Archiv der Kategorie: Begegnungen

Der Wind…der Wind…

Sie versteht mich sofort, als ich sage, daß ich mal wieder verlorengegen bin, weil ich mich inwendig verlaufen habe. Wir pflegen keine Bekanntschaft, wir kennen uns nicht mal, unsere Welten sind sehr verschieden. Aber manchmal gibt es ein Synchronleben, wir scheinen dann nicht nur das gleiche, sondern dasselbe Gefühl zu empfinden. So, als teilten wir in diesem einen Moment eine einzige gemeinsame Seele. So stelle ich mir schon mein ganzes Leben lang diesen ersehnten eineiigen Zwilling vor. Manchmal scheinen sich unsere Umlaufbahnen zu kreuzen, dann sagen wir: merkst du es, es ist grad wieder passiert. Einmal sagt sie: weißt Du eigentlich, daß es schon Jahre so geht … magisch, gell? … ja, magisch … nein, nicht drüber reden, keinen Namen geben, das Geheimnis bewahren und dieses warme Glück tief im Herzen spüren…

Stürme kommen und gehen, lassen das alte Haus ächzen und zittern, treiben Schneemassen vor sich her oder diesen lauen Wind wie heute. Alles was nicht niet- und nagelfest ist, gerät in Bewegung und fliegt davon. Alles nimmt er mit, der warme Föhnwind, auch die Stunden und Tage des Lebens , plötzlich leuchtet grell wie ein Scheinwerfer eine deplazierte Sonne auf all das, was vom alten Jahr noch übriggeblieben ist an Sorgen, vergebliche Liebesmühen, Enttäuschungen, das geglückte Glück und das gescheiterte.  Und dann kommt die nächste Sturmböe und wirft all das in die Luft … alles, das Schwere und das Leichte. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“ … der allerliebste Zauberspruch meiner Kindheit, als ich ihn hinaufsage zu den rasenden Wolken, fliegt haarscharf an meinem Kopf vorbei die gußeiserne Bratpfanne, die vom Vater, dem Kunstschmied, mit einem Eisengestell und Blechdach zu einem Eßplatz für Vögel umfunktioniert wurde und an einem großen Haken am Nußbaumast hängt. Der Wind hat die Schraube aufgedreht, die alles zusammengehalten hat. Jetzt liegen die Teile verstreut um den Baum herum.

Die Eichkatzwohnungen hängen noch ganz oben, kunstfertig in die Geäste von Eberesche und Zwetschgenbaum verflochten, es werden immer mindestens zwei Nester gebaut, damit man bei Gefahr eine Ausweichwohnung hat.

Nach einer kleinen Pause am Nachmittag kommen die wilden Winde jetzt mit lautem Gebrause zurück und peitschen eiskalten Regen vor sich her. Sofort ist die Futterschüssel der Katzen voller Wasser, vorhin lag da noch eine herausgewürgte Maus, wurde wohl ein weiteres Mal verzehrt, bevor sie im Wasser aufweicht.

„Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben“

Ich schaue hinaus in die stockfinstere Nacht und ich denke an das Buch, das ich gerade lese:  „Die Ausgewanderten … vier lange Erzählungen“. Jahrelang konnte ich mich in den verschachtelten Sätzen und Geschichten von W.G. Sebald nicht zurechtfinden, jetzt werde ich immer süchtiger danach und ich ergebe mich dem Sog, der von seinen Worten ausgeht. Es ist nicht nur seine Sprache, die mit mikroskopartiger Genauigkeit ungeheuerlich weitläufig mäandernd um ein paar Menschenleben kreist, sondern deren geheimnisvolle, nie ganz geklärte Verbindung zur Person des Schriftstellers. Er scheint einer Verantwortung den längst Gestorbenen gegenüber nachzukommen, indem er auf ihre Schicksale einen letzten Blick wirft und ihnen die Achtung erweist, die sie sich verdient haben, bevor sie im ewigen Dunkel des Vergessens untergehen.

„… die widersprüchlichen Dimensionen unserer Sehnsucht …“

Von vier Menschen ist die Rede, die sich auf ihren Wegen vergangen haben und auf der Suche nach einer sinnvollen Existenz innerlich verunglückt und verloren gegangen sind. Das Schicksal mit allen seiner widrigen Machenschaften ließ für ein paar wenige Augenblicke ein Glück aufleuchten aber sie hatten keine Chance, dem letztendlichen Scheitern zu entgehen.

