Archiv der Kategorie: Dienstag Nacht 23.12 Uhr

# 67 Das Wispern der Dinge

Das Jahr geht langsam in die Knie und alles versinkt im Nebel. Pluto, der mächtige Herrscher der Unterwelt, dem das Zeichen Skorpion untersteht, arbeitet gerne im Verborgenen. Man könnte ihn auch den Chef des Geheimdienstes nennen, wenn man aus dem Horoskop eine Geschichte erzählt, die in einem Märchenschloß spielt. Man sollte ihn niemals unterschätzen, auch wenn es da leise ist in der Unterwelt, heißt das noch lange nicht, daß hier nicht gearbeitet wird. Hier laufen die Fäden zusammen und irgendwann kommen die Dinge ans Licht und können schmerzhafte Umwälzungen mit sich bringen, immer verbunden mit tiefen Wahrheiten, denen man sich stellen muß.

In Geschichten aus uralten Zeiten wurde mir einst von den „Skorpionmenschen“ erzählt. Bevor die Menschen nach ihrem Tod vom Fährmann … in älterer Zeit von den Fährfrauen … über den Styx hinüber ins Totenreich gerudert wurden, waren sie in Begleitung der Skorpionmenschen. Die brachten sie dorthin, wo sie dann das Boot besteigen konnten. Nur die Skorpionmenschen hatten den Mut, mit den Verstorbenen in diese Grauzone zwischen Leben und Tod zu gehen und ihnen den Weg zu weisen. Niemand sonst hätte das gewagt. Nur sie konnten den Verstorbenen die Hand geben, um über diesen schrecklichen Abgrund der Furcht mit diesem einen Schritt hinüberzusteigen und dann die Hand loszulassen …

Mehr wird nicht berichtet über diese geheimnisvollen Skorpionleute an der Schwelle zwischen den Welten.

Ich stehe nicht gerne am Familiengrab. Ich bin gerne auf Friedhöfen, aber ich mag es nicht, wenn ich dabei beobachtet werde. An Allerheiligen ist der Unterschied Stadt/Land besonders zu spüren. Ich verweigere seit Jahren den sogen. Gräberumgang auf dem dörflichen Gottesacker, aber ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, nicht vor dem Familiengrab zu stehen, wie alle anderen. Ich mag diese Blicke nicht, mit denen ich taxiert werde und ich spüre sie, auch wenn mich niemand anstarrt dabei. Da ist dieses alte Gefühl, nicht hier und auch nirgendwo anders zu genügen und dazuzugehören, außerhalb aller Gemeinschaften zu stehen. Das ist ein altes Dilemma, ich kenne es schon aus Kindertagen und immer noch ist es schmerzhaft und geht einfach nicht weg. Zu Gemeinschaft in ländlicher und dörflicher Umgebung nicht zu gehören ist ungleich schmerzhafter als das anonyme Nichtdazugehören im urbanen Raum, das mir auch sehr vertraut ist. Früher hab ich mich manchmal auf irgendeinen städtischen Friedhof vor ein verwaistes Grab an Allerheiligen gestellt und gehofft, die eigenen Altvorderen mögen mir diesen Fauxpas vergeben.

In einer kleinen Anzeige in der heutigen Regionalzeitung schreibt ein Mann, daß er einst als Soldat hier stationiert war und jetzt auf der Suche nach einer bestimmten, heute ca. 80 jährigen Frau ist, weil er einen Fehler von damals wieder gut machen möchte. Ich wünsche ihm sehr, daß er sie findet, egal, was passiert.

