Archiv der Kategorie: Mittwoch Nachmittag 16.35 Uhr

#31 Kein schöner Besuch

Bevor ich mich heute zum Schreiben hinsetzen wollte, bin ich noch schnell in die Tierklinik gefahren, um für den Kater Herbert das Schilddrüsenmedikament zu kaufen. Nach dem Zahlen scherzte ich noch ein wenig mit den Arzthelferinnen und lachend hielt ich einer hereinkommenden Frau die Türe auf, sie schleppte einen Transportkorb. Und was man halt dann immer so redet … „ist immer schwierig, wenn man hierher muß, gell „… und sie sagt: Ist kein schöner Besuch heute, wirklich nicht. Nein, wirklich nicht.“ Und ich sehe ihre stumpfen Augen und mir fällt nichts anderes ein, als zu sagen: „Viel Glück, trotzdem“ und während ich zum Auto gehe, denke ich, daß ich besser meinen Mund gehalten hätte. In den Augen der Frau war der Tod. Da stand geschrieben, daß sie ihre Katze zum Einschläfern bringt und mit einer leeren Transportbox wieder heimfahren wird.

Und dann fahre ich los und plötzlich weine ich und kann nicht mehr aufhören und dann biege ich nicht ab, sondern fahre irgendwo in der Gegend herum, alle Texte weg, die Geschichte, die ich heute schreiben wollte, weg, verschwunden, ich kann jetzt nicht auf Knopfdruck schreiben, und so fahre ich weiter, vor mir die schneebedeckten Berge in den goldenen Schein der untergehenen Sonne getaucht.

Im Angesicht des Todes weicht alles zurück, in einem gelben Zimmer lehnen die Wörter schwarzgekleidet mit dem Rücken zur Wand und alles wird absolut bedeutungslos, was noch soeben unglaublich wichtig erschienen ist.

Viele Tiere mußte ich schon zum Töten bringen, bei ein paar war es nötig, um das Leid abzukürzen, bei anderen war es falsch, ich hätte ihnen besser diese Aufregung des „Erlösens“ erspart, denn sie hätten das selbst viel besser gekonnt.

Im Angesicht des unermeßlichen Leids auf der Welt, was Menschen sich gegenseitig antun, was wäre da der Tod einer kleinen Katze dagegen? Alles..

Wir mögen ihn nicht, den Tod und vor allem wollen wir nicht zuschauen, wenn jemand stirbt. Der Tod macht aus dem Anfang ein Ende und aus dem Ende einen Anfang.

Daheim angekommen sitzt der Herbert auf dem Fußabstreifer und schaut in die Nacht hinaus, er schaut mich an, und nach gründlichem Nachdenken steht er auf, streckt sich und geht langsam an mir vorbei ins Haus

Dieses Mantra hat angeblich der Dalai Lama für seinen sterbenden Freund gesungen, um ihm den Übertritt in die andere Welt leichter zu machen. Ob das stimmt, ist egal. Damals als die alte Katze Mimi sich auf die Große Reise begeben wollte, legte ich sie in einen Korb, an einem geschützten Ort und ließ sie in Ruhe. Das Mantra ist leise im Hintergrund gelaufen und die  Mimi hat sich ganz ruhig und heimlich davongemacht…

Und dann lese ich im Blog der Tikerscherk, daß ihr Vater stirbt.

Für sie und alle, die gerade unglücklich sind und um ihr Leben oder das von geliebten Mitwesen bangen, zünde ich jetzt eine Kerze an und stelle sie in die Laterne vor dem Haus, möge ihr Licht uns allen ein wenig Wärme ins Herz leuchten.

Und die liebe Kraulquappe hat auch was geschrieben!

#30 „… daß es klingt von dir und dich verrät.“(Rilke)

Am besten schreibt man über das, was man kennt. Ich weiß nicht mehr, von welchem großen Schriftsteller diese Worte stammen, im Zweifelsfall von Mark Twain. Die nachmittägliche Doppelimpfung, rechts Grippe, links Corona, macht sich schon bemerkbar, beide Arme tun weh, ich fürchte, sie werden anschwellen, heiß und rot werden weitläufig um die Einstichstellen herum. Die Frage, wie sinnvoll die ganze Impferei ist, hat sich dadurch erübrigt, daß ich sie jetzt hinter mich gebracht habe. Die Praxis der Hausärztin ist voll mit Corona oder schlimmen Erkältungen, ringsherum wird gehustet, geniest und lautstark diverse Tröpfchen in die Luft gejagt, selbstverständlich frei heraus, ohne Armbeuge oder zumindest Hand vor den Nasenrachenbereich. Das brauchts jetzt nicht mehr, denn schließlich ist nichts verboten, die Pandemie ist vorbei. Ich habe beschlossen, wieder einen Mundschutz zu tragen, dort, wo viele Menschen auf einem Haufen sind und ich mich nicht sicher fühle. Ja, man wird angestarrt, als wäre man ein Alien und käme vom Mars, das muß man aushalten.

