Der Engel
Ein wunderschöner Ort ist der Kommunalfriedhof in Salzburg. Hohe Bäume tragen ihre samtweichen, hellgrünen Frühlingsroben, um ihre Stämme und zwischen den Gräbern huschen die Eichkatzerln herum. Plaudernde und lachende Menschen machen Sonntagsspaziergänge, sitzen auf Parkbänken, lesen, essen Wurstsemmeln, trinken Kaffee aus Thermosflaschen oder gießen die Blumen. Und mitten unter ihnen liegen die Toten und ruhen vom Leben aus. Die Geschichte von Oscar Wilde fällt mir ein, da sagt das „Gespenst von Canterville“, daß sein größter Wunsch wäre, endlich schlafen zu dürfen, schlafen für immer, wie schön muß das sein. Hier würde es ihm auch gefallen, da bin ich sicher.
Wir suchen den Engel, irgendwo muß er doch sein, niemand kennt ihn. Wie ist das möglich, er soll überlebensgroß sein und mitten auf einer Wiese der anonymen Urnenbestattungen sitzen. Nach langem Herumirren und dem Hinweis, daß „die Anonymen“ hinter dem Krematorium zu finden seien, sehen wir ihn endlich, den großen Engel.
Genius hätten ihn die Alten genannt, diesen schönen geflügelten Jüngling. Mächtige Schwingen hat er und aus seinem sanften Antlitz schauen seine blicklosen Augen irgendwohin ins Leere … es ist verwirrend, wie genau jemand schauen kann, dem doch keine Augenblicke möglich sind. Das bleibt wohl für immer ein Geheimnis seines Schöpfers.
Auf der alten Aspernbrücke in Wien war er eine der vier allegorischen Figuren, die ihren Platz auf den Brückenpfeilern hatten und Krieg, Frieden, Ruhm und Wohlstand darstellen sollten. Er saß dort für den Frieden. Alle vier geflügelten Jünglinge wurden von steinernen Löwen begleitet. Ich würde gerne seinen löwischen Begleiter sehen, aber hier im Kommunalfriedhof sitzt er ganz alleine. Viel Zeit ist vergangen, seit unter ihm das Wasser in die große Stadt hinein- und hinausgeflossen ist. Jetzt sitzt er dort, wo Leben und Sterben sich vereinigen zum Fluß der Ewigkeit.
Es ist nichts darüber bekannt, wie und warum er hierher gekommen ist. Die Aspernbrücke wurde Anfang 1900 abgerissen, ob die anderen Figuren noch existieren, darüber konnte ich nichts herausfinden. Zwei der Begleitlöwen sollen am Schloß der Stadt Horn stehen, das Schicksal der anderen ist ungewiß.
Erschaffen wurde die ganze Gruppe vom Bildhauer Franz Melnitzky (1822 – 1876)
Ich mag ihn sehr, in all seiner verwitterten Schönheit, diesen steinernen Jüngling mit dem unwiderstehlich sanften, kleinen Lächeln und den großen Flügeln.