Ich bin also jetzt offiziell alt, der Bayerische Ministerpräsident läßt ein Schreiben schicken, das pünktlich zu meinem 70. Geburtstag eintrifft, unterschrieben mit persönlichem Krakel und freundlichen Grüßen. Er läßt mir ausrichten, daß ich in sieben Jahrzehnten viel erlebt hätte und stolz sein könne, wenn ich auf das Erreichte zurückblicke und er läßt hoffen, daß – noch – viele weitere Jahre mit schönen Ereignissen und glücklichen Momenten zum Erfreuen wären. Dazu noch alles Gute, insbesondere Gesundheit! Die Raiffeisenbank schickt alles Gute, Glück und Zufriedenheit, die Hoffnung darauf, daß meine Wünsche in Erfüllung gehen und ich gesund bleiben solle und – noch – viele weitere schöne und erlebnisreiche Jahre genießen. Der Bürgermeister wünscht mit breiter Füllfeder und blauer, wahrscheinlich Pelikano-Tinte unter den Glückwunschvordruck alles Gute für das neue Lebensjahr.
Auf dem Tisch liegen Zeitschriften über Vogelschutz, draußen vor der Terassentüre hüpfen ein paar Spatzen am Futterhäusl herum und ich sehe uns, die wir hier im Wartezimmer meiner Hausärztin sitzen, eine Handvoll trostlos blickender Gestalten, aus denen auch beim besten Willen keine Vögel werden, obwohl sie alle einen Schnabel tragen, mit dem sie verzweifelt und durchaus originell versuchen, zurechtzukommen. Von der Maske des laut schnaufenden und seufzenden alten Mannes neben mir hängen etliche lange Bänder, deren Funktion ihm nicht klar zu sein dürfte; der Mann gegenüber schiebt den Schnabel unters Kinn, um besser Luft zu kriegen während einer Hustenattacke, eine Frau schiebt ihren schräg über das Gesicht, damit ein Nasenloch frei wird zum Schneuzen, einem anderen wird es zu heiß, er schiebt die Maske hoch und verwendet sie als Stirnband. Seine Frau, ein kleines, zerbrechlich wirkendes Geschöpf, lehnt sich vorsichtig an ihren Mann und versucht, ihre zittrige Hand in seine Hand zu schieben … er läßt es nicht zu, dreht sich weg, minimal, fast nicht zu erkennen, aber sie spürt es und zieht ihre Hand zurück. Der junge Bursche im Eck trägt seine Maske so, wie es sein soll und ist ganz in sich und sein Handy versunken.
Vor der Wartezimmertüre versucht die Arzthelferin mit überirdischer Geduld einem Patienten klarzumachen, daß er von den Tabletten nur zwei nehmen müsse und da er ja heute schon eine genommen hätte, bräuchte er nur noch eine zu nehmen und zwar morgen. Ein schwieriges Unterfangen offenbar und sie braucht mehrere Anläufe, um diese komplexe Angelegenheit zu erklären …“ Nein, heute keine mehr, erst morgen … insgesamt zwei … Gebrummel … und heute haben Sie ja schon eine genommen … Gebrummel … nein, nur eine … Gebrummel … nein nicht heute, morgen, eine Tablette, nur eine … Gebrummel … nein, nicht zwei auf einmal, eine haben Sie doch schon, nur eine noch, … Gebrummel … eine nur, Gebrummel, morgen, Gebrummel, die Frau Doktor sagt, Sie nehmen eh schon so viele Tabletten, morgen die eine reicht! Die Aussage der Frau Doktorin hat wohl endlich zur Beendigung der Maßnahme beigetragen und mit ein wenig Gebrummel im Hintergrund wird der Patient freundlich verabschiedet.
Das Ganze hat mich erinnert an die genialen Doppelconférencen „Der Gscheite und der Blöde“ von Farkas und Waldbrunn, bei dieser Art von Humor ist man in einem Zwischenbereich von Lachen und Weinen, alles verschiebt sich, man weiß nicht mehr genau, ob der Gscheite nicht eigentlich der Blöde ist und umgekehrt und wenn einem die Tränen runterlaufen vor Lachen, weiß man nicht , ob es nicht auch zum Weinen ist und eine Tragödie, dieses Menschsein…
Die Praxis ist bestens organisiert und niemand muß lang warten, draußen fährt ein Auto vorbei mit offenem Fenster … „du bist vom selben Stern, ich kann deinen Herzschlag hörn, du bist vom selben Stern wie ich, wie ich wie ich …“ in den Augen der Frau schräg gegenüber sehe ich es leuchten, dann werd ich aufgerufen.
