Mit diesem Satz beginnt ein Gedicht, das sie mir in ein altes, fremdes Poesiealbum geschrieben hat, das von irgendwoher zu uns kam und in dem noch ein paar Seiten unbeschrieben waren. Für ein heißersehntes neues war kein Geld da. Von meiner Mutter sind nur ein paar Fotos und lose herumgeisternde Erinnerungsfragmente übriggeblieben, verblassend und unschärfer werdend in ihrer Bildhaftigkeit. Aber je mehr die Bilder verschwinden, umso deutlicher taucht zwischen den alten, schlecht verheilten Wunden im Kinderherzen eine Art Begreifen auf, und irritierend deutlich spüre ich, wie nahe ich ihr bin in meinem ganzen Sein. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussah, aber ich höre ihr Lachen, denn es lacht aus mir heraus. Und ich weiß, wie sich ihr Humor anfühlt, dieser Humor, der gerade dann am stärksten ist, wenn die Welt ringsumher in Scherben liegt. Meine Mutter hätte mit Zorbas, dem Griechen gesungen und getanzt und gesoffen und darüber aus vollstem Herzen gelacht über diesen wunderbaren Satz: hast du schon jemals etwas gesehen, was schöner zusammengekracht ist.
Sie beherrschte die hohe Kunst des Blödelns. Dieses Wort kannte hier niemand, sie hat es mitgebracht aus der K. und K. Vergangenheit ihrer Wiener Theaterfamilie. Bei uns wurde nie geblödelt, zu karg waren die Verhältnisse hier auf dem armen Bauerngütl inmitten von Not und Elend. Da hat niemand verstanden, daß das Blödeln und diese Art Humor genau da hingehören, wo die Not am größten und der einzige Ausweg das Lachen ist. Dadurch ist nichts gerettet, es wird nichts wirklich besser, die Not, woher sie auch kommen mag, verschwindet nicht, die Verhältnisse verbessern sich nicht, auch Schmerz und Krankheit verschwinden nicht … aber, man lacht dem Schicksal frech ins Gesicht und macht sich einen Jux draus. Ich liebe diesen Humor, man kann ihn nicht erklären, er ist da oder nicht. Sie hat ihn in mir hinterlassen. An einem Tag wie heute, wo ich versuche, meine Sorgen zu sortieren, und nicht weiß, wie mein Leben weitergehen soll, da fang ich plötzlich an zu weinen vor Dankbarkeit, weil ich mich erinnere an sie und dann denk ich mir: Ist doch egal, dann soll halt das Haus über uns zusammenkrachen, bis dahin wird gelebt, getanzt, gesungen, gut gegessen, getrunken und vor allem gelacht!
Alle, die zum Hausieren kamen, wurden hereingebeten und bekamen das, was wir auch hatten, meist einen Kaffee oder einen Teller Suppe. Wenn jemand gefroren hat, hat sie förmlich das verschenkt, was grad irgendwo herumlag. Sie verschenkte sowieso alles, was nicht niet- und nagelfest war, an Gegenständen hing sie in keinster Weise.
Sie hat Arien aus Tosca gesungen, während sie im Stall die Kuh gemolken hat. Operetten kannte sie auswendig, sie liebte „Das Land des Lächelns“ und „Das weiße Rössl am Wolfgangsee“ … hier vor allem das Lied: „Es ist einmal im Leben so, andern geht es ebenso…“
Sie liebte Besuch und hatte immer Zeit, stundenlang zu plaudern, Abende lang, Nächte lang und bei Bedarf auf dem Tisch Rock n Roll zu tanzen … die Ehefrauen von Vaters Freunden erlaubten ihren Männern nicht mehr, zu uns zu kommen.
Sie hatte rehbraune Augen.
Sie passte nirgendwo wirklich dazu, hatte auch da keine Heimat, wo sie herkam, auch beim Theater nicht. Sie fiel aus allen Rollen, was mein Vater hasste, er liebte sie trotzdem abgöttisch, sie hielt keine Regeln ein, befolgte keine Strukturen, erzählte waghalsig und ohne Netz und doppelten Boden ihr Leben und erfand Geschichten, sie hatte keinerlei moralische Grundsätze, sagte zu mir, daß Gott in den Margaritten wohnen würde und daß diese Geschichte mit der Hölle ein furchtbarer Blödsinn sei, ich solle sowas ja nicht glauben.
Sie schleppte riesige Sträuße an, Wiesenblumen, irgendwelche Sträucher, halbe Bäume, und stellte sie in großen Vasen und Eimern überall im Haus auf.
Nichts an ihr war so wie bei den anderen Müttern, sie war mir peinlich.
Zu meinem 13. Geburtstag bestellte sie mir beim Konditor eine große Torte, die beste in meinem ganzen Leben, mit 13 Kerzen. Sicher auf Pump. Mein Vater zahlte 15 Jahre lang nach ihrem Tod die diversen Sachen ab. Sie hat die Leute in ihren Charme eingewickelt und überall Kredit bekommen.
Ich würde sie so gern so Vieles fragen. Ich glaube, sie wäre eine Fahrende gewesen, wie der Wind überall zuhause, frei, zügellos, heimatlos, lustig und in ihrem Herzen voll tiefer Traurigkeit, was ja kein Gegensatz ist, das wissen aber nur die, bei denen das auch so ist. Aber das Leben oder was auch immer geschehen ist, hat sie von Anfang an ausgebremst.
Sie war sicher nicht so, wie man sich die gute Mutter im Märchen vorstellt, mit der ich vermutlich einen stabileren Stand im Leben bekommen hätte. Sie hatte nicht viel Moral, hat gelogen, daß sich die Balken bogen, war weder treu noch redlich, entsprach keiner Norm und mir kommt vor, als sei sie in einem Käfig gefangengehalten worden, bis sie ausbrach aus dem Leben.
In der Holzschatulle, in der die alten Fotos liegen, finde ich ein Bild mit ihr als kleines Mädchen. Die Mutter war gestorben, der Vater reiste als Schauspieler durch die Lande und meine Mutter wurde untergebracht bei einer Tante. Deren kleine Mädchen wunderschöne neue Puppenwägen mit Puppen bekamen und sie stolz dem Fotografen präsentieren. Im Hintergrund steht ein riesiger Christbaum, die Familie ist darum herum versammelt. Meine kleine Mama mit großen dunklen hungrigen Augen steht da, ganz alleine, schmächtig und eingeschüchtert und hält eine kleine Puppe an sich gepresst. Die Augen … ich weiß, was sie sagen, und was sie fragen, heute weiß ich es.
Auf dem anderen Foto, das ich finde, ist meine Mutter, sie hält mich in ihren Armen, ich bin ein ganz kleines Baby, und sie schaut mich an und spricht lächelnd zu mir und aus ihren Augen strahlt die Liebe, nichts als die Liebe.
Ich bin so anders und doch bin ich auch Du.
Ich weiß nichts von Dir und doch spüre ich Dich.
Du wohnst für immer in meinem Herzen.
Heute, um 21.30 Uhr, vor 72 Jahren hast Du mich geboren, meine Mama.
Ich danke Dir.
Ab heute werden die Kraulquappe und ich in unserem regelmäßigen Parallelschreiben eine Sommerpause einlegen, im Oktober gehts dann wieder weiter. Unsere Blogbühnen bleiben natürlich geöffnet, auch hier, zwischen Himmel und Erde werden die Notizen weiterlaufen, mit allem, was mir halt so einfällt!