Der Rosenstock vor dem Haus trägt unzählige Knospen, die sich ständig zu Blüten öffnen, um ihre orangerote Farbe in den dunkelgrauen Novembertag schütten zu können. Das ganze Jahr über ist es diesem Strauch nie so gut gegangen wie jetzt, so scheint es.

Der Föhn ist zusammengebrochen, es ist kälter geworden, der Regen hat aufgehört und heute sind ein paar Schneeflocken herumgewirbelt. Gottlob sind die zwei letzten großen Kakteen und die Agave auch ins Haus in ihr Winterquartier geschleppt. Die Igel sind auch wieder verschwunden in die ausgepolsterten Wohnungen unter den Gestrüpphaufen. Leider weiß niemand, wo genau sie ihre Wohnungen bauen, deshalb gestaltet sich das Abtragen der längst zum Verbrennen fälligen dürren Äste ziemlich schwierig. Das Laub bleibt da liegen, wo es hingefallen ist und dient als verrotteter Dünger, auch der Rest der Äpfel liegt im Gras und wird von irgendwelchen Wesen bei Nacht und Nebel verspeist werden. Schade, daß es heuer keine Zwetschgen gab, denn sonst würden noch etliche Exemplare an den Bäumen hängen, verschrumpelt und mit orangefarbigem Fruchtfleisch, so süß, wie nur Zwetschgen sein können, die schon einen kleinen Frost erwischt haben. Diese Süße ist mit nichts auf der Welt vergleichbar und wie ein Wunder. Da fällt mir der französische Titel des Films ein, den ich gestern schon wieder gesehen habe, mitten in der Nacht: „le goût de merveilles“. Ich kann ihm nicht widerstehen, hab ihn sicher schon zwanzigmal gesehen unter dem deutschen Titel „Birnenkuchen mit Lavendel“.

Ich liebe diesen kleinen, romantischen Film über das Glück, das plötzlich vom Himmel vors Auto fällt und mit dem man nicht mehr gerechnet hat und das so süß schmeckt wie die Zwetschgen im November. Eine Geschichte, die das Herz weit macht. Hervé Pierre, der den alten Buchhändler spielt, erinnert mich an das Glück einer Begegnung vor langer Zeit  mit einem alten Herrn, der in München am Kurfürstenplatz ein Antiquariat hatte, einen Laden, halb im Keller, beheizt von einem Kohlenofen, auf dem ein Topf mit Punsch stand, aus dem er mir immer ein Glas anbot. Ein stiller Ort, wie aus einer anderen Zeit, im Hintergrund leise Musik, es roch nach Kohlen, Wein und Bücherstaub und ein wenig nach vergänglichem Glück, ich saß in einem abgewetzten Fauteuil und ging mit alten Gedichtbänden wieder heim, liebevoll verabschiedet.

Der Film spielt in Südfrankreich, sobald er anläuft, bin ich wie gebannt und ich sauge alles auf wie beim ersten Mal hinschauen und entdecke immer wieder Neues, ich kann nicht genau sagen, was es eigentlich ist, warum ich mir diesen Film noch hundert Mal anschaue und jedes Mal wieder verliebe ich mich in diese perfekt geschwungene Nackenlinie von Virginie Efira und in dieses Lächeln, das aus ihrem Gesicht leuchtet und die Anmut ihrer Bewegungen, sie tänzelt wie eine Fee und hat gleichzeitig den festen Schritt einer Bäuerin.