Merkwürdig, wie oft ich jetzt an einen denken muß, der vor vielen Jahren zusammen mit seiner Schwester in unserem Haus gelebt hat, weil beide uns nach dem Krieg „zugeteilt“ worden sind. Sie wurden verjagt aus ihrem Ort, aus ihrem ganzen Leben und dann waren sie gezwungen zu einer armseligen Existenz. In unserem kleinen Stüberl, beheizt von einem ständig rauchenden Ofen hausten sie dann, beide heimatlos geworden, seine Schwester und der Herr Ritz, wie sie ihn immer nannte. Den Herrn Ritz hatte ich als kleines Kind viel lieber als seine Schwester, die immer meine Locken bürsten wollte und mich dabei mit ihren Knieen in den Schraubstock nahm, ich versuchte deshalb  ihre Nähe zu vermeiden. Ich kann mich außer an diese Haarkämm-Prozedur an nichts mehr erinnern, weiß nicht, wie sie aussah, nur daß sie mir groß und mächtig erschien. Erst vor kurzem hatte ich ihren Ausweis in der Hand, da steht bei Körpergröße: 1,48 …

Der Herr Ritz ist mir in einer Erinnerung geblieben. Er hatte gutmütige Augen und saß immer in einem alten Lehnstuhl am Fenster mit einem Buch in der Hand und ich weiß noch ganz genau, wie liebevoll er mich anlächelte, wenn ich ihn im Stüberl besucht habe. Gesagt hat er wohl nichts, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, daß wir miteinander gesprochen hätten. Aber ich war gerne bei ihm, er trug immer einen Anzug mit Weste und Krawatte und hatte immer glänzend polierte Schuhe an. Er war ein leiser und feiner Herr und wir mochten uns, der Herr Ritz und ich.

Weil mich das Schicksal unserer „Flüchtlinge“ interessiert, gehe ich zur Gemeinde und frage nach, möchte wissen, wie der Herr Ritz mit Vornamen geheissen hat und wann sie zu uns kamen. Ich erzähle von diesem freundlichen alten und gebildeten Mann, während der Gemeindeangestellte in alten Büchern blättert und dann schaut er mich lächelnd an und fragt: Sag mal, wann bist du denn geboren … ich sage: 1952.

Aha, sagt er, aber der Herr Ritz ist 1949 gestorben.
Sein Name war Josef.

„Zerstöret das Letzte
Die Erinnerung nicht“

 

die Zitate stammen aus dem Buch: Die Ausgewanderten, von W.G.Sebald

 

 

 

 

 

 

Karl und die Freiheit der Rosen

Hin und wieder soll es vorkommen, daß sich einer verfliegt im Duft der Rosen und abstürzt ins Dickicht und seine Flügel zu Dickicht  werden und man ihn nur erkennt am Schimmer seiner Augen…

Bei der Kapelle vor dem kleinen Wäldchen spiegelt sich die Sonne in einer Windschutzscheibe, wie früher, als der Karl noch lebte.

