Archiv für den Monat: Juni 2023

#9 In den Gängen

Während wir an der Brücke stehen, um in die Bundesstraße einzubiegen und über die neuesten Ungereimtheiten im Kampf der selbsternannten Giganten in Russland sprechen, die aus einem miesen Blockbuster stammen könnten, wären sie nicht blutige Realität, hören wir sie schon, bevor wir sie sehen. Schwere Fahrzeuge der Bundeswehr  bewegen sich im Konvoi mit diesem grausigen Dröhnen, das nur Kriegsfahrzeuge machen, an uns vorbei. Zehn, zwanzig, oder mehr, ich zähle nicht, mir kommt die Reihe endlos vor … und sofort ist es an diesem heißverschwitzten Sommertag zu Beginn einer kleinen Spazierfahrt so kalt, daß ich fröstle. Die Erkenntnis, die wir ansonsten gerne von uns wegschieben, fällt uns wie Eisklumpen vor die Füsse. Es ist Krieg. Vor unserer Haustüre.

In meinen Kinder- und Jugendjahren, da gab es dauernd irgendwo Manöver und es sind oft Panzer und alle möglichen Fahrzeuge der Bundeswehr auf der Straße unterwegs gewesen und wir haben den freundlichen Soldaten hinten in den LKWs zu gewunken. Einmal hat eine ganze Truppe bei uns übernachtet, sie waren vom Weg abgekommen und hatten sich bei Nacht und Nebel verirrt. Sie waren völlig übermüdet vom langen Marsch, saßen verschwitzt und kaputt herum, leerten ihre Blechdosen, schenkten mir ein paar Kekse und heißbegehrte Schokolade. Meine Mutter holte alles, was wir hatten, ich nehme an, Brot und Margarine und sie kochte Kaffee. Ein ganz lieber junger Soldat malte mit mir Buchstaben in ein Heft. Ich war noch ganz klein und saß auf seinem Knie. Seine warmherzige Freundlichkeit spüre ich noch heute und wie traurig ich war, als der ganze Trupp am nächsten Morgen die tarngrünen schweren Schlafsäcke auf unserem Stubenboden zusammenrollte und sich mit Handgeben und sich für Logis bedankend wieder auf den vom Vater genau aufgezeichneten Weiterweg machte. Wir standen alle vor dem Haus, Oma und Opa, Papa, Mama und ich und winkten ihnen nach und der liebe Soldat, der mit mir Schreiben geübt hatte, lief nochmal schnell zurück, warf mich in die Luft, fing mich lachend wieder auf und holte aus seiner Uniformtasche noch ein paar Bonbons für mich, dann drehte er sich um und lief seinen Kameraden hinterher. Ich wünsche so sehr, daß er es ihm gut erging im Leben, er hat bis heute einen Platz in meinem Herzen.

Wir fuhren dann gestern hinter dem Konvoi her mit diesem mulmigen Gefühl und begleiteten ihn bis dahin, wo er in Richtung Stützpunkt abbog.

Unsere Spazierfahrt endete dort, wo neben dem Gerüst an einer alten Kirche dieser riesige Kran steht, den wollte mir Herr Graugans zeigen, weil er weiß, daß ich Kräne liebe. 79 Meter ist er hoch, der Kirchturm geht ihm nur ungefähr bis zur Hälfte und da Sonntag war, konnte ich unter dem Sockel durchgehen, auf dem er steht. Und ich sah die Leiter im Inneren, die der Kranführer hinaufsteigen muß, um oben in seine Kabine zu gelangen … die eine Art Freisitz zu sein scheint. Meine Güte, wie schwindelfrei muß man sein, um da hinauf zu kommen und vor allem: wieder herunter! Aber ich stelle mir vor, daß es ein besonderes Gefühl sein muß, so weit oben zu sitzen, dem Himmel so nah und auf dem Arm die Wolken balancierend…

Der Traum, Kranführerin zu sein, hätte sich leider nie erfüllt, weil ich mich zwar so ziemlich überall hinauf traue, aber leider nicht mehr hinunter, das war immer schon beim Kirschenpflücken ein Problem und scheint den vierbeinigen Katzenwesen nicht ganz unähnlich zu sein, die blitzschnell ganz oben in der Baumkrone sind und dann schreien…wie der Herbert, der als kleiner Kater auf den obersten Balken unseres Heubodens kletterte und dann wie am Spieß schrie … Gottlob kam grad der Nachbar des Weges, der als Spengler schon von Berufs wegen schwindelfrei ist, und er stieg auf die längste Leiter und versuchte sein Bestes. Herbert wurde gerettet, dem Nachbarn lief das Blut den Arm runter.