Bei einem weiteren Versuch, in Haus und Hof aufzuräumen und Überflüssiges  wegzuwerfen, damit die angesammelten Berge der „Schaddrums“ sich endlich reduzieren, fallen von irgendwo her ein paar kleine blecherne Engelsflügerln heraus. Wahrscheinlich ein Prototyp, noch unbemalt, die mein Vater mit einem Reißnagel an den Rücken eines seiner selbstgeschnitzten kleinen Engel angenagelt hätte. Er hatte Freude daran, aus Holz diese frech lachenden Engerln zu schnitzen, aber wie bei allem, was mein Vater herstellte,  war immer irgendein Teil aus Blech, er war halt Kunstschmied und in großer Leidenschaft dem Eisen und sonstigen Metallen zugetan.
Und dann ist da noch diese alte, total verbeulte unbrauchbare blecherne Gießkanne, Spritzkrug sagte man in der alten Sprache dazu. Und mit einer roten Farbe, die die vielen Jahrzehnte überdauert hat, steht MAX drauf. Der Max, ich glaube, das war der Lieblingsbruder von meinem Papa. Ein künstlerisch hochbegabter, sehr sanfter und stiller Mensch muß er gewesen sein. Er ist elendiglich an Knochentuberkulose zugrunde gegangen, weil sie dem Krankenhaus nicht vertraut haben, und ihn deshalb nicht einweisen ließen, das warf mein Vater seinen Eltern vor. Vielleicht konnten sie es auch nicht bezahlen, ich weiß es nicht. Es ist eine sehr traurige Geschichte und auf einem alten Foto sind da große Schmerzen und viel Traurigkeit in einem lieben Bubengesicht zu erkennen. Meine Großmutter hat oft geweint, wenn sie mir von der schrecklichen Auswegslosigkeit des Schicksals ihres Kindes erzählt hat.
Und dann finde ich auch noch die alte graue Joppe aus der Zeit, als mein Papa noch ein junger Kerl war; er war ein 25iger Jahrgang, nächstes Jahr würde er 100 Jahre alt, wie alt ist dann diese Joppe? Vor mindestens 80 Jahren hatte er sie bei Festen und Tanzveranstaltungen an.

Ach ja, und hier liegt das ganze Zeug herum und verströmt Erinnerung und Vergänglichkeit, niemand braucht diese Sachen und doch bring ich es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen.

Manchmal strahlt ein Licht aus dem Inneren der Dinge heraus und leuchtet in die geheimen und verborgenen Räume, die es in und um uns herum gibt und läßt alles glänzen und wenn man in sich hineinhorcht, dann ist da ein leises Wispern…

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

# 66 Tiefe Gleise … nachhaus

Nach langen Sommermonaten, in denen der kleine See überqillt vor badender Feriengäste, die dort inmitten von Fettaugen der Sonnenölindustrie herumplantschen, gehe ich wieder einmal den Uferweg entlang in der Dämmerung. Leichter Nebel breitet sich aus in der Mitte des dunklen Sees. Dahinter das uralte Augustiner – Chorherrenstift auf der Halbinsel. Es erscheint doppelt, in der Welt und in der Gegenwelt im Wasser. Um diese Zeit, in der blauen Stunde, geht niemand mehr spazieren, aber es ist die Zeit derer, die ihre Lauf-Trainingsrunden drehen. Diesmal sind es drei junge Frauen, die mir nach und nach entgegenkommen, oder sollte ich besser sagen ihre Handies, die sie laut redend vor sich hertragen. Wortfetzen dringen an meine Ohren, die meisten nimmt der Laufwind mit, nur einmal höre ich: „und jetzt steht sie alleine da und alle sind gegen sie“… Wer immer sie ist, sie tut mir leid. Die Läuferin, die das sagt, zieht an einer kurzen Leine einen ganz kleinen Hund hinter sich her, der genauso mager, nahezu dürr ist, wie sein Frauchen … Als ich weitergehe, überholt mich ein freundlich grüßender junger Mann und ich sage zu ihm: Du bist ja so leise, hast du gar keinen Handy zum Reden? Wir lachen beide und er ruft mir beim Weitergehen noch zu: „Die Leut können nimmer allein sein, gell!“

An der Straße steht ein riesiger Kran. Ich liebe Kräne, tragen sie doch den Himmel auf dem Arm. Hier hat er Fertigbauteile angeschleppt fürs neue Haus. Das alte kleine Häuschen aus den Fünfzigerjahren hat wohl niemandem mehr gefallen und wurde abgerissen. Jetzt steht da so ein seelenloser Betonklotz auf eingeebnetem Boden, der alte Garten wegplaniert, die  vielen Blumen und Sträucher  alle ausgerissen. Früher standen da kleine Zwerge herum und im Winter war da immer eine Reihe Rosenkohl und eine Reihe Grünkohl, aber wer braucht das heute noch?