Er ist immer mit dem Auto herumgefahren, weil ihm die Zeit einfach zu lang wurde. Irgendwo blieb er stehen und schaute einfach nur und auf die Frage, nach was er denn Ausschau halte, seufzte er  und konnte es nicht so genau sagen. Und wenn ich weitergehen wollte, sagte er, bleib doch noch ein wenig stehen bei mir. Immer hat er jemand zum Reden gebraucht, den meisten ging er auf die Nerven. Auf mich hatte er es besonders abgesehen, vermutlich deshalb, weil ich es nie übers Herz brachte, ihm nicht jedes Mal zuzuhören, bis die ganze Geschichte erzählt war. Die ganze Geschichte eines unglücklichen Lebens. Er war unerbittlich und böse auf sein Schicksal und alle, die daran mitgewirkt hatten, ihm das Leben schwerzumachen. Und mit den meisten, mit denen er jahrelang auf der Hausbank gesessen hatte war er über kurz oder lang auch zerstritten, auch mein Vater konnte ihn nicht mehr aushalten in seinem ewigen Geschimpfe und es wurde immer einsamer um ihn herum. Manchmal bin auch ich geflüchtet, wenn ich ihn kommen sah, aber meistens hielt ich ihm stand und ließ ihn reden und schimpfen. Alle meine Bestrebungen, aus seinem Leben ein wenig Hoffnung herauszupressen, hat er weggewischt und er bestand auf diesem Fluch, der über ihm hing und der ihn zwang, ein armselig-elendigliches Dasein zu fristen. Eines Tages hat er mir mal gesagt, Grete, Du bist immer gut zu mir gewesen. Wenn ich mal gestorben bin, kommst Du dann an mein Grab und betest mir ein Vaterunser? Ja, Karl, das werd ich tun, hab ich gesagt. Und seither besteht er darauf, daß ich dieses Versprechen auch einhalte. Wenn ich den Gottesacker betrete, dann hör ich ihn schon … kommst Du heute nicht zu mir und ich sage, gleich Karl, laß mich nur schnell die Blumen gießen und eine Kerze anzünden… und bald darauf hör ich ihn schon, wo bleibst du denn? Gehst du schon? Und ich sage, ruhe in Frieden Karl und manchmal hör ich ihn noch außerhalb rufen, Du kommst aber schon bald wieder, gell?

Nein, normalerweise sprechen die Toten nicht mit mir, am Familiengrab sagt keiner was, nur halt der Karl.

Früher hat er mich oft mitsamt meinem Radl ins Auto gepackt, wir hatten den selben Heimweg aus der Kreisstadt, dadurch mußte ich nicht den steilen Berg raufschieben. Wo auch immer er mich sah, hat er mich mitgenommen. Sein Leben war eine einzige Misere und es hat schon mit einer Kindheit angefangen, in der er gequält und geschunden wurde und halb verhungert ist. Dieser Schmerz hat sich um sein Herz gelegt und ihn schier erdrückt. Sowas wie Liebe oder auch nur ein wenig Freundlichkeit hat er nie erfahren und so ging es weiter, das Glück hat ihn nicht gefunden, er hat sich halb tot gearbeitet, aber rechtmachen konnte er es wohl trotzdem niemandem. Eines Tages ist ihm ein Auto reingefahren, als er zu seinem Haus abbiegen wollte und dann lag er sterbend und zitternd auf der Straße, so einsam wie immer in seinem Leben.

Er war ein armer und trauriger Mann und ich mochte ihn sehr gern und manchmal erzähle ich ihm Geschichten, wenn ich an seinem Grab stehe. Und manchmal hoffe ich, es möge doch auch bei ihm mal ein Engel abstürzen und an seinem Grab liegen bleiben, ihm den Kummer von der Stirne streichen, den Reif aus Eis von seinem weichen Herzen sprengen und wenn die Flügel wieder stark genug sind, ihn mitnehmen dorthinauf, wo alle diese verdammte Erdenschwere von ihm abfällt und er endlich endlich freigelassen wird.

Ich lege ihm eine Rose aufs Grab und vertraue ihrem Duft.

 

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 18

Da, wo das Wirtshaus seit dem 14.Jahrhundert  als Taverne und Mautstation erwähnt wird, verlief die „Güldene Salzstraße“ von Reichenhall nach Wasserburg. Der Ort selber ist sehr alt und ist im „Breves Notitiae“ bereits vermerkt. 790 verschenkten ihn diverse Grafen an die Salzburger Kirche, seit 1810 gehört er zu Bayern. Das Dorf mitsamt dem Wirtshaus gehört gerade noch zum Rupertiwinkel, die Grenze zum Chiemgau ist ganz in der Nähe, irgendwo habe ich mal gelesen, daß sie mitten durch den Wirtshaussaal läuft. Ganz in der Nähe muß wohl auch die Römerstraße verlaufen sein … Juvavum – Augusta Vindelicorum … aber bis heute gibt es diesbezüglich keine genauen Angaben darüber. Immer wieder forschen Privatgelehrte und Hobby – Archäologen, aber nix Genaues weiß man halt nicht. Etliche ungeklärte Rätsel bleiben, Geheimnisse ranken sich um untergegangene Geschlechter, Grafen und Herren, Besitzverhältnisse und Grenzziehungen. Uralte Orte und sehr merkwürdige Geschichten. Eine davon hat mir vor noch nicht allzulanger Zeit meine alte Nachbarin erzählt.