Mein schlimmstes Erlebnis hatte ich mal auf einem Klettersteig in den Berchtesgadener Bergen. Ich stieg auf einer ewig langen steilen Leiter am Felsen nach oben und drehte mich auf der Hälfte um und sah nach unten, was man nie nie nie machen sollte … unten , sehr sehr weit unten lag der grüne Königsee…

Manchmal denke ich, vielleicht wäre es gut gewesen, den Gabelstaplerschein zu machen, das ist auch so ein Fahrzeug, das ich liebe. Ich würde gerne einfach so mit  Hilfe der Hydraulik viele Paletten hochheben können. Und sofort fällt mir einer meiner absoluten Lieblingsfilme ein: „In den Gängen“. Darin geht es natürlich nicht nur um Gabelstapler, aber halt auch.  Eigentlich geht es um die verschiedensten Aus- und Einprägungen von Einsamkeit und die Versuche, damit zu leben, zu überleben. Unzählige Male hab ich ihn schon gesehen, aber immer wieder entdecke ich unbekannte Details und ich gehe mit den Haupt-und Nebenpersonen durch das Lager eines großen Einkaufsmarktes irgendwo in Deutschland im Nirgendwo einer Provinz hinter den Verkaufsflächen, dort, wo die Unsichtbaren sind, die Ware von hier nach dort mit dem Stapler transportieren. Dort , wo sie immer wieder versuchen, sich zu mögen, sich trauen, das auch zu zeigen, zu scheitern und wieder weiterzumachen, ein wenig Glück, ein Yes-Törtchen mit Kerze zum Geburtstag … mit der Trostlosigkeit zu leben und zu sterben, weil man ihr nicht ausweichen kann. Und mit dem Stapler herum zu fahren … und wenn man die leere Gabel ganz nach oben und langsam wieder runterfährt, dann hört sich das Geräusch der Hydraulik an wie Meeresrauschen.

„In den Gängen“ –  ich liebe diesen Film.

Und da schreibt die Kraulquappe

 

La petite mort.

Auf dem Höhepunkt der Lust wendet sich die Sonne und fällt, rückwärtsgehend, hinter dem Horizont in den Chiemsee.

Ich sitze auf der Schwelle und bewege mich nicht. Unter mir ist der Abgrund. Die Luft und die Zeit und die Ewigkeit stehen um mich herum in Würfeln aus Glas.

Über mir hängt ein blassgrüner, ausgehungerter Sichelmond.

Im Hintergrund ist leises Donnergrollen.

 

