauung zuzuführen, zuvor muß aber der Moorboden untersucht werden.

Jetzt ist alles weg, nur ein großer Bagger steht noch am Rand. Sehr sehr leer ist es dort. Abgeschnittene Baumstümpfe stehen im Halbkreis um diesen so furchtbar leeren Platz. Ein paar vom großen Aufräumen vergessene Tannenäste ragen wie spitze Knochen an einem Gerippe aus dem Schneematsch, der an etlichen Stellen vom Blut der alten Hagebutten durchtränkt ist. Wäre ich doch eine Dichterin, dann würde ich diesem Ort ein Gedicht schenken. Einen poetischen Abgesang für einen sehr merkwürdigen Ort würde ich schreiben, an dem jetzt eine Stille herrscht, die so laut ist, daß sie den Lärm der Straße übertönt. Ich wollte den Platz betreten, an dem Haus und Bäume standen, aber es ging nicht, die Luft darüber ist so verdichtet wie unsichtbare Wände, an diesem verlorenen Ort mit dem verlorenen Haus und den verlorenen Menschen und ihren verlorenen Geschichten.

Ja, vielleicht sind es die Geschichten, die noch über dem leeren Platz hängen und die Zeit wiegt sich noch in den Tannenwipfeln und die Hoflaterne schwankt im Wind und die Schicksale stöhnen in den Menschen und eine Türe geht auf und man hört leises Lachen … bald, bald wird auch das vergangen sein.

Und hier schreibt die Kraulquappe