Ach, es stimmt einfach alles. In „Herzschlagkino“, dem wunderbaren Buch einer großen Liebe, Begeisterung, Besessenheit, die ich teile, schreibt Andreas Pflüger: „Manche Filme verdrehen dir von der Aufblende an den Kopf. Du verknallst dich, mit Herzklopfen bis zum Hals. Die allerbesten geben dir dieses Gefühl jedes Mal, wenn du sie siehst…“

Warum ich so wahnsinnig fixiert bin auf die Nackenlinie und das Lächeln und den aufrechten Gang der Hauptdarstellerin, war mir nicht bewußt, bis ich im gleichen Buch über die Filme fürs Leben die Zeilen des Rilkegedichts las. Was es doch für Zufälle gibt. Ich werde an sie erinnert, oder erinnert sie sich an mich, sucht sie auch meine Nähe, sucht sie mein Herz … ? Aus diesem Gesicht blickt sie mich an, meine schöne Freundin mit den Jadeaugen. Sie hat sich schon vor vielen Jahren auf die Große Reise in die Ewigkeit gemacht. Wir konnten die Freundschaft nicht halten, sind traurig gescheitert und haben uns vollkommen verloren. Aber die Liebe ist geblieben. Sonderbarerweise über all die Jahre und alle Distanzen hinweg. Das habe ich ihr damals geschrieben und sie sagte: Darauf habe ich noch gewartet. Dann ist sie gestorben. Sie fehlt mir so sehr und manchmal werde ich an sie erinnert, wenn ich gar nicht damit rechne. Die Liebe ist eine äußerst seltsame Kraft, sie führt ein Eigenleben und der Tod scheint ihr wohl nichts anhaben zu können. Verstehen tu ich das nicht wirklich, aber ich spüre, daß es existiert.

„Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
so anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst
zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst
an etwas stoßen, daß es klingt von dir
und dich verrät.“

Rainer Maria Rilke 

Da schreibt die Frau Kraulquappe, auch sie hat zwei wehe Arme, wie das Leben so spielt…

#29 Der Findling

Auf dem Weg zur Malfreundin ins Städtchen am Grenzfluß nach Österreich fahre ich durch eine schier unwirkliche Gegend, über ein Land wie unter einer Glasglocke. Vereinzelt liegen große Wasserlachen auf den Wiesen, in denen sich der Himmel spiegelt; Überbleibsel der Flut des tagelangen Dauerregens. Der östliche Horizont beleuchtet mit viel zu grellem rosa Licht eine Bühne, auf der die Kulissenschieber die frisch dunkelblau bemalten Berge,  mit ihren puderzuckerweißen Gipfeln bedrohlich immer weiter zum Rand hinschieben, bald werden sie aufs Publikum fallen. An einer der Felsenwände des Lattengebirges ist jetzt, sorgfältig ausgeleuchtet, das kitschige Märchenschloß zu sehen. Es taucht nur auf, wenn der Föhn es so einrichtet. Es gibt noch so ein Schloß, das hängt wie ein Adlerhorst in einer steinernen Falte in einem der Chiemgauer Berge, man sieht es  nur von einem bestimmten Platz aus, am Uferweg um den Chiemsee. Die Leute, denen ich von diesen geheimnisvollen Schlössern erzählt habe, konnten sie nicht erkennen, ich weiß aber, daß sie da sind und die Dächer ihrer vielen Türmchen glänzen in der Sonne. Möglich macht das der Föhn, der ansonsten ziemlich lästig ist, seine Stürme wehen alles durcheinander, was vorher zumindest noch ein wenig Ordnung  brachte und für Sicherheit im inneren und äußeren Gehäuse gesorgt hat. Von überall draußen wehen nach überall drinnen welke, nasse Blätter. Das Jahr liegt um mich und das alte Haus herum ausgebreitet im Schlamm, den der viele Regen, den wir im dürren Sommer so sehr ersehnt haben, jetzt hinterläßt. Der Bach wird bald überlaufen, über Salzburg leuchtet es pink und ums Hauseck herum kommt dieser merkwürdig warme Wind  und singt sein ewiges Lied vom Werden und Vergehen.

Ich schleppe die Kakteentöpfe hinein ins Haus und im Frühling wieder hinaus und dazwischen gesellen sie sich zueinander auf Fensterbänken, Tischen und Stellagen. Der Regen wird vom Wind durch alle Ritzen hindurchgejagt. Das Haus ist keineswegs dicht und es macht Geräusche und es steht nach fast dreihundert Jahren immer noch und trotzt auf seine Weise der Welt, die es nur mehr auf eine gewisse Zeit dulden wird. Irgendwann wird es von irgendwem „entkernt“ werden und dann wird es wohl „Chalet“ heißen, so nennt man heute die Wochenendresidenzen der wohlhabenden Mitmenschen, die das dann „urig“ finden und übers Wochenende mal so richtig „Booaarisch“ sein wollen.