#8 Verwunschen

Der Zeitpunkt, mich um 12 Uhr mittags zum Schreiben hinzusetzen ist schwer einzuhalten. Sie wissen natürlich längst, daß man mit mir als Nachtmensch erst um Mittag herum rechnen kann und sobald auch nur ein Geräusch aus der Küche zu vernehmen ist, stehen sie schon da. Und wenn ich nicht reagiere, dann suchen sie mich. Der Kleine vom Nachbarn hat entschieden, mindestens halbtags bei uns zu leben und hat einen Weg gefunden, bei geschlossener Küchentüre trotzdem ins Haus zu gelangen. Er klettert den Hollerbusch hinauf, springt auf den Gang (Balkon) und kommt zur Gangtüre, die im Sommer immer offen steht, herein in den Söller und dann schaut er, ob er was zum Essen findet oder er legt sich schlafen. Einer Katze den selbst ausgewählten Wohn- und Schlafort zu verbieten, ist ein vollkommen sinnloses Unterfangen. Genauso sinnlos ist es, am Rechner im ersten Stock zu sitzen und zu meinen, man könne arbeiten, wenn unten die ganze Fellbande herumlungert und auf ihr Gewohnheitsrecht pocht. Herbert hat jetzt auch den Weg über den Hollerbusch erkannt und steht mit vorwurfsvoller Stimme neben mir. Aufstehen mitten im Satz und runtergehen, alle füttern, natürlich einzeln und nacheinander … wie es ihnen genehm ist und den sich ständig ändernden Dominanzen entspricht. Dann, mit Kraft aufgetankt, je nach Stimmung, trollen sie sich wieder, die einen gehen auf die Jagd, die anderen zu den Schlafplätzen, die Katzenwesen. Sie als „Haustiere“ zu bezeichnen, wäre unangemessen. Das Haus wird benutzt als komfortable Unterkunft bei unguten Witterungsverhältnissen, der Mensch ist geschätzter Futtergeber, auf den man angewiesen ist, das wars aber schon. Unsere Katzen sind Familienmitglieder, ob sie das auch so sehen, ist relativ ungewiß. Sie streichen gerne um unsere Beine und sind nahezu immer in der Nähe, wo wir uns auch draußen aufhalten. Es ist äußerst ratsam, in ihrer schnurrenden und einschmeichelnden Gegenwart nie die Raubkatze in ihrem Wesen zu vergessen, die eigenen Instinkten folgt, und von der man als Mensch nur deshalb nicht gefressen wird, weil man soviel größer ist.

Ein kleiner, lauer Wind streicht mir ganz zart übers Gesicht, während ich aus dem Fenster schaue, hinüber zum Hügel, der sich zum Wald hinaufzieht. Almenrausch, Flieder, Buchenschößlinge, Felsenbirne, Holler, Kornelkirsche und Wildrosen überwuchern den Zaun meines verwunschenen Gartens. Früher stand dort mal ein uraltes kleines Waschhaus, es wurde „Badl“ genannt. Mir kommt heute vor, als hätte ich einen Teil meiner Kindheit dort verbracht , alleine mit den magischen Geheimnissen dieses Ortes, von denen ich niemals jemand erzählt habe. Noch heute blutet mir das Herz, wenn ich daran denke, wie es vom Vater abgerissen wurde wegen angeblicher Baufälligkeit, an die ich nie geglaubt habe. Ich sehe noch die großen Bachsteine herumliegen, aus denen es gebaut war in dieser trostlosen Schönheit in der Armseligkeit eines kleinen Bauerngütels. Der Vater hat dann einen Nutzgarten dort angelegt und jahrzehntelang in erbittertem Krieg um seine Ernte gekämpft in pausenlosem Ermorden von Schnecken und Wühlmäusen und ständigem Zurückdrängen der hereinkriechenden Wildnis. Ich habe die Versuche, ohne Tötungsaktionen zu Gemüse zu kommen, lange schon aufgegeben und alles sich selber überlassen. Dann hat sich alles im eigenen Rhythmus gewandelt und lebt nach eigenwilligen Gesetzmäßigkeiten, die nicht mehr angepasst sind an menschliche Maßstäbe. Manchmal ist mir, als würde sich der Ort regenerieren, sich dehnen und strecken, ein- und ausatmen und manchmal ist sie wieder da, diese Magie des verwunschenen Ortes meiner Kindheit. Alles wächst, wie es will, Teppiche von duftenden Bartnelken entstanden, die ich eigentlich ganz woanders vergeblich gepflanzt hatte, Edelrosen wachsen, mitten im hohen Gras, gestützt von Akeleien. Einen Ameisenhügel gibt es, gebaut wie eine Burg mit zwei Stockwerken unter der Erde und Spähertrupps drumherum. Ein Baum wächst, dessen Art niemand kennt, den ich schon mehrmals komplett abgeschnitten habe, aber der sich immer wieder ans Licht kämpft, jetzt kann er bleiben.  In meinem verwunschenen Garten gibt es keinen Tod, wenn etwas aufhört zu atmen, dann atmet ein anderes dafür weiter. Es stirbt nichts, sondern es verwandelt sich, es zieht sich zurück in die Erde, um bei geeigneten Bedingungen wieder zu keimen. In meinem verwunschenen Garten sitzt der Tod auf warmen Steinen und döst vor sich hin, lächelnd.