Ich fahre immer von den Bergen weg und dann wieder auf sie zu. Wir leben nicht direkt in den Bergen, aber wir haben sie bei Bedarf ganz schnell in Sichtnähe. Wir leben inmitten von hügeligem Alpenvorland, einer eher unscheinbaren Gegend ohne Sensationen. Die Erde ist vom vielen Regen durchnässt und wenn schwere Traktoren drüber fahren, hinterlassen sie tiefe Furchen im Boden, Geleise, sagen wir hier dazu. Mit dem Rad ist es derzeit unangenehm, auf den wenigen Feldwegen zu fahren, dicke Erdbrocken liegen herum, herausgeschleudert bei der Bearbeitung der Felder. Das Land tut mir leid, es ist zu kleinflächig, die Wege und Täler zu eng für die riesigen Maschinen, sie haben keinen Platz. Wenn sie bei uns vorbeifahren, verbreitern sie gewalttätig die zu enge Straße in den Hügel hinein, reißen an den Rosenbüschen und das alte Haus zittert. Sie fahren trotzdem.

Am Straßenrand blüht immer noch die zarte blaue Wegwarte. Und der Breitwegerich hält seine Blätter bereit, er würde sich jederzeit lindernd unter die wund gelaufenen Sohlen von manch einem Wandersmann legen. Früher kamen noch hin und wieder Handwerksburschen des Weges, sie waren meist ausgehungert und setzten sich auf die Hausbank zum Rasten. Und meine Großmutter, so erzählte der Vater, gab ihnen immer was zum Essen. Das war ihm immer ein Rätsel, wie sie es anstellte, daß die sieben Kinder nie hungern mußten und, daß das wenige was sie hatten auch noch mit noch Ärmeren geteilt wurde. Meine Mutter, die ja auch nie Geld hatte, den Hausiererinnen was abzukaufen, lud sie immer zu einer Suppe ein und einem Stück Brot. Auch der Gerichtsvollzieher, mit dem meine Eltern ein nahezu freundschaftliches Verhältnis hatten, saß zeitweise öfters stundenlang in der Stube und bekam kostbaren Bohnenkaffee im Häferl gekocht. Viele Jahre lang habe ich nicht verstanden, warum dieses Ding, das aussah wie eine Briefmarke im Uhrenkasten lag und Kuckuck hieß. Mein Vater hat ihn Zeit seines Lebens dort aufbewahrt zur Erinnerung. Der Gerichtsvollzieher kam noch ab und zu auf Besuch, auch als er das beruflicherseits nicht mehr mußte, irgendwann blieb er ganz weg und ist lange schon gestorben.

In ein paar Tagen ist Allerseelen. Ich backe Totenbeinli und einen Seelenwecken (Hefezopf mit viel Rosinen und Puderzuckerglasur) und werde einladen zum Halloweentanz. Die Membran zu anderen Räumen und Welten ist dünn in dieser Nacht, so sagen die Alten. Wer weiß, wieviele sich zum Kreis aufstellen werden und draußen herumflattern um das Kürbislicht herum in der Nacht. Und ich werde wieder einmal ein Lieblingsbuch lesen: „Das Graveyardbuch“ von Neil Gayman. In dieser Geschichte lebt Nobody Owens, ein kleiner Junge, auf einem Friedhof und wird dort liebevoll von Geistern und Untoten betreut und umsorgt. Es gibt natürlich einen Feind und alle müssen große Abenteuer bestehen, um ihn zu bekämpfen. Meine Lieblingsfigur in diesem Buch ist die Graue Dame, sie sitzt hoch zu Roß und ist zuständig für den Transfer zwischen den Welten.

Und wenn wie immer seit Jahrzehnten um diese Jahreszeit „E.T. der Außerirdische“ im Fernsehen läuft, werden wir ihn selbstverständlich wieder ansehen, auch wenn wir schon die Dialoge mitsprechen können und wir werden wieder nasse Augen bekommen, wenn er sagt: „E.T. nachhaus telefonieren …

… nachhaus!“

 

Und hier steht, was die liebe Kraulquappe so erlebt in der großen Stadt!

 

 

 

 

 

# 65 Der Kessel

Still ist es draußen, im Dorf sind die Fenster schon dunkel, nur bei mir brennt noch Licht. Hin und wieder rast ein Auto über die schnurgerade Bundesstraße durchs Tal. Dichte Wolken bedecken den Himmel und verschlucken den Mond. Der Igel schiebt klappernd den leergefressenen Katzenteller vor sich her, dann verschwindet er im Gebüsch. Ein paar Rehe husten, irgendwas flattert aufgeregt durch die Luft, dann ist es wieder ruhig.