Vordergründig hat diese sehr seltsame Begebenheit gar nichts mit der Geschichte des Ortes oder dieser alten Mautstation an der Salzstraße zu tun, aber mir ist einfach so, als würde alles immer mit allem zusammenhängen …

Der Vater meiner alten Nachbarin, den ich noch gut kannte, hat sich gut verstanden mit dem damaligen Wirt des alten Gasthauses. Einmal sind sie in der großen Gaststube noch beieinander gesessen, alle anderen waren schon gegangen. Und als der Vater meiner Nachbarin bezahlt hatte und gehen wollte, da hat ihn der Wirt noch aufgehalten. Er solle noch bleiben, denn er müsse ihm erzählen, was ihm Sonderbares widerfahren sei.

Der Wirt hatte einen guten Freund seit Kindertagen und sie waren unzertrennlich. Und weil sie einander so nahe waren,  gaben sie sich ein Gelöbnis: Der von ihnen beiden, der als erster stirbt, muß sich beim anderen melden aus dem Jenseits. Das Leben ging weiter und sie haben nicht mehr an den Schwur gedacht. Eines Tages wurde der Freund schwer krank und starb.

Monate, Jahre später klopfte es eines Nachts, die Tür ging auf und der verstorbene Freund vom Wirt trat ein. Er war dunkel und zu einem ganz kleinen Männlein geschrumpft und er schrie ihm ein paar Mal voller Zorn ins Gesicht:

„Zerreissen könnt ich dich, tu sowas nie wieder, weit ist es gewesen!“

Dann ist er verschwunden. Dem Vater meiner Nachbarin haben sich die Haare im Nacken gesträubt und der Wirt war käsebleich nach dieser Erzählung.

Manches kann man nicht erklären und mit Gelöbnissen sollte man genau so achtsam sein wie mit dem Wünschen … glaub ich.

 

 

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 5

Ich backe Apfelkuchen und aus dem Rest des Germteigs (Germ/Hefe) kleine runde Küchlein … Ofakindln heißen sie bei uns, die Kinder des Ofens, die in der Wärme ausgebacken werden. Sie dürfen werden, wie sie wollen, sind an keine Form gebunden, wie kleine gute Geister sind sie.

 

Bevor jetzt bald der Schnee kommt, bin ich heute noch zum Hügel gegangen, und dort, wo sich der Weg gabelt, rechts steil  hinauf. Da oben war immer ein Lieblingsort von mir und eines Tages stand ich da im Licht der Abendsonne, da knackte es leise im Unterholz und gemächlich tauchte ein Dachs auf, ging langsam und vor sich hinschnaufend ganz nah an mir vorbei und hinunter zum Bach. Ein Augenblick, unendlich wie die Ewigkeit, ein Moment vollkommener Harmonie.

Kurze Zeit später haben sie dann den Hügel zwischen den Wegen komplett abgeholzt, alle uralten Buchen umgeworfen. Und als ich Wochen später wieder hinaufgehen wollte, da hatte ich diese Begegnung mit dem Zwerg im Berg, zornig zischte er mich an: Mensch, hau bloß ab!

Nein, nicht wirklich … aber wer weiß das schon, wann die Wirklichkeit wirklich ist und wann nicht … wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Heute war alles ruhig, der Zwerg ist ausgewandert oder tief drin im Hügel.

 

Beim Heimkommen sagt es vom Apfelbaum herüber: Meine Haut wird immer dünner, je älter ich werde …

Geht mir auch so, sage ich.

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 2

Ein paar hundert Meter vom alten Haus in Richtung Südosten führt der Weg durch ein kleines Wäldchen, überquert den Bach und schlängelt sich den Hügel hinauf. Am Bachrand stehen 13 Eichen und an einer gewissen Stelle ist ein Ort, den ich den Platz der Wilden Frauen nenne, dort gehe ich hin, wenn ich Antworten auf Fragen in mir suche.