Es gibt hier keine Bedrohung, nicht mal ich werde wohl so empfunden, wenn ich mit der Sense ab und an meine, es müsse doch Wege durchs Dickicht geben und was man halt so denkt als zivilisierter Mensch … wurde uns denn nicht lebenslang beigebracht, daß diese ungezügelte Wildnis zu fürchten ist, weil sie zu Anarchie führt?  Manchmal hätte ich auch gerne ein romantisches Plätzchen, das geht aber nur in einer Art gepflegter Wildnis. Wenn ich mit der Sense  das hohe dichte Gras mähe und das klebrige Labkraut ausreisse, dann habe ich immer den Eindruck, hinter mir schließen sich sofort die Schneisen. Alles wuchert seinen Geschicken entgegen, was ich aufreisse, macht hinter mir wieder zu und ich werde keineswegs als Fremdkörper betrachtet, sondern eingemeindet, es würde nicht lang dauern, dann wäre ich umwuchert.

Wild ist das Wilde nur da, wo es wild ist. Es gibt  Wesen, die sind tageslichttauglich, man hört und sieht sie. Aber es gibt auch welche, die huschen nachts durch den Garten und es gibt welche, die sieht man nicht, die existieren nur da, wo das Mondlicht silbern auf die Erde tropft. Es gibt kein Gut und Böse und keinen Sinn und Zweck, es gibt nur Einatmen und Ausatmen in meinem verwunschenen Garten.

Das Herz ist ein ganz besonderer Erdteil, alles ist richtig, auch das Gegenteil.

 

Auch die Kraulquappe hat was geschrieben

#7 Paradox

Jetzt habe ich das Buch von Ahmet Altan ausgelesen, ich habe es ausgeschlürft, Wort für Wort hat es meine Grundfeste erschüttert. Nein, keinerlei Schilderungen von blutiger Folter, keine äußeren Grausamkeiten. Das, was mir so nahe geht, daß es wehtut ist die Teilnahme, das Dabeizuschauen, wie der Schriftsteller den inneren Schmerz in Poesie verwandelt, um nicht von ihm getötet zu werden. Er weiß, daß er lebenslänglich in dieser Zelle sitzen muß. Und er reist in Gedanken durch Texte anderer, die er gelesen hat. Zenons Paradox kommt ihm in den Sinn:  „Ein Objekt  in Bewegung ist weder dort, wo es ist, noch dort, wo es nicht ist“ und er verwandelt es für sich: „…ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin.“ Und da passiert dieser Transfer, nur selten gibt es ihn … die Stimme des Schriftstellers wird zu meiner Stimme und spricht aus mir. Wir werden zu einer Sprache, wir sprechen uns aus der Seele.

Ich sitze hier, draußen höre ich Herrn Graugans, der mit zwei schmerzhaft kaputten Knien und mitten im stressigen Firmenalltags mühsam mit dem Kreiselmäher unter den Bäumen des buckligen Streuobstwiesenhangs das Gras bearbeitet. Der Pächter kommt demnächst mit dem acht Meter breiten Mähbalken und mäht die großen Flächen. Die Mähtermine des Pächters richten sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und werden, wenn überhaupt, einen Tag vorher bekanntgegeben. Wenn wir da unsere paar tausend qm zeitnah auch mähen, dann können wir es zu dem übrigen Gras dazu werfen. Wenn nicht, dann bleibt das Gras halt stehen. Also werden wir heute soviel wie möglich bearbeiten, so lang es Büroalltag und Schmerzen zulassen. Ich werde den Rechen nehmen und die Heugabel und das von uns Gemähte zum anderen hinüber- hinauf- hinunter transportieren. Und ich versuche, dabei nicht daran zu denken, was mir alles wehtut, sonst fang ich an zu weinen. Der Nachbar hat ähnliche Probleme. Er hat denselben Pächter, aber der Mähbalken vom kleinen Traktor, mit dem er seine Streuobstwiese zu diesen Anlässen bearbeitet, ist kaputt und er selbst ist auch sehr schlecht beisammen, denn die wochenlange Arbeit beim Hausbau seines Sohnes hat sein lädiertes Kreuz einsacken lassen.