Ganz soweit ist es noch nicht, immerhin gibt es die vier gleichalten Bauernhäuser unseres Weilers noch. Eines steht in seinen alten Außenmauern zumindest als schöne Atrappe, innen stylisch entkernt. Zweien wurde in unmittelbarer Nähe ein moderner Hausklotz vor die Nase gesetzt, mit diesem Anblick müssen sie nun bis an ihr Ende leben. Und unser Haus ist halt nahezu so geblieben, wie es gedacht war. Alle stehen davor und bewundern es, aber keiner möchte mehr drin leben.

Auch mir fällt es manchmal schwer. Das Haus ist eine eigene Wesensart und beansprucht eigenen Raum, es lebt und atmet ein und aus und manchmal habe ich das Gefühl, das Haus ist in mir und ich bin das Haus. Es ist ein Geschenk und eine Katastrophe gleichzeitig.  Und seit einiger Zeit verfolgt mich der Gedanke, über dieses Haus noch viel mehr und viel intensiver schreiben zu müssen als ich es bisher getan habe und ich bin sicher, daß es nur der Eingang ist, durch den ich hindurchtreten muß, um zu einer noch unbekannten Welt zu gelangen. Noch zögere ich, die verborgene Höhle und die Geheimfächer in den Schränken genauer anzusehen und zu beschreiben, was ich sehe.

Und es gibt einen Ort, da läuft die Zeit rückwärts und einen Eingang zu einem verfallenen Stollen tief in die Erde.

Das Jahr ist unter den gefallenen Blättern im Schlamm versunken und einen großen Stein habe ich gefunden, er ist mir von irgendwoher vor die Füße gekugelt und im Regen glänzt er.

 

An welchen Steinwänden der Großstadt die Kraulquappe entlanggeht, darüber schreibt sie dort

#28 Cancion Mixteca

Als ich heute Nachmittag mit dem Radl losgefahren bin, hatte sich die Sonne auf unserer nördlichen Schattenseite des Tales schon zurückgezogen und es war so kalt, daß meine Nase zum Eiswürfel erstarrte. Das passte gut zu meiner Verfassung, ein Projekt fing an, mich zu nerven, weil es zäh wurde und ich zunehmend die Lust daran verlor. Alles mögliche, unbewältigte Zeug fiel mir ein und in der Küche lag noch der Geruch vom völlig verkohlten Lauchgemüse gestern Abend … ich hatte nur mal schnell was nachschauen wollen in der Zeitung und die Pfanne auf dem Herd vergessen … dann riss auch noch der Schnürsenkel meiner Radschuhe … ich fuhr also in denkbar schlechter Laune los. Nach ein paar eisigen Kilometern kommt plötzlich hinter dem Wald ein Schwall lauwarmer Luft dahergeweht und die Sonne taucht auch nochmal auf und scheint warm auf meinen Rücken. Und dann ist da plötzlich dieser wunderschöne Stein, der liegt einfach da an der Straßenseite, glatt und matt schimmernd und rund wie eine perfekte Bowlingkugel. Ich werde ihn mir morgen mit dem Auto holen … wenn er nicht inzwischen weggerollt ist.

Und beim Heimfahren bleib ich stehen, da ist im Wald ein Phänomen zu sehen, von dem ich vor Jahren, in der Anfangszeit dieses Blogs schon mal berichtet hatte. Es ist  Windstille, nur an einem Ast bewegt sich ganz sanft ein kleiner Zweig und die Blätter daran. Alles ringsherum ist bewegungslos, nur dieser kleine Zweig wiegt sich sanft in einer nicht vorhandenen Brise Luft, keine Ahnung, woher sie kommt … ein paar Minuten nur, dann ist es vorbei. Damals dachte ich an die Bücher von Carlos Castaneda, der von seinem Lehrer Don Juan in vielerlei Situationen gelehrt bekam, daß die Welt nicht nur aus erklärbarer Wirklichkeit besteht. Heute denke ich sofort an Harry Dean Stanton, wie er durch die Wüste geht. Unzählige Male hab ich mir die Anfangssequenz von „Paris Texas“ schon angesehen. Immer wieder und wieder geht er durch die Wüste, dieser absolut aufrechte Gang, dieser Blick sagt alles. Der übrige Film, die ganze Geschichte dahinter ist eigentlich nicht mehr nötig, seine Augen, seine Hände und sein Gehen erzählen von Zärtlichkeit, Scheitern und Einsamkeit.