Wenn es ganz still ist, meine ich sie manchmal zu hören, die Schritte derer, die einst über das Pflaster der Kirche gingen vor unzähligen Jahrhunderten … die Armen barfuß, die Reichen mit Lederschuhen. Dieses Pflaster aus einer romanischen Kirche in Belgien brachte eines Tages ein Lastwagen zu uns und seit damals liegt es in unserem Hausgang und der Rest vor dem Haus und wenn ich auf der Hausbank sitze, dann stehen meine Füsse auf uraltem Kirchenboden. Und wenn ich durchs Haus gehe, durchschreite ich einen sakralen Raum. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke. Auch daran, wie Vaters Freund, unser Hausmaurer, geflucht hat beim Verlegen, weil ihm die Knie so furchtbar wehtaten. Jahrelang haben sie von dieser Prozedur gesprochen, viele Jahre ist er immer samstags gekommen, um das erhalten zu helfen, was die zerbröselnden Zeitläufte vom   alten Haus noch übriggelassen hatten. Jetzt sind sie beide schon lange tot. Ein Foto gibt es von ihnen, da sitzen sie nebeneinander auf der Hausbank und spielen die Ziehharmonika. Früher hörte man an Sonntagen immer von irgendwoher eine Zugharmonie, wie mein Vater sie nannte.

Auch wurde in manchen Häusern gesungen, ich hab sie noch im Ohr, meine jetzt über 90jährige Nachbarin hat immer mit ihrer Mutter gesungen. Auch bei uns wurde  viel gesungen, sie hatten alle dieses besondere Gehör und deshalb hielt das niemand für was Besonderes. Es gibt so Nächte, heute ist eine davon, da bin ich hellhöriger als sonst, ich höre sie, auch meinen Vater, der als Lehrbub sich hin und wieder eine Stunde zum Zitherlernen leisten konnte. Erst kürzlich habe ich seine vom Mund abgesparten Zithernoten gefunden, wehmütig wird mir da ums Herz. Ich höre sie singen und spielen, trotz großer Not und vieler Sorgen.

Die Jungen sind alt geworden und die Alten sind lange schon tot. Jetzt bin ich die Alte in diesem Haus.

Wenn ich so in die Nacht hinausschaue, dann fällt mir ein, daß irgendwo am Rand der Welt die Uralte sitzt und im großen Kessel unser Schicksal zusammenrührt, was oben ist kommt nach unten und umgekehrt. Sie rührt und rührt und verändert ständig die Gestalt. Wie der Mond wird sie immer dicker und runder und dann wieder dünn und dünner und bevor sie verschwindet nimmt sie wieder zu, eine unendliche Bewegung, und um sie herum tanzen die Sterne und manchmal greift sie nach einem und streut seinen funkelnden Staub auf die Weltensuppe.

Ich würde sie gerne besuchen und mich neben sie setzen und ihr aus meinem Rucksack ein Bündel Schmerzen und große Sorgen geben, damit sie sie unterrührt und was anderes daraus entstehen kann, ich würde ihr auch Glückskekse backen und als Würze mein Lachen mitbringen, weil es sich vielleicht dadurch etwas leichter rühren ließe.

Da fällt mir dieser riesengroße Topf in der Scheune ein und der lange, wuchtige Kochlöffel … wenn es mir gelingt, von ihr zu träumen,  zeigt sie mir dann vielleicht, wie es geht, das Rühren und Wandeln …

 

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

 

 

 