Das neue Haus steht da und hat schon ein rotes Schindeldach bekommen. Es steht auf der Anhöhe und seine noch leeren Fensterhöhlen schauen auf das alte Bauernhaus herunter. Ob dessen Augen auch hinaufschauen, kann man durch die Scheibengardinen nicht erkennen. In den nächsten Tagen wird der gelbe Kran wieder verschwinden, der Himmel wird sich dann wieder selbst tragen müssen.

In München sind vier Konzerte mit Rammstein ausverkauft, es ist ja nichts Neues, daß man mit dem Badboy – Image viel Geld verdienen kann, hier funktioniert es auch prächtig seit Jahren und derzeit mehr denn je. Und ich habe bisher noch niemand sagen hören, daß ihr/ihm bei den Schweinereien der Texte schlecht geworden sei. Ganz im Gegenteil, viele Konzertbesucherinnen sprachen von Loyalität grade jetzt … ein äußerst gefährlicher Begriff, die Loyalität. Auch die vielgepriesene Toleranz ist mit größter Vorsicht zu genießen.

In Erding treibt eine, die sich Kabarettistin nennt, die Massen auf einem Platz zusammen und verspricht, daß es demnächst 10000 sein werden auf der Oktoberfestwiese. Die Leute wollen kein E-Auto sagt sie und sie wollen nicht gendern und weiteres unsägliches Zeug, auch der bayrische Gottvater samt seiner Assistenz gesellen sich dazu und dann schimpfen alle über die Grünen, denn die „wollen uns den Wohlstand nehmen“, wenns nach denen geht, müssen wir im Winter erfrieren.  Oje, alles sehr peinlich, wie ich finde, auch die AfD hat ihre Veranstaltung nebenan.

Es ist ganz schön brenzlig, wenn ich sage, daß ich eine überzeugte Grüne geworden bin und finde, daß die alle einen guten Job machen und ihnen dabei Fehler zugestehe, weil auch die Grünen Menschen sind. Erschreckend viele freundlich begonnene Gespräche enden dann abrupt wie gestern bei der Radlrunde, als ein paar Leute massiv über Habeck & Co geschimpft haben, weil der die Verarmung vorantreiben würde und man wüsste nicht mehr, wo man noch das Geld für die hohen Energiekosten nehmen sollte. Später sind sie dann am Berg, als ich mein Radl geschoben habe an mir vorbeigezogen: Papa, Mama, kleineres Kind 1, größeres Kind 2, alle mit teuerster Markenkleidung, Helmen, etc. ausstaffiert und alle, einschließlich kleines und größeres Kind auf E-Bikes der Luxusklasse.

„Ich bin weder, wo ich bin, noch, wo ich nicht bin.“ (Ahmed Altan)

 

Gruß an Frau Kraulquappe!

#6 Ahmed Altan: „Ich rauche nur, wenn ich nervös bin“.

Der Wind in der letzten Nacht hat mindestens die Hälfte der Wildrosen entblättert. Die Zartheit der Blüten konnte ihm nicht widerstehen. Sie blühen nur ein paar Tage. In dieser kurzen Zeitspanne ereignet sich das Wunder, man kann es riechen, sehen, aber vor allem, spüren, es geschieht aus sich heraus und hat eine eigene Gesetzmäßigkeit, der man sich fügen muß, sonst verpasst man es. Hinsetzen, still sein und schauen, das ist alles. Und man muß aushalten können, daß im Aufblühen das Vergehen enthalten ist. Dann fliegt das Wunder wieder weg, zurück bleibt eine kleine traurige Melancholie, das ist der Preis.