Was mache ich da, frage ich heute, was erwarte ich mir von den nächsten 20 Tagen, was will ich finden … was suche ich denn überhaupt, auf diesen 10 km um mein Heimathaus herum … wo soll ich beginnen … ich hatte da wieder mal eine Idee, nein, mehr noch einen Traum … und jetzt, wo es an die Umsetzung geht, habe ich keinen Plan … es werden dunkle Geschichten, denke ich, auch jetzt dämmert es, die blaue Stunde beginnt. Wo soll ich beginnen, wie „bereist“ man 10 km Heimat? Ich werde auf den Spuren meines Lebens gehen … was habe ich mir da nur wieder Unmögliches ausgedacht. Zwischen den Eichen sehe ich langsam im Nebel verschwimmend den Holzstadel, der früher für die Weidetiere einen Unterschlupf bei Wind und Wetter bot, heute ist er abgesperrt, der Bauer läßt die Tiere nicht mehr hinein. An der Holzwand steht auf einem Schild zu lesen : Schöller, königl. bayr. Bezirksgericht.

Vor langer Zeit stand da ein Bauerngütl, und die Leute waren so arm, daß die KInder auch im Winter barfuß laufen mußten, so erzählte es mir meine Großmutter. Heute weiß niemand mehr was von ihnen … ein Ort, den man Lost Place nennen könnte. Steinplatten liegen im Boden eingelassen, da, wo mal das Haus war. Bis vor ein paar Jahren stand noch ein uralter Zwetschgenbaum dort, den hat der jetzige Grundbesitzer eines Tages abgehackt. Und den ehrwürdigen Nußbaum am Wegesrand habe ich oft besucht, mich an seinen dicken Stamm gelehnt und ihm am Ende des Winters Rilkes Gedicht vom Vorfrühling aufgesagt, und bei der Stelle … „des alten Nußbaums rühmliche Gestaltung füllt sich mit Zukunft“ … da bekam ich immer nasse Augen, weil ich meinte, seine Freude zu spüren. Eines Tages hat ihn der Sturm hinweggefegt. Alles verloren und dennoch liegt die Spur einer alten Geschichte über dem Ort … zurückgehend durch das kleine Wäldchen fällt mir ein Ereignis ein, das ein paar Jahre zurückliegt. Ein paar Freundinnen hatten sich in die Haltung des „Bärengeistes“ begeben, einer uralten Figurine, und wir erforschten die rituellen Haltungen nach F. Goodman. Ich hatte die Aufgabe, mit der Rassel für Orientierung und Sicherheit auf der Reise zu sorgen und alle wieder zurückzuführen. Es war eine klare Nacht, der Vollmond stand direkt über uns. Ich war sehr wachsam und hielt die Augen und Ohren offen. Dann kam langsam eine Nebelzunge den Hügel herunter, umschlängelte  uns in einer Spirale und verschwand im Wald. Niemand außer mir hatte etwas bemerkt, so sanft und zart war diese  Begegnung.

Frau Percht kommt aus den Bergen und reist übers Land und ich lasse mich treiben mit ihrer wilden Entourage, wir fliegen durch Zeiten und Räume einer heiligen Dunkelheit.

Die Ein . samkeit der Löwen

Der Mond der reifenden Beeren hat zwar schon eine Delle, aber noch sehe ich genug, um den Weg zu finden mit dem Rad und ohne Licht. Ich fahre gern durch den Wald in der Nacht. Würde die alte Austragsbäuerin vom Einödhof noch leben, hätte sie mir längst lachend hinterhergerufen: Gret, wo fahrst denn wieder hin, mitten bei der Nacht, aber heut hast ja Glück, heute begleitet Dich der Herr Mo‘ mit seinem Licht! Als ich am Tor zum Gottesacker vom Rad steige, ist er verschwunden hinter dem Kirchendach, es wird finster, nur die Turmspitze leuchtet wie eine Taschenlampe hinauf zum Himmel. Ich spüre die Glut des Löwenfeuers und ich weiß nicht, ob ich sie mitbringe oder vorfinde dort, wo sie der Tag bei den Toten zurückgelassen hat. Ich gieße die fleissigen Lieserln am Grab und versuche,  die Altvorderen liebevoll zu bedenken, Fremdgewordene, die ich in den Genen und in Erinnerungsfetzen mit mir herumtrage. Irgendwo hat eine Laune des Schicksals unter nicht sehr glücklichen Umständen zwei, die nicht zusammenpassten, trotzdem zueinander hingeschoben, und an diesem Kreuzungspunkt bin ich entstanden. Ich, das Löwekind, vor ein paar Tagen 68 Jahre alt geworden. Von denen, die hier begraben sind sagt keiner mehr was zu mir, verweht mit dem Staub, zu dem ihre Leiber längst geworden sind. Meine Mutter hat sich beklagt über die schreckliche Schwangerschaft mit mir und wie sehr sie meine breiten Schultern gequält hätten beim Gebären … Was tut ein Kind mit diesen  Vorwürfen?