# 64 Der Riss und der Most.

In der aktuellen Ausgabe der „Lettre International“ (Nr. 146) steht ein Text, der mir seit Wochen im Kopf herumgeht. Karl Heinz Lüdeking schreibt über Caravaggios Bild vom ungläubigen Thomas. Da ich Caravaggio verehre, ist mir dieses Bild lang schon bekannt, aber da es in mir  ziemlich zwiespältige Gefühle auslöst, d.h. es gruselt mich bei seinem Anblick, hatte ich noch nie das Bedürfnis, es im Original zu sehen. Das hat sich geändert durch diese unglaublich intensive Abhandlung und wenn man nach Potsdam nicht so weit fahren müsste, dann wäre ich längst schon davor gestanden. K.H. Lüdeking schaut sich das Gemälde genau an, sehr genau, und schildert, was er darin sieht. Ich sehe förmlich mit seinen Augen und das, was mir sonst meist unangenehm ist an den meisten Betrachtungen und mich an das Sezieren eines Kunstwerks erinnert, hier werden mir  jeder Blick und jede Deutung, auch die wirklich unglaublichsten möglichen Zusammenhänge zur Offenbarung. Es geht in diesem Bild letztendlich um die leibhaftige Auferstehung, ein Lieblingsthema , wenn nicht DAS Thema von mir und wie ich finde, eigentlich das zentrale Thema des Christentums.

Noch nie ist mir aufgefallen, wieviele Ohren sich mir entgegenstrecken, wenn ich das Bild betrachte und den Riss hatte ich zwar gesehen, aber ihm keinerlei Bedeutung beigemessen. Und noch so viel mehr sehe ich plötzlich und staune. Eine grandiose Textarbeit! Drei Sätze Lüdekings habe ich mir unterstrichen:

“ … Daß Bilder darauf angewiesen sind, gesehen und gedeutet zu werden. Das geschieht, indem wir das Bild aus einer externen Position betrachten …

Seine Identität erwächst aus den Sinnzuschreibungen derer, die es anschauen.

Das Bild wird nur deshalb zu dem, was es ist, weil wir es ihm sagen.“ …

Der fast volle Mond hängt irgendwo ganz oben im Geäst der großen Kiefer fest und sein Licht tropft wie flüssiges Silber am Stamm entlang nach unten in die Nebelschwaden , die ein riesiges Erdmaul beim Ausatmen ausstößt, hinein. Oben drüber rasen weiße Wolken Richtung Salzburg und verschlucken die Flieger, die über dem Flughafen auf- und absteigen.

Gerade habe ich darüber gelesen, was mit den Kindern in Gaza derzeit passiert … was überall passiert während dieser so unglaublich unsinnigen, grundlosen und vermaledeiten Kriege, die niemals irgendwas Gutes bringen, sondern nur Leid und Tod und Verderben. Einer will, was der andere hat und wenn er es nicht bekommt, haut er ihm die Schaufel auf den Kopf. so fängts im Sandkasten an und so geht es weiter. Die Unsinnigkeit dieses Abschlachtens ist mir schier unerträglich.

Eine andere Art Kriegsführung, unblutig aber durchaus schmerzhaft, findet derzeit im sogenannten „Container“ statt, „Big Brother“ hat Leute eingeladen, denen man sagt, sie seien prominente Realitystars, was im TV im Lauf der Zeit ein neuer Berufszweig geworden ist, bei dem man viel Geld verdienen kann. Diese Promis werden, je nach derzeitiger Bedeutungslage mit viel Geld angelockt und lassen sich 14 Tage lang rund um die Uhr von Kameras beobachten, während sie unsinnige Spiele spielen und ständig mit Essensentzug bestraft werden. Und wir im Publikum dürfen unsere voyeuristischen Triebe ausleben und bei Brot und Spielen zusehen und wie sich die 14 BewohnerInnen gegenseitig demütigen und ausstechen und sich fertigmachen lassen. Der Preis ist schwer erkämpft, wer übrigbleibt, kassiert am Ende mind. 100000 Euro. Ein junger Mann weint bitterlich, ihm sind welche Felle auch immer, weggeschwommen. Auch andere weinen, mal mehr, mal weniger. Sie möchten alle befreundet sein, sind aber Feinde, das Geld ist die Gottheit, die absolute Unterwerfung fordert … auf die Knie mit Euch! Sie leben von Nudeln mit Ketchup und Kartoffeln mit Mayonaise und oft von gar nichts, manchmal bekommen sie Musik, dann dürfen sie tanzen. Meine Güte, zu was Menschen bereit sind, sich selbst und anderen anzutun, es läßt mich ratlos zurück.

Manchmal denke ich an den Advent, der bald wieder kommt und vollkommen bedeutungslos ist im großen vorweihnachtlichen Konsumrausch. Seit Ende August stehen Lebkuchen in den Geschäften herum, längst schon auch Stollen, Schokoladennikoläuse, alles, was das Herz begehrt ist schon da und kann konsumiert werden, alles ist käuflich . Auf welche Ankunft soll denn da noch gewartet werden. Beim Nachsinnen ist mir das Wort „Heldenreise“ eingefallen. Eine Art Parabel für das, was ist, war, sein wird. Eine Reise durch Leben, Tod, Leben und ein Rückwärtsgehen, um nach vorne zu kommen.

