Wie schnell doch die Zeit vergangen ist seit damals im Kinderheim, Anfang der siebziger Jahre als ich ihr im lächerlich kleinen Zimmer mitten im Schlafsaal der Kinder gegenüber saß, meiner Freundin Brigitte. Ein Raum der Wunder für mich, bunte Flickendecke auf dem Bett, lackierte Obstkisten, Gitarre, Räucherstäbchen … ein Hauch Berliner Großstadtluft umgab sie … ich war eine kleine Praktikantin und bewunderte sie, die erfahrene Erzieherin. Ich verehrte sie wie eine Königin. Und bis heute bin ich ihr dankbar, daß sie mir von „Franny und Zooey“ erzählte und vom „Fänger im Roggen“, in diese Geschichten bin ich damals eingetreten wie in eine neue Welt und bis heute traue ich mich nicht, sie wiederzulesen, um den Zauber von damals nicht zu zerstören.
Jetzt, 45 Jahre später, stehen wir in dichtem Nebel, der vom Grenzfluß aufsteigt, vor dem Grab ihrer Familie und sehen zu, wie der Steinmetz mit Pickel und Spaten die uralte Rose unter dem Grabstein herausreißt und ihren Klammergriff abhackt. Ich werde sie mitnehmen, und ihr einen würdigen Platz zum Weiterleben anbieten. Auch die vielen Blumenzwiebeln und was sonst noch so übrigbleibt, wenn man ein Grab auflöst.
Der Blick, im Äußeren vernebelt, führt zu Bestandsaufnahme als Innenschau mit der gnadenlosen Wahrhaftigkeit des Novembers. Nicht nur die Häuser zeigen jetzt die Wunden ihrer Seele, unverblümt und schmucklos … mein Leben liegt vor mir und ich sehe zu, wie bunte Glücksmomente aufleuchten in einem immerwährenden Vergehen … und auf einmal fällt mir wieder dieses kleine Karussell im Englischen Garten ein, so gerne würde ich es wiederfinden, ob es überhaupt noch existiert? Vor Jahren bin ich an einem Novembertag davorgestanden und habe einer großen Liebe nachgeweint. Wir drehen unsere Runden wieder und wieder … aber auch wenn wir uns noch so gut festhalten, irgendwann schleudert es uns hinaus ins All wie so viele vor uns …
Jetzt ist der Ernst also auch gestorben. Einer der letzten Freunde meines Vaters. Ob der ihn als einen „Freund“ bezeichnet hätte, ist fraglich. Der Ernst stand oft beim Vater in der Werkstatt und meistens hörte man ihn herumschreien. Er war halt lange Jahre ein Barrashengst, sagte der Vater, und daher hat er diesen Kassernenton. Aber der Ernst lag halt mit allen und jedem in Streit wegen irgendwas und kämpfte ständig vor Gericht um seine Rechte. Und wenn er sich aufregen musste, dann hat er geplärrt. Aufgewachsen ist er in der Barackensiedlung am untersten Rand der Kreisstadt und er hat lautstark ein Leben lang der Welt beweisen wollen, daß jeder sich herausarbeiten kann aus dem Sumpf, wenn er sich nur anstrengt. Stundenlang sind sie in der Werkstatt herumgestanden und mein Vater, ein alter überzeugter Sozi hat sicher nicht zu allem Ja und Amen gesagt, was der Ernst so von sich gab; und jetzt ist er tot.
Frau P., der ich immer eine Flasche Schampus geschenkt habe, wenn ich mir bei ihr ein neues Auto gekauft hatte, ist auch grad gestorben. Immer war sie bestens gekleidet und makellos geschminkt, vielleicht ein bißchen zu schwarz um die Augen und die Lippen etwas zu rot, die Haare hoch aufgetürmt. Sie hatte wunderschön zarte Haut, wie das üppige Frauen oft haben und um sie herum schwebte stets ein teures Düftchen. Ich habe nie bei jemand anderem ein Auto gekauft. Sie selber fuhr nach Möglichkeit eines der PS- stärksten Vorführmodelle und man sah ihr an, wie gern sie selber auf der Piste war, mit durchgedrücktem Gaspedal. Sie war eine Instanz im Autohaus. Schwere Krankheiten musste sie mitschleppen, aber nie hätte sie mit irgendwelchen Klagen die Kundschaft belästigt … nur einmal zeigte sie mir ihre geschwollenen Beine und nur für einen Moment verschwand die Härte in ihren Augen und sie ließ mich den Schmerz sehen. Andeutungen lassen mich vermuten, daß sie sich hinausfallen ließ aus dem Karussell. Ihre Hände waren weich, sehr weich. In der Zeitung steht: Wohnungsauflösung, läuten bei Frau P.
Rose und Lavendel sind im Auto, das Familiengrab ist aufgelöstund wird dem Erdboden gleichgemacht. Mit aufgewühlten Herzen sitzen wir im Café und lassen uns wärmen von der Sicherheit unserer Freundschaft und von den Kaffeetassen in den kalten Friedhofshänden.
Das Karussell bewegt sich weiter und weiter, alles dreht sich immer nur im Kreis und doch bleibt nichts, wie es war, nach jeder Umdrehung sind wir nicht mehr dieselben und auf Schritt und Tritt begegnen uns das Abschiednehmen, aber auch das Glück, wenn man die Augen offen hält, dann sieht man es , überall.
Ein wenig weiser geworden in meiner Erkenntnis gehe ich hinaus in die Tenne und hole einen Krug mit goldfarbenem Apfelmost, der sich selbst in einen überirdisch guten Zustand gereift hat … die Freude über dieses Geschenk unserer alten Bäume ist grenzenlos. Auf dem Brett über dem Ballon liegt seit vielen Jahren ein steinernes Christusantlitz und man kann es durchaus als sakrale Handlung beschreiben, das Mostholen beim Herrn Jesus.