Gottes Barmherzigkeit fällt mir plötzlich ein … die Erlaubnis, aus der Existenz herauszutreten in das Nichtsein. Wie der  kleine Wind, der mir  den verschwitzten Nacken kühlt, streicht mir die Erkenntnis wohltuend über die Seele, irgendwann, wenn die Zeit reif wie die Kirschen am Baum hängt, endgültig verschwinden zu dürfen.

Das Dorf ringsherum schläft bereits, elf mal schlägt die Kirchturmuhr, die schwarze Katze liegt regungslos auf einem der sonnenwarmen Grabsteine, ich weiche aus, um sie nicht zu stören. Da ist das frische Grab eines Mannes, den ich kannte. In meiner Erinnerung tauchen Fragmente eines Lebens auf … Früher war er öfters bei meinem Vater zu Besuch, sie haben sich stundenlang unterhalten. Dann waren sie zerstritten und er kam nicht mehr. Er ist oft auf die Jagd gegangen und oft saß er wie alle Jäger im Dunkeln irgendwo und spähte das Wild aus, und oft, sehr oft, hat er es totgeschossen und im Rucksack nachts heimgetragen. In der Stube hingen die Geweihe an der  Wand, herausgebrochen aus den Totenschädeln und exakt mit Datum versehen. Er hielt sich verborgen und dachte, niemand würde seine Verstecke kennen, hat er nie geahnt, wie genau ich wusste, wo er sich aufhielt? Ein Löwemensch wie er, habe auch ich mich schon immer gerne nachts irgendwo  herumgetrieben, das schärfte den Blick im Lesen der Schatten, ich tat dann so, als würde ich ihn nicht sehen und ich spürte im Vorbeigehen seinen Blick. Ich sah die Glut seiner Salem aufflammen, wenn er süchtig und gierig den Rauch inhalierte irgendwo am Waldrand. Einmal konnte er nicht mehr ausweichen und da sind wir uns begegnet bei Vollmond und dann standen wir da, von der Jagd kommend beide, mit dem Unterschied, daß seine Beute verblutet war …  und er  sagte, daß ihm der Kopf bei Vollmond immer so wehtue, so schlimm, das könne sich niemand vorstellen. Vor Jahren saßen wir beim Dorffest und er erzählte eine Geschichte von früher und vom Trinken des Selbstgebrannten und dann haben wir miteinander gelacht. Das war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen habe bis vor einem Jahr, da saß er im Rollstuhl vor dem frischen Grab seiner Frau, das jetzt auch sein Grab ist. Wir haben uns angeschaut und da ist ihm das Wasser über das Gesicht gelaufen, fast unmerklich haben wir uns zugenickt.

Zwischen den beiden Begegnungen eskalierte die Situation mit seiner Familie, der jahrzehntelange Suff schwemmte eine ständig angestaute lebenslange Wut an, die irgendwann so über die Ufer trat, daß er das Haus verlassen mußte … er hatte Gewehre … er hat dann jahrelang im Altersheim gelebt und jetzt ist er gestorben. Früher mochte ich ihn, er wusste von alten Geschichten, konnte furchtbar schimpfen und sich mit rotem Kopf aufregen, gern hat er getrunken und geraucht;  wilde kleine Raubtieraugen hatte er in der Wut. Sein Lachen hielt er zurück, als ahnte er eine Kraft darin, die er nicht beherrschen konnte und die ihn unsicher machte. Aber wenn es nicht anders ging, mußte er grinsen und dann entglitt das Gesicht seiner Kontrolle und seine Augen verschwammen … damals dachte ich immer, es wäre der Alkohol … heute ist mir, als hätte etwas seine Brust gesprengt und sein Herz zerrissen, vielleicht wollte der Löwe in ihm brüllen vor Lust und Sehnsucht und da ja das Lachen dem Schmerz sehr nahesteht …