Aber es ist noch Zeit, es liegt noch soviel Herbst vor uns., die Zeit ist noch nicht reif für den Advent. Erste Proben vom jungen Apfelmost, bernsteinfarbenes, leicht perlendes Glück fließt ins Glas, alle Arbeit darum herum ist vergessen bei diesem ersten Schluck. Wie ein Blick ins Paradies. Ein Prost auf Euch alle da draußen und ein großes Dankeschön an unsere alten treuen Apfelbäume.

 

Prost, liebe Kraulquappe, hast auch schon was geschrieben, gell!

# 63 Diesmal mein Herz

“ … Diesmal mein Herz,
diesmal fährst du mit … „
(Element of Crime: Vier Std, vor Elbe 1)

Als wir aus dem Kino herauskommen, müssen wir aufpassen, daß uns die vielen Reichen und Schönen  die sich durch die Gassen der Altstadt von Geschäft zu Geschäft bewegen, nicht mit ihren schönen und noblen und sehr teuren Regenschirmen  ins Gesicht stechen. Der Salzburger „Schnürlregen“ fällt in wie mit Bleistift und Lineal exakt gezogenen feinsten Linien schräg aus dem grauen Himmel heraus und rieselt über die Stadt.

Es werden wohl 1 – 2 km sein bis zur Garage unter dem Mönchsberg, wir gehen sie lächelnd und aufgewärmt  vor Glück über den Film, den wir gesehen haben. Charly Hübner hat an fünf Abenden in Berlin die Band „Element of Crime“ bei ihren Auftritten begleitet, hin und wieder mit allen gesprochen, Lieder gefilmt und alte Aufnahmen darunter gemischt. Ein kleiner, feiner Film ist es geworden, der mich sehr berührt hat. Es wird die Geschichte einer Band erzählt, die es seit vierzig Jahren gibt, nichts weiter.

Film: „Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin.“
Regie: Charly Hübner

Unser derzeitiger Zustand droht immer mehr zum Weltenbrand auszuarten. Und hierzulande, wo noch extremer Wohlstand und gesicherte Lebensverhältnisse herschen im Vergleich zum Rest der Welt, wurde um den 3. Oktober herum wieder mal kräftig herumgeschimpft und geklagt, es ging um Euch und Uns und Wir und Ihr und wer alles sich abgehängt und schlecht behandelt und im Stich gelassen fühlt. Ob es jemals ein „Wir“ gegeben hat? Jeder ist sich doch, wenn´s drauf ankommt selbst die/der Nächste in dieser hochgezüchteten Zivilisation, in der nur Leistung, Profit und daß man alles kaufen kann zählen. Und wieder mal die Frage, wieviel Flüchtende wir aufnehmen können, ohne daß es unserem Wohlstand schadet. Meine Güte, die ärmsten Länder nehmen Millionen Geflüchtete auf, da fragt kein Mensch, wie sie das denn schaffen. Und wenn wir unsere Grenzen noch so sehr bewachen, irgendwann werden sie niedergerissen. Der Vorrat an Süßwasser geht immer mehr zur Neige, 40% der Weltbevölkerung haben jetzt schon zu wenig Wasser, alleine schon deshalb wird es eine Völkerwanderung geben. Die Menschen gehen dorthin, wo sie nicht verdursten und verhungern, das ist ihr gutes Recht und dann werden die Grenzen keine mehr sein und in den fußbodenbeheizten Doppelgaragen werden Menschen statt Autos wohnen.

Es tat so gut, eineinhalb Stunden im Kino zu sitzen und auf der Leinwand nur in freundliche Gesichter zu schauen und Menschen zu beobachten, während sie Musik machen miteinander. Dies hier soll nicht zu einer Rezension ausarten, ich bin da nicht neutral genug, ich liebe Sven Regeners melancholische Poesie und ich liebe es, wie er sie mit seinen Freunden vertont. Egal ob Gitarre, Baß, Schlagzeug, Akkordeon, Trompete, es sind alle hochkarätige Musiker und das Allerschönste ist diese Hingabe an die Musik, die sie alle haben. Und eigentlich ist es ein Film über die Musik und darüber, was mit Menschen geschieht, für die sie der Mittelpunkt der Welt ist.