Y triste cual hoja al viento

Und wenn er so geht und den letzten Tropfen Wasser trinkt und zum Adler hinüberschaut, begleitet ihn diese Musik, wie das wehklagende Lied der Wüste … eine Szene, die mir zur Zeit nicht aus dem Kopf geht.

Und als ich dann heimfahre, geht Harry Dean Stanton neben mir … aufrecht … und dann denk ich mir, daß ich jetzt einfach den Dingen ihren Lauf lasse, es muß ja ein Projekt nicht immer sehr gut sein, halb gut reicht auch, macht Freude und der Leistungsdruck ist weg.

So gehts auch.

 

Und das schreibt die Frau Kraulquappe zum derzeitigen Stand der Dinge

#27 Hallimasch

Für heute und morgen habe ich einen Seelenwecken gebacken, das ist ein Germzopf mit vielen Weinbeeren und Puderzuckerglasur. (Hefezopf mit Rosinen) Man kann viel bei Wikipedia und Konsorten nachlesen, wo die Bräuche und das Kultgebäck an Allerheiligen ihren Ursprung haben und was im Lauf der Zeit daraus geworden ist. Auch gibt es alte und neue Rituale, diese Zeit und ihre Durchlässigkeit nach Anderswelt zu feiern. Herr Graugans sagt, er hätte sich schon so auf den Morgen gefreut, wenn er diesen schön geflochtenen Zopf anschneiden kann. Diese Freude und das Kürbislicht am Abend vor dem Haus und allein schon das Aussprechen des Wortes „Seelenwecken“ reichen mir als Ritual, um das Besondere zu erspüren völlig aus. Es geht um die Seelen, um was sonst?

Mit dem Radl sind wir heute Nachmittag unsere Runde gefahren und da standen auf der saueren Wiese, deren uns bis dahin unbekannten Blumenreichtum wir in einer Art Jahresuhr seit dem Frühling bis zum Abmähen im Herbst  beobachtet haben, auf einmal Trollblumen.  Mit diesen begann unsere Erforschung dieser Wiese und jetzt, kurz vorm Winter wachsen dort die ersten Frühlingsblumen. Sonderbar. Schon als Kind habe ich Trollblumen geliebt und wenn ich welche sehe, dann freue ich mich, aber diese Freude ist durchzogen von einem alten Schmerz, da gibt es eine Wunde, die nie verheilt ist. Da ich als Kind kein Geld hatte, pflückte ich meiner Mutter zu ihrem Geburtstag im April einen Strauß Trollblumen. Die Geschichte nahm ihren Lauf und endete dramatisch. Meine Mutter zerfetzte alles, riss den Blumen die Köpfe ab und unter lautem Gebrüll und Beschimpfungen warf sie alles weg. Ich hatte ihre sorgsam gehüteten und versteckten Weinflaschen ausgeleert, die sie so dringend brauchte, um überhaupt irgendwie zu überleben und sich doch jeden Tag Schluck für Schluck dem Untergang entgegen zu trinken.

Ach, arme Mama, sage ich zu den Trollblumen, die ihre Köpfe wiegen, Du warst so voller Geschichten und Du hast in so großer Sehnsucht die Bühne gesucht, aber Du warst ans falsche Theater engagiert, am falschen Ort, mit dem falschen Mann und mit dem falschen Kind … das konnte nicht gutgehen. Ich wollte Dich retten, aber ich war zu klein  und der Abgrund zu tief. Verzeih. Ich steh nicht an Deinem Grab heute, Mama, Dein Grab ist in meinem Herzen, ich trage es mit mir herum.

Während Herr Graugans eine außergewöhnliche Anhäufung von Schwammerln im Wald fotografiert, fahre ich zu dem Ort, an dem verborgen von einer großen Scheune vor ein paar Jahren ein 23 jähriger Bursche in großer Verzweiflung sich in seinem Auto einschloß und mit den Auspuffgasen umbrachte. Immer mal wieder fahr ich dorthin und sag zu ihm: Ruhe in Frieden! Mir ist, als bräuchte seine arme Seele immer noch ein wenig Zuspruch. Auf der anderen Seite der Straße sind junge Burschen grad dabei, ihre selbstgebaute Hütte für den Abend vorzubereiten, sie sind völlig unverzweifelt guter Dinge und bald steigt Rauch aus dem Kamin und es riecht nach Holzfeuer und fröhlichem Beisammensein.