Roh ist er geworden, hart, mißtrauisch und die Sauferei machte ihn böse und cholerisch, ich kann nur ahnen, wieviel Leid und Qualen dadurch entstanden sind bei denen, die sich nicht wehren konnten. Die Frauen in seiner Familie haben alles erduldet, das Bier und den Schnaps hingestellt und sich anbrüllen lassen, er war der Herr am Hof, es geschah alles nach seinen Worten. Viele ahnten was, sagten aber nichts. Es gibt das Wort: unter jedem Dach ein Ach, sonst war ja nach außen immer alles in Ordnung, sauber, und aufgeräumt und ständig geputzt. Warum wird einer so? Seine Mutter hat ihn geliebt und immer, immer zu ihm gehalten … jetzt hat sie ihn wieder bei sich, mit der Schwiegertochter teilt sie sich das Grab mit ihm und mit seinem Vater. Und es gab da woanders noch einen, dem sah er ähnlicher als dem Vater. Auch er schon lange Staub … Staub zu Staub.

Jetzt ist er tot. Vom Grab steigt süßer Blütenduft aus den Kränzen mit wunderschöner Blumenpracht. Es ist vorbei. Ruhe in Frieden …  Auf dem großen Foto von ihm zwischen den Blumen steht das Geburtsdatum und was für ein Zufall, gerade heute hätte er Geburtstag. Mir ist, als stünde er da, an den warmen Grabstein gelehnt, und mit diesem leicht spöttischen Lächeln schaut er mich an …

Auch bei denen, die hart und böse geworden sind, ist das Herz ein ganz eigener Erdteil, schlecht zu kontrollieren … und ich wollte Dich immer gern zum Lachen bringen, weil ich das so gerne gesehen hab, wie es in Deinen Augen geschwommen ist, mit all seinem Schmerz, dieses weiche Löwenherz. Es ist mir nicht oft gelungen.

Und jetzt mußt Du gehen, hier ist die Jagd vorbei, sage ich. Servus Max.

Sein Lachen und Weinen verschmelzen in mir zu einem Bild, das mich unruhig macht und mich frösteln läßt.

Und dann dreh ich mich um und gehe hinaus. Die Kirchturmspitze leuchtet immer noch, keine Ahnung, woher dieses Licht kommt. Als ich mich aufs Rad setze, schwimmt auch schon der Mond heran zum Heimleuchten.

Wo ist eigentlich  der Löwe in mir, denke ich beim Heimfahren. Ich werde ihn besuchen, in meinem Schloß (Radix) ist er der König  … die Musik ist schon bereit und die Bühne beleuchtet mit goldenem Licht … dort wird er mich hoffentlich erwarten und wir werden mit aller Lust den Sommer vertanzen.

Als ich das Buch in die Hand nehme schlägt es sich auf und ich lese:

„…seines Selbst, in das er heimkehren will und heimkehrt
für immerdar,
hineingehalten in das Jetzt seines eigenen Sinnbildes,
auf daß es ihm zur steten Wirklichkeit werde;
denn es ist das Trotzdem seines Aufrufs,
in das der Mensch hineingehalten ist,
das Trotzdem des Eingekerkerten,
das Trotzdem seiner unverlöschlichen Freiheit
und seines unverlöschlichen Erkenntniswillens,
so unbeugsam,
daß er größer als die irdische Unzulänglichkeit wird …“

Hermann Broch, Der Tod des Vergil

 

 

 

… auch wenn es dunkel wird?

Die Eine, die mich Seelenfreundin nennt, läuft durch den strömenden Regen zum Haus. In ihren Armen geborgen und in dunkelroten Samt gewickelt hält sie die Andere, die mit den vielen Namen.  Wir nennen sie: „Unsere Liebe Frau“. Ein wenig verloren, angeschlagen und mit abblätternder Fassung steht sie im Herrgottswinkel, dem sakralen Ort des Hauses. Der Künstler hatte wohl die Schwarze aus Altötting im Kopf, eine gewisse Ähnlichkeit besteht.