Neulich haben wir endlich den Listsee gefunden, im Bergland, etwas oberhalb von Bad Reichenhall, im Wald unter den steilen Wänden der Felsen auf dem Kreuzungspunkt der Wege ins Gebirge und zur Burgruine. Es ist immer wieder rätselhaft, warum man manche Orte im gar nicht so weiten Heimatumkreis einfach jahrelang nicht findet. Ich liebe es, Sagen und geheimnisvollen Geschichten zu folgen und die Orte zu suchen, an denen sie sich ereignet haben sollen. Diesmal war es der „Nöck“ (Wassermann), dessen stark verborgener Spur ich folge. Hier im Listsee, der sehr lange Zeit „der ungenannte See“ geheißen hat, soll mal einer gelebt haben. Aber die Geschichte beginnt eigentlich schon viel früher … in der Broncezeit war hier schon eine Art Kultort, das haben Ausgrabungen gezeigt. Aus den Sagen der Gegend geht hervor, daß bei der Entstehungsgeschichte des Sees die damals in Urzeiten hier noch ansäßigen Riesen mitgewirkt haben … einer von ihnen ist herumgehüpft an dieser Stelle und durch sein wildes Getanze hat er eine Kuhle in den Boden gestampft, in der sich das Wasser gesammelt hat, so ist der See entstanden. Er hat keinen Zufluß, sondern wird unterirdisch versorgt. Ein Wassermann hat im See gehaust, lange lange Zeiten, dann ist er verschwunden. Schwer zu glauben, daß sich ein mächtiger Wassermann von einem dummen Bauernburschen, einem richtigen Rotzlöffel, so ärgern hat lassen, daß er sich davongemacht hat. Der Bursche wurde tot aufgefunden, ertrunken im See. Bis dahin war der Nöck ein wertvoller Helfer, hat die Menschen gewarnt vor Unwettern und Überschwemmungen und war ihnen stets zu Diensten in ihrer kargen Welt und er hat ihnen aus so mancher Not geholfen.
Ein mächtiger Wassergeist, eine Gottheit, verehrt und hochgeachtet und den Menschen zugetan. Warum hauste er ausgerechnet in diesem kleinen See, der eigentlich eher ein Weiher ist? Grün ist er, sehr grün, nicht tief und voller Seegräser, die sich hin und herbewegen. Ich werde noch öfters hierher kommen. Es ist ein vollkommen unscheinbarer und unspektakulärer Ort, die meisten gehen vorüber, hinauf zu den Almen und den Felsen. Ein Ort, der mich an die „Höhlenkinder im heimlichen Grund“ erinnert. Ja, es ist einer dieser geheimen Orte … denen man das nicht ansieht. Das Geheimnis zeigt sich nicht im Hinschauen, sondern im Hineinschauen. Wir tragen es in uns. Inwendig. Genauso, wie sich die Heiligkeit der Berge nicht automatisch erschließt durch das Hinaufsteigen sondern durch das von unten Hinaufschauen, dann schaut der Berg in uns hinein. Diese Logik ist rätselhaft wie manch alte Geschichte.
Ich sitze da und schaue ins Wasser, hinter mir führt der Weg steil hinauf, man sieht ihn noch nicht, aber ich kann ihn spüren, den Berg, den Felsen, den Stein. Es ist sehr still am ehemals ungenannten See. Ein kleiner Fisch schwimmt immer wieder die gleiche Route. Auf der Wasserhaut tänzelt eine Libelle. Wassermann, wohin bist Du gegangen … könnte ich Dich finden, wenn ich die richtige Frage stelle? Worte von Rumi sagen sich in mir:
„Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.
Dort treffen wir uns.“
Auf der Seehaut bildet sich ein kleiner Kreis, so als ob ein Tropfen hineinfällt, es regnet aber nicht. Das Wasser kommt lautlos herauf aus dem Bauch der Erde und überzieht den See mit Ringen, mit zarten, gläsernen Ringen.