Herr Graugans hat inzwischen seine Fotosession beendet und zeigt mir riesige Mengen von Schwammerln, die sich über das Totholz hermachen. Sie kleben an einem großen Baumstumpf und ich erinnere mich an diese Felsenstadt Matera in Süditalien, eine der ältesten Städte der Welt, die Menschen lebten in Felshöhlen. Als wir vor vielen Jahren dort waren, trauten wir uns nicht, auch nur einen Pfirsich von den Bäumen vor der Stadt zu pflücken, so beschämt waren wir von der Armut.

Herr Graugans sagt, die Schwammerln heißen Hallimasch und früher kochte man aus ihnen einen Sud gegen plagende Hämorrhoiden. Aber das wirkliche Geheimnis der Hallimasche ist der  in ihrem Mycel verborgene chemischeStoff: „Luciferin“, sobald der in frisches Holz eindringt gibt es eine Reaktion mit dem Sauerstoff aus der Luft. Und dann leuchtet es! Da werde ich mich selbstverständlich baldigst nächtens auf Erkundung begeben, um ihn zu sehen, den leuchtenden Baum!

Und daselbst sind die Erkundungsstreifzüge der lieben Frau Kraulquappe!

#26 Mein Vater und „der Wieland“ oder: wo wohnt das Glück?

Mein Sinn ist heute voll mit den Eindrücken des gestrigen Abends. Ich bin so voller Gefühle und muß mir noch mühsamer als sonst die Sätze darüber zurechtformen, vorsichtig, behutsam über eine Begegnung erzählen, die mir zu kostbar ist, um sie mit unbedachten Worten zu entzaubern.

Der Heimatverein einer unserer Nachbargemeinden, bei dem wir Mitglied sind, hatte eingeladen zu einem Abend mit Dieter Wieland. DER Dieter Wieland, eine Art Hausgott meines Vaters, der leidenschaftlich alle seine Filme im Bairischen Fernsehen gesehen hatte und die Bücher „Grün kaputt“ und „Bauen und Bewahren auf dem Lande“ so sehr und oft in der Hand hatte, daß schon die Seiten herausgefallen waren. Auch mich begleitet diese weiche, leicht melancholische Stimme, in der er in den siebziger Jahren über die katastrophale Zerstörung des Bauernlandes mit Flurbereinigung und der ersehnten Verstädterung, angeblich pflegeleichte Oberflächen, große Fenster, asphaltierte Dörfer, Glasbausteine, Eternitfassaden, monotone Rasenflächen und viel viel Krüppelkoniferen sprach. In seinen Filmen wollte er „den Zustand vor der Zerstörung, die Zerstörung und dann den Zustand nach der Zerstörung und was dann entstand“ zeigen, so sagt er. Den Blick schärfen für das, was mal war und was dann daraus entstand. Eine seiner Antriebsfedern sei ein Spruch von Hilde Spiel gewesen: „Wenn man es hinnimmt wie es ist, dann heißt das , daß man sein Land nicht mehr liebt!“  Er hat viel Ärger bekommen, und ist heftigst angegriffen worden, auch mein Vater hatte es mit haufenweise Unverstand und Kopfschütteln zu tun, wenn er bei jeder Gelegenheit Dieter Wielands Filme zitierte, weil er dachte, vielleicht glauben sie dem Mann im Fernsehen mehr als ihm. Weit gefehlt. Der Nachbar saß da und schimpfte, daß schließlich der Bauer auch mal nach der Stallarbeit eine heiße Dusche wolle., worauf mein Vater sagte: aber die kannst Du doch auch ins alte Bauernhaus hineinbauen, aber das hat nichts genützt, Abreißen und neu bauen war die Devise, mit großen Fenstern. Ein Lieblingssatz von meinem Papa war: Da wollen sie alle diese großen Fensterlöcher, möglichst nach Süden und was passiert dann? Dann werden diese Fenster sofort mit Stores zugehängt, weil ja niemand reinschauen soll und überhaupt ist es ja im Sommer viel zu heiß.