Noch weht ein zarter Hauch von einem Duft durchs offene Fenster. Neben mir steht die Kanne Tee und daneben liegt das Buch, das ich um Punkt zwölf Uhr zugeklappt habe: Ahmed Altan: Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis. Ein kleines dünnes Buch, das ich mit gebracht habe aus einer Veranstaltung im Salzburger Literaturhaus. Drei Abende waren es: „Das Europa der Muttersprachen“, heuer  mit Lesungen von SchriftstellerInnen aus Städten am Schwarzen Meer, Istanbul, Tbilisi, Czernowitz. Und wie immer, waren auch die Leiterinnen der dortigen Literaturhäuser eingeladen, um über ihre Arbeit unter den jeweiligen Bedingungen zu sprechen. Kleine Oasen des Glücks in diesem Haus am H.C.Artmannplatz , da, „wo das Leben zur Sprache kommt“, wie der Slogan des Hauses ganz richtig heißt. Inmitten von einem angenehmen und interessierten Publikum diesen fremden Menschen lauschen zu dürfen, die trotz größter politischer Widrigkeiten förmlich um ihr Leben schreiben und Literaturhäuser betrieben werden, obwohl Bomben und sonstige Bedrohungen über die Dächer fliegen, betrachte ich als großes Geschenk. Ich bin so voller Texte und Eindrücke, ich könnte noch kein wirkliches Fazit über diese drei Abende erstellen. Aber was mich durchgehen zutiefst berührt ist, daß alle um ihre eigene Sprache kämpfen, die oft ganz beträchtlich von der landessprachlichen Norm abweicht. Ich fühle mich allen nahe, die ihre Sprache sprechen nicht nur gegen den Mainstream wie hierzulande, wo man ja mit Mundart nur belächelt wird und als etwas geistig minderbemittelt betrachtet – sondern vor allem denen, die ihre Sprache unter großer Bedrohung sprechen. Ich erfahre, daß die baskische Sprache kein Land hat und den Kurden weder Land noch Sprache genehmigt wird. Ich liebe es, in der Sprache der Menschen zu hören, wo sie herkommen und beklage es sehr, daß schon den Kindern eine Art Einheitsdeutsch aufgezwungen wird und sie keine sprachliche Heimat mehr haben dürfen … aber das ist ein eigenes Feld,  eins meiner großen Lebensthemen und ich würde gerne mal ein Projekt ins Leben rufen, in dem es darum geht, wie wir sprechen und warum wir so sprechen, wie wir sprechen… ich fürchte, da gäbe es wohl nur wenige, die mitmachten, wenn überhaupt, denn das ist ein ganz heikles Thema, weil es da ja auch um Heimat geht und diesen Begriff scheinen wir alle nahezu zu fürchten, fast so sehr wie Einsamkeit, Kranksein, Alt werden …

Ohne nochmal auf Ahmet Altan hinzuweisen möchte ich diesen Text hier nicht beenden. Während ich hier am Rechner sitze hatte ich ständig diese Aufforderung in mir: Sag allen, sie sollen dieses Buch lesen! Das ist schwierig und ich weiß auch nicht, wie ich es besser formulieren könnte, also sage ich einfach denen, die es nicht längst schon kennen, bitte, lest dieses Buch:

Ahmet Altan: Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis.

Er ist ja, wie viele wissen, auf großen internationalen Druck nach fünf Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden, in dem er eigentlich als Oppositioneller lebenslang sitzen hätte müssen, aber man fand andere Wege, ihn zu quälen und hat ihm Ausreiseverbot erteilt und so konnte er nicht nach Salzburg kommen. Er hat eine Videobotschaft geschickt, die herzzerreissend ist wie das Buch. Heutzutage gibt es ja für alles Triggerwarnungen, womöglich sollte ich davor warnen, es vor dem Urlaub in Istanbul zu lesen, denn man könnte sonst beim Bummel durch die Straßen sich erinnern, daß unterhalb die überfüllten Kerker sind …  Der alte und soeben wieder erneuerte Machthaber scheint mit seiner Politik völlig richtig zu liegen, zumindest, was die touristische Auslastung seines Reiches anbelangt, da liegen die Zahlen höher als je zuvor.

Ich danke Ahmet Altan für dieses Buch, von dem ich täglich nur ein paar Seiten lese und jedes Wort eine Kostbarkeit bedeutet.

Herzlichen Dank dem wunderbaren Leiter, Tomas Friedmann und allen Beteiligten, es war mir eine große Ehre, Zuhörerin sein zu dürfen!

Perihan Magden
Ahmed Altan
Istanbul

Ana Kordzaia-Samadashvili
Tbilisi

Sofia Andruchowytsch
Igor Pomeranzew
Czernowitz

 

„Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten.
Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen.“
Ahmed Altan

 

Auch die Kraulquappe hat einen neuen Text.