Was diesen kleinen Film u.a. ganz groß macht ist die Selbstverständlichkeit, mit der auch die sogenannten „Vorgruppen“ ins Bild kommen ! Und ich freue mich sehr, außer einer meiner Lieblingsbands Von wegen Lisbeth auch noch Maike Rosa Vogel und zwei ganz besondere Frauen,  Steiner  & Madlaina gesehen zu haben. Und überhaupt freue ich mich über diese weiche und humorvolle Liebenswürdigkeit, mit der Charly Hübner Regie führt, ohne auch nur im Geringsten kitschig oder unglaubwürdig zu werden.

Immer und immer wieder fesselt mich der Ausdruck im Gesicht von musizierenden Menschen, wenn man sie einfach spielen läßt. Da gibt es eine Art von Hingabe, schlecht zu beschreiben, in etwa so, als würde der Mensch mit der Musik verschwimmen, sich in ihr auflösen.

Und da denke ich an meinen Vater, der von der Werkstatt in die Stube kam und als erstes die Ziehharmonika unter der Bank hervorgeholt hat, um ein Stück nachzuspielen, das er irgendwo gehört hat. Alles nur nach Gehör selbstverständlich. Auch gesungen haben wir früher nach Gehör, war man zu zweit oder zu dritt, dann hat man halt einfach mehrstimmig gesungen. Ich dachte ein halbes Leben lang, daß das bei allen so ist, daß man halt die Stimme singt, die grad benötigt wird.

Heute habe ich youtube durchwühlt, um den Gföller Marsch zu finden, den mein Vater immer gespielt hat, weitaus virtuoser, als er immer dachte, denn alles, was ich gefunden habe von Musikanten, die ihn auf der Steirischen spielten, hat sich bei weitem nicht so gut angehört. Mein Vater spielte exzellent die Bässe, und bei keinem sonst haben sie so schön geschnarrt. Und niemand hat halt diese Papahände, die vom Schmiedeeisen in der Werkstatt gefärbt waren, die Musik war so wichtig, daß er keine Zeit mehr hatte zum Händewaschen.

Und wenn Musikanten spielen, dann sind sie nicht mehr ganz da, sie sehen dich an, aber eigentlich schauen sie durch dich hindurch. Das ist dieser Blick, der so unendlich weit hinaus geht oder so weit hinein, wer kann das sagen.

Der Herbst verhält sich noch nicht ganz so, wie man es von ihm erwartet, der Wald ist noch nahezu grün, der Anemonenstrauch hat neue Seitentriebe entwickelt und blüht und blüht als wäre Frühsommer. Die Kakteen sind übersät mit Knospen, auch die meisten Rosen sind nicht gewillt, auf Sparprogramm zu schalten. Ein Baum hängt noch voller Birnen und die kleinen roten Äpfel wollen partout nicht fallen.

Das Meer kam jetzt erstmalig abends zur blauen Stunde zu Besuch. Es strömt in langen Nebelschwaden herein und füllt das Tal mit seinem samtigen, feuchten Hauch. Alles wird diffus, sogar der bedrohliche Lärm der schweren Panzer und anderer Fahrzeuge, die an Krieg und Elend erinnern und schon wieder auf der Bundesstraße Richtung Reichenhall rollen wirkt durch den Nebel gedämpft. Und dann steige ich hinein und bewege mich auf dem Meeresboden, ich gehe herum und werde zu einem Wesen ohne Raum und Zeit in einer fremden Welt, in einer fernen Galaxie. Niemand kann mich finden, ich werde unsichtbar.

Nur der rote Willie hat den Einstieg gefunden, schreitet aufrecht in Zeitlupe durch den Dunst, wie er das sonst im hohen Gras macht und reibt schnurrend seinen Kopf an meinem Bein. Wir bleiben ein Weilchen stehen und schauen hinaus auf die wabernde See.

„Unscharf mit Katze“ (Element of Crime)

 

Und die Kraulquappe schreibt  hier

 

# 62 Sieben Raben und der Mäander

Nach unserer Pause schreiben die Kraulquappe und ich wieder einmal in der Woche parallel am neuen Kreuzungspunkt um 23.12 Uhr am Dienstag.