Die meisten Filme von Dieter Wieland kann man inzwischen auf YouTube anschauen, die Bücher gibt es auch immer noch, und leider sind sie alle hochaktuell, die Zerstörung auf dem Land schreitet in schrecklichen Ausmaßen voran und ich bin sicher, das gilt nicht nur für Bayern. Wenn ich übers Land fahre und die Zersiedelung sehe, all die Solitärbauten … ein Zeichen unserer Zeit … Solitär-… all die Scheußlichkeiten, der Jodlerstil (ein sehr treffliches Wielandvokabular), nach wie vor der Deutschen Lieblingspflanze, die Krüppelkonifere … ich könnte die Liste der unbedachten Grauslichkeiten endlos weiterführen … wenn ich mir vorstelle, durch diese abstoßenden Haustüren zu müssen, nach dem Durchschreiten der widerlichen Schotter – „Gärten des Grauens“, da wundert es mich keineswegs, daß so viele Menschen in Depressionen verfallen. Geld allein ändert natürlich keineswegs das Bewußtsein. Wir bräuchten eine neue Aufklärung, sagt Wieland, wahrscheinlich hat er Recht, aber bis die kommt, sind alle alten Häuser abgerissen.

Einer meiner Lieblingssätze: „Alte Häuser brauchen Liebe, wie alles, für das wir Gefühl aufzubringen vermögen. Das ist vielen lästig geworden.“ (D. Wieland)

Und gestern Abend sitzen wir im vollen Pfarrsaal in Waging am See. Unser lieber Freund und Vereinsvorstand wollte uns eine Freude machen und hat uns Plätze reserviert am Tisch zwischen dem Chefredakteur der wunderbar aufmüpfigen oberbairischen und weit darüber hinausreichenden Zeitschrift „MUH“, einem Journalist der FAZ, dem Leiter des Landesverbands für Heimatpflege, der gerade einen grandiosen Artikel in der MUH über den bedauernswerten Zustand des vor fünfzig Jahren gegründeten Denkmalschutzes geschrieben hat und … mir gegenüber sitzen ein sehr freundlicher alter Herr mit Gattin. Dieter Wieland, ich erkenne sofort seine Stimme, alt geworden, aber immer noch so wohlklingend wie früher. Wir sehen den Film: „Unser Dorf soll häßlich werden“ aus dem Jahr 1973 und danach  sitzt Dieter Wieland auf der Bühne und erzählt.

Und nachher verlassen alle den Saal und wir sechs Leute bleiben sitzen und reden einfach weiter, und wir erzählen uns gegenseitig unsere Geschichten und dann geschieht das, was man niemals planen kann, wir unterhalten uns und wir verstehen uns, weil wir Ähnliches empfinden und für die gleiche Sache eintreten. Und wir haben lang nichts mehr zum Trinken, das ist völlig egal, weil wir einfach erzählen und zuhören und erzählen. Dieter Wieland und seine Frau sind freundlich und menschenzugewandt und solche Gespräche sind pures Glück. Irgendwann sagte er zu seiner Frau, glaubst du nicht auch, wir sollten dann mal ins Bett gehen? Da war es schon lang nach Mitternacht. Aber bevor wir uns dann langsam auf den Weg machten, hab ich zur abgrundtief scheußlichen Decke des Pfarrsaals hinaufgewunken und gesagt: Schau Papa, Du hast ihn so verehrt und  hast immer gesagt, das ist ein ganz besonders Guter, und jetzt sitz ich ihm gegenüber und freu mich auch für Dich mit und dann sag ich:

Herr Wieland, ich glaub, ich soll sie jetzt grüßen von meinem Papa!

Damit das aber nicht zu peinlich wird für alle und dem Papa oben im Himmel hinter der Pfarrhausdecke und ich sowieso schon mit den Tränen kämpfe, gehe ich erstmal aufs Klo und dann verabschieden wir uns alle voneinander. Und wie das so ist, nach so einem wundervollen Abend, stehen wir noch vor der Türe und die Gespräche hören erst auf, als es regnet und mit guten Wünschen trennen wir uns in die schwarze Nacht hinaus … und Herr Graugans geht auf die Suche nach dem Auto, das geheimnisvollerweise nicht mehr da zu stehen scheint, wo er es abgestellt hatte.

 

Und da träumt die liebe Kraulquappe

#25 La linea lumaca dell tempo

Die Kraulquappe und ich werden auch weiterhin parallel zueinander das aufschreiben, was uns an einem bestimmten, gemeinsam festgelegten Zeitpunkt grad so in den Sinn kommt. Dieser Punkt soll beweglich bleiben und darf sich im Raum der Zeit einen neuen Ort suchen. Ab heute ist sein Platz der Mittwoch um 16.35 Uhr, da bleibt er vorerst bis auf weiteres.

