Komisch, Virgilio, ständig blitzt mir abends dieses Fenster entgegen, früher ist mir das nie aufgefallen. Mir ist ein bisschen, als hätte ich Dich gekannt, was ja nicht sein kann, nicht wahr, zwischen uns lagen schließlich die Alpen. Mir ist, als würde ich Dich vermissen, Virgilio, aber auch das kann nicht sein, wir kannten uns ja nicht. Ich trage seit Jahrzehnten einen Terminkalender mit mir herum, der, zum Hineinschreiben völlig unbrauchbar, aber zum Herauslesen lebensrettend ist. Du weißt, über manch einen Tag trägt uns nur die Poesie, nicht wahr?
Hier, am Nordrand der Alpen, staut sich gerade die Sehnsucht nach dem Süden, die sich vorher durchs Land bis zu uns heruntergewälzt hat. Auto für Auto wird unter dem Gebirge hindurchgezerrt, um dann irgendwo am Meer das Eigentliche zu erleben…das, wovon alle träumen…
Wovon wirst Du geträumt haben? Auf einem Foto sehe ich schwarze Augen, ein gescheites Gesicht… ich lese: Altphilologe, promoviert, Schriftsteller, Lektor, Freund, Regenschirmvertreiber… Du hast über mythologischen Themen geforscht, Deine Arbeit über Pan hätte mich interessiert.
Der Poet ist gegangen, sein Werk hat er dagelassen. In jedem Gedicht ist eine Pforte verborgen, allein der Wunsch öffnet die Tür… die Geschichte beginnt mit Antworten auf Fragen, die man nie gestellt hat.
Ciao, Virgilio!
Nachts
Ich möchte dass es nie mehr Sommer wird
dass der Regen nicht aufhört die Birken
ihr Grau behalten der Asphalt den
Scheinwerferglanz
vor dem Wind die Läden ver-
riegeln im Turm von den Balken es
lesen Was weiss ich? dann draussen wir
schwarzweiss
das Pflaster gehn durch einen
Film ohne Tonspur doch wenn du
aufsiehst im Kreuzungslicht
diese bläulichen
Kreise hinter den Wimpern und wie dir´s
in die Stirne fiele das Rot.
Virgilio Masciadri
(mein herzlicher Dank an die Poesie-Agenda des Orte Verlags für´s Ausleihen!
www.orteverlag.ch)