Wir sitzen am Tisch und sehen ein kleines geheimnisvolles Lächeln und Augen, deren Blick an uns vorbei ins Leere geht. Als ich sie fotografiere, scheint sie sich zu verwandeln …

Niemand weiß, wie sie in den Besitz der Verwandtschaft gelangt ist, die Mutter hat ihre Sorgen immer zu ihr getragen und dieses feine Lächeln ist ihr Trost und Hilfe gewesen in schweren Zeiten und durch die Jahre. Jetzt soll sie hier bei uns im alten Haus stehen, hier, wo unsere gemeinsame Großmutter ihre sieben Kinder aufgezogen hat. Von den  fünf Buben sind zwei aus dem Krieg nicht heimgekommen und der dritte wurde von der Tuberkulose geholt, nur der geliebte älteste und der nicht so sehr geliebte jüngste, mein Vater, haben überlebt … aber jetzt sind die Alten alle tot. Und die Madonna, unsere liebe Frau, steht nun hier, wo so vieles begann. Dunkel ist sie, so dunkel wie der Schoß, aus dem wir alle kommen und in den sie uns wieder zurückholt, wenn die Zeit reif ist.

Tag- und Nachtgleiche, bald wird Innanna hinabsteigen ins Totenreich und ihre Schwester besuchen, die nach ihr ruft.

Dank für die reiche Ernte. Zwischen den Geschenken der alten Apfel-, Birn- und Zwetschgenbäume und den üppigen, duftenden Rosen haben sich viele Geschichten angesammelt, keine möchte ich missen … die kluge Waage wird in meinem Herzen herumgehen, abwägen und auswiegen, die freudigen und die schmerzhaften Geschichten prüfen… und sie wird mir einen Rat geben … und wie immer, werde ich ihn nicht befolgen.

Eine Zeit des Dazwischen, das Helle nicht mehr und das Dunkle noch nicht. Nicht mehr jung und noch nicht ganz alt. Ein Apfel vom letzten Jahr rollt mir vor die Füsse, verschrumpelt die rote Lederhaut, ein Biß dahinein bringt ungeahnte paradiesische Süße, weich und voller Wohlgeruch, ein Konzentrat aus Lust.

Das Nest der wilden Wespen ist leer. Der Brut wurde Wärme und Kühle nach Bedarf gespendet, beim Ausschlüpfen beigestanden, die Schwachen von unzähligen Armen und Fühlern betastet und eine Art von Zuwendung gespendet, die die Welt sofort retten würde, wäre sie denn üblich unter Menschen. Dieses kleine Nest, diesen perfekt funktionierenden Wespenstaat beobachten zu dürfen, zu sehen, wie man sich untereinander hilft, unterstützt, pflegt und aneinander reibt und sich ständig betastet … betrachte ich als ein ganz kostbares Geschenk des Universums. Jetzt ist alles leer, die letzte Wespe, wahrscheinlich die Königin, ist weggeflogen. Sie wird sich irgendwo verkriechen und den Winter überleben. Nächstes Jahr werden sie woanders einen Staat gründen, das architektonische Meisterwerk wird im Wind verwehen.

Das Tal ist bereit für das Meer. Etwas schlängelt sich am Meeresboden entlang und kriecht auf mich zu, züngelnd und leckend nach allen Seiten … tanzen möchte ich hier, zwischen vorhin und dann … auf diesem Platz, der „Jetzt“ heißt und dessen Existenz fraglich erscheint … genau hier sich im Kreis drehen, erst langsam, dann immer schneller im uralten Rythmus, die Haare klebrig feucht von Nebelgischt und Schweiß. Wer tanzt mit mir, auch wenn es dunkel wird, rufe ich hinaus in die Nacht … keine Antwort, nur der Mond kommt auf mich zu geschwommen. Wenn Du am Rücken liegst, nimmst du dann zu oder ab … egal, Du erlaubst doch, sage ich und klettere ins Boot. Und dann fahren wir übers weiße Meer, sanft geschaukelt vom Wellengang.

Der Sommer hält nie, was er verspricht, der Herbst schon.

Einer, der grad 70 Jahre alt geworden ist … ich bete den „Boss“ nicht an, aber dieses Lied liebe ich sehr und wie er da so tanzt auf der Bühne, da finde ich ihn einfach ganz und gar unwiderstehlich!