Die Nacht ist erstaunlich hell, der Himmel ist übersät mit Sternen, viele von ihnen schicken ihr Licht aus ungeahnten Fernen und strahlen und blinken, obwohl sie doch längst erloschen sind. Bevor mich die Kühle der Nacht hineintreibt, sitze ich kurzärmlig auf der Hausbank und schaue hinauf, oder sollte ich lieber sagen, hinaus, denn wir leben auf einer Kugel, die mit irrer Geschwindigkeit durch das All rast. Nur durch dieses Wunder der Anziehungskraft  sind wir mit den Füssen magnetisch an die Erde geklebt und können uns auf ihr bewegen ohne weggeschleudert zu werden. Alles funktioniert reibungslos, so lange wir das perfekte System nicht stören, sobald sich irgendwelche Distanzen ändern, oder die Achse um wenige Grade sich verschiebt, kippt alles um, die Meere laufen aus und es ist vorbei mit der Menschheit auf diesem Planeten. Wir wissen, daß bestimmte Kipp-Punkte bereits erreicht sind und wir ändern nichts, sondern hoffen, daß es schon irgendwie gutgehen wird, bis jetzt gings ja auch, nicht wahr.  Und so lassen wir es halt, wie es ist.

Vorhin kam in den Nachrichten, daß der Iran Raketen auf Tel Aviv  geschossen hat. Alle reden davon, daß die Kriege beendet werden müssen, alle wollen nur Frieden und gleichzeitig werden um uns herum den Müttern die Söhne, die sie neun Monate im Bauch herumgeschleppt haben und unter großen Schmerzen geboren, weggeschossen von den Söhnen anderer Mütter, weil die jeweiligen Machthaber das so wollen, auch die sind Söhne von Müttern. Kein Ende abzusehen.

Heute auf unserer alltäglichen Radlrunde haben sich auf einem Sonnenblumenfeld die Köpfe alle nach Osten gedreht, der Sonne entgegen, was aber um 18 Uhr abends merkwürdig ausgesehen hat, im Westen hingen graue Regenwolken am sonnenlosen Himmel, es hat sich wohl nicht rentiert, sich dafür extra umzudrehen, im Westen nichts Neues, man wartet lieber auf den nächsten Morgen.

Manchmal, wenn ich am Nachmittag draußen sitze und Äpfel kleinschneide für den abendlichen Strudel, dann könnte man es fast schon idyllisch nennen, was mich umgibt, die Katze streicht mir zart um die Beine, zwischen den Hochspannungsmasten sitzen sieben Krähen in genau gleichem Abstand, hin und wieder plumpst eine reife Birne vom Baum ins Gras, ein Radfahrer kommt vorbei und grüßt freundlich, vor mir an den Wildrosenzweigen hängen schwer die leuchtend roten Hagebutten und dann steht auf einmal ein Regenbogen am Himmel und spannt sich übers Tal und dann  noch ein zweiter dazu. Nein, kein Handyfoto, nichts teilen, man kann diesen Augenblick nicht teilen, er teilt sich selbst mit, existiert aus sich heraus und ist einmalig, er kann nicht weitergereicht werden. Man kann ihn nur geschehen und ins Herz sickern lassen und zusehen, wie er wieder blasser wird und vergeht. So wie auch wir kurz aufleuchten und wieder vergehen.

Langsam, ganz langsam färbt der Herbst die Blätter.

Die Freundin sagt, laß uns bitte in diesem Leben noch viel laut singen und tanzen, ja sehr gerne. Jetzt ist es an der Zeit, die weiten schwarzen Röcke anzuziehen, darunter sind aber noch deutlich die roten Unterröcke zu sehen beim Tanzen. Wir bilden einen Kreis und halten uns an den Händen, die eine Hand empfängt, die andere gibt und unsere Füsse gehen im Takt der Trommel und unsere Schritte hinterlassen das uralte Muster eines Mäanders auf der Erde. Der Schritt ist einfach, ich zeige ihn Euch gerne. Kommt und laßt uns tanzen und singen das Lied für die geschundene Mutter Erde mit all ihren Lebewesen:  Gula Gula

 

Und die Kraulquappe hat sicher auch schon was geschrieben!