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24 T.(Finis) … „So Close No Matter How Far“

Ein kleiner Marienkäfer landet ständig neben der Tastatur und krabbelt auf dem Schreibtisch herum … wahrscheinlich eine Mutation, er ist gelb mit schwarzen Punkten. Wenn ich ihn fangen will, klappt er einfach seine Flügel aus und fliegt weg.

Die Rosse der Wilden Frau Percht brausen in den Föhnsturm hinein und als sie mit den Zügeln schnalzt, fällt kristallisierte Luft vom Himmel … es schneit.

Die Wörter sind eigensinnig geworden, halten sich versteckt, die Suche ist mühsam. Tagelang gelingt es nicht, welche hervorzulocken, die mit mir Sätze bilden möchten. Die Zeit ist schwierig, das wäre sie auch ohne mutierte Viren und die ständig präsente unsichtbare Gefahr, die über allem schwebt. Daß es in diesen Rauhnächten oder „zwischen den Jahren“  um Abschied und Neubeginn, um Rück- und Vorschau geht, ist bekannt, aber wir bekommen keine Gebrauchsanweisung, sondern müssen immer wieder aufs Neue ganz alleine herausfinden, was das eigentlich für jeden bedeuten könnte. Visionen brauchen den Mut, Einsamkeit auszuhalten und vor allem: Leerlauf. Ich versuche, meine Ratlosigkeit über die derzeitigen Dinge und Geschehnisse auf sich beruhen zu lassen und bemühe mich, mir und der Welt ein freundliches Gesicht zu zeigen. Ein Lächeln dem Vergangenen hinterher und dem Zukünftigen entgegen. Am schwierigsten zu lernen ist die Bereitschaft, Wunder für möglich zu halten und sie auch zuzulassen …  ich werde üben müssen.

Für den alten Nachbarn wurde jetzt noch kurz vor Weihnachten ein Platz frei. Wie durch ein Wunder, sagt der Sohn, denn normalerweise müsse man lange warten. Daheim geht es halt nicht mehr, die Mutter ist ja auch schon bald 90. Das Altenpflegeheim ist nur ein paar km entfernt und das ist natürlich großes Glück für alle. Naja, wenn man zu einem Heim  „Glück“ sagen kann, sagt der Sohn. Die Nacht vor der Unterbringung ist schwierig und der alte Bauer ist unruhig, die angeschlagene Gesundheit macht ihm schwer zu schaffen. Die Familie hilft, wo sie kann. Am nächsten Tag wird er vom Krankentransport abgeholt, alles geht ganz schnell und ohne Komplikationen.

Der alte Kirschbaum ein paar Wochen vorher war schwieriger, sein Stamm lag längst schon umgeschnitten am Boden, die Äste alle abgehackt, aber seine Wurzeln hatten sich so fest in die Erde gekrallt, daß der schwere Traktor kommen mußte, um sie herauszureißen. Mit der Motorsäge wurde dann alles kleingeschnitten und konnte mit dem Anhänger gut abtransportiert werden. Dem Obstanger sieht man es nicht an, daß ganz unten rechts mal ein Kirschbaum war.

Die Nachbarin ist jetzt ganz alleine im alten Haus, die Familie kommt oft auf Besuch.

 

 

… auch wenn es dunkel wird?

Die Eine, die mich Seelenfreundin nennt, läuft durch den strömenden Regen zum Haus. In ihren Armen geborgen und in dunkelroten Samt gewickelt hält sie die Andere, die mit den vielen Namen.  Wir nennen sie: „Unsere Liebe Frau“. Ein wenig verloren, angeschlagen und mit abblätternder Fassung steht sie im Herrgottswinkel, dem sakralen Ort des Hauses. Der Künstler hatte wohl die Schwarze aus Altötting im Kopf, eine gewisse Ähnlichkeit besteht.

Wir sitzen am Tisch und sehen ein kleines geheimnisvolles Lächeln und Augen, deren Blick an uns vorbei ins Leere geht. Als ich sie fotografiere, scheint sie sich zu verwandeln …

Niemand weiß, wie sie in den Besitz der Verwandtschaft gelangt ist, die Mutter hat ihre Sorgen immer zu ihr getragen und dieses feine Lächeln ist ihr Trost und Hilfe gewesen in schweren Zeiten und durch die Jahre. Jetzt soll sie hier bei uns im alten Haus stehen, hier, wo unsere gemeinsame Großmutter ihre sieben Kinder aufgezogen hat. Von den  fünf Buben sind zwei aus dem Krieg nicht heimgekommen und der dritte wurde von der Tuberkulose geholt, nur der geliebte älteste und der nicht so sehr geliebte jüngste, mein Vater, haben überlebt … aber jetzt sind die Alten alle tot. Und die Madonna, unsere liebe Frau, steht nun hier, wo so vieles begann. Dunkel ist sie, so dunkel wie der Schoß, aus dem wir alle kommen und in den sie uns wieder zurückholt, wenn die Zeit reif ist.

Tag- und Nachtgleiche, bald wird Innanna hinabsteigen ins Totenreich und ihre Schwester besuchen, die nach ihr ruft.

Dank für die reiche Ernte. Zwischen den Geschenken der alten Apfel-, Birn- und Zwetschgenbäume und den üppigen, duftenden Rosen haben sich viele Geschichten angesammelt, keine möchte ich missen … die kluge Waage wird in meinem Herzen herumgehen, abwägen und auswiegen, die freudigen und die schmerzhaften Geschichten prüfen… und sie wird mir einen Rat geben … und wie immer, werde ich ihn nicht befolgen.

Eine Zeit des Dazwischen, das Helle nicht mehr und das Dunkle noch nicht. Nicht mehr jung und noch nicht ganz alt. Ein Apfel vom letzten Jahr rollt mir vor die Füsse, verschrumpelt die rote Lederhaut, ein Biß dahinein bringt ungeahnte paradiesische Süße, weich und voller Wohlgeruch, ein Konzentrat aus Lust.

Das Nest der wilden Wespen ist leer. Der Brut wurde Wärme und Kühle nach Bedarf gespendet, beim Ausschlüpfen beigestanden, die Schwachen von unzähligen Armen und Fühlern betastet und eine Art von Zuwendung gespendet, die die Welt sofort retten würde, wäre sie denn üblich unter Menschen. Dieses kleine Nest, diesen perfekt funktionierenden Wespenstaat beobachten zu dürfen, zu sehen, wie man sich untereinander hilft, unterstützt, pflegt und aneinander reibt und sich ständig betastet … betrachte ich als ein ganz kostbares Geschenk des Universums. Jetzt ist alles leer, die letzte Wespe, wahrscheinlich die Königin, ist weggeflogen. Sie wird sich irgendwo verkriechen und den Winter überleben. Nächstes Jahr werden sie woanders einen Staat gründen, das architektonische Meisterwerk wird im Wind verwehen.

Das Tal ist bereit für das Meer. Etwas schlängelt sich am Meeresboden entlang und kriecht auf mich zu, züngelnd und leckend nach allen Seiten … tanzen möchte ich hier, zwischen vorhin und dann … auf diesem Platz, der „Jetzt“ heißt und dessen Existenz fraglich erscheint … genau hier