Es dämmert schon, und es ist erst halb fünf am Nachmittag. Es geht auf Allerheiligen zu. Vom alten Nußbaum fallen die Nüsse herab. Ich sammle sie auf und lege sie zum Trocknen dorthin, wo sie seit vielen Jahren immer schon liegen. Auf einem alten Gitter, auf das man früher, lang bevor es die heutigen Lattenroste gab, im Bett die dreiteiligen Roßhaarmatratzen legte. Mindestens einmal am Tag müssen die Nüsse hinum und herum gewendet werden, damit sie nicht schimmeln. Heuer klebt an sehr vielen noch die schon eingetrocknete, zähe Schale, die man schlecht runtermachen kann. In den letzten Jahren, die extrem trocken waren, gibt es viel Abfall und außergewöhnlich viele taube Nüsse, die man aber meist erst erkennt, wenn sie später aufgeknackt werden. An der Beschaffenheit seiner Früchte erkennt man, ob es dem Baum gut geht oder ob er leidet. Unser alter Walnußbaum hat schon viel ungute Wetterlagen erlebt, aber diese Trockenheit Sommer wie Winter scheint ihn besonders zu schmerzen. Seltsamerweise kommen seit einigen Jahren auch vermehrt die Elstern und picken mit ihren scharf geschliffenen Schnäbeln große Löcher in die Nüsse. Wer aber haufenweise die Nüsse feinsäuberlich in zwei Hälften gespalten hat, die unterm Baum heute herumliegen, entzieht sich vorerst noch meiner Kenntnis.

Nachts gehen die Geister durchs alte Haus, auf und ab … manch eine Hand greift nach dem Stiegengeländer, begleitet Stufe für Stufe schwere Schritte,  Balken knarren, leises flinkes Tappen auf Holzböden, etwas streift an Wänden entlang, Kinder wimmern, Sterbende atmen schwer … manchmal ein Seufzer, selten ein Lachen. Der Kater Herbert scheint nichts davon zu bemerken, er schläft seit paar Nächten auf dem Sand im Katzenklo, was nicht mehr viel Hoffnung läßt, daß er sich vom Kranksein wieder ganz erholen könnte. Er nimmt alles so, wie es kommt, rollt sich zusammen und schnurrt  seiner weiteren Bestimmung entgegen.  Ich spüre die Geister, wenn sie da sind. Sie kommen zu ganz unterschiedlichen Zeiten, im Hochsommer, zur Erntezeit oder jetzt im Herbst, auch manchmal tagsüber, aber am liebsten zur Zeit nach Mitternacht. Ich frage sie nicht, sie lassen mich in Ruhe und brauchen keinen Kontakt, ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt bemerken.  Es ist, als hätten die, die hier gelebt haben, so etwas wie eine Art Schatten hinterlassen, etwas Schemenhaftes, einen Abdruck ihrer selbst, eine Parallelwelt, ein Hauch nur. Sie gehen durchs Haus, immer wieder gehen sie durchs Haus, treppauf treppab.

Ich halte mich dann ganz still und mein Stift zeichnet Linien, immer nur Linien, Schneckenlinien, die sich schlängeln und kreisen, die Zeit läuft unter ihnen hindurch, dreht Spiralen und dreht sich und dreht sich um uns herum, wir rasen durchs Weltall, auch wenn wir uns nicht bewegen, rasen wir durch Raum und Zeit und auf dem Flug verglühen wir.

Wir hinterlassen eine Blutspur von abgeschlagenen Köpfen, die einzige Spezies werden wir sein, die sich selbst ausgerottet hat.

Mein Stift kreist und kreist, Blatt für Blatt füllt sich mit Linien der Zeit. Gestern, auf einer kleinen kulturhistorischen Wanderung hat sich eine steile Schlucht gezeigt unterhalb eines Hügels, auf dem einst eine Burg stand, deren Rittergeschlecht längst vergessen ist und eine kleine Kapelle, die sich an den Burgberg presst. Ein Ort der absoluten Stille, nur ein paar km von hier, ein Geschenk, dort endlich hinzufinden.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn …“ (Rilke)

Ja.

 

Und hier das Paralleluniversum der Kraulquappe und was ihr so in den Sinn kommt am Mittwoch um 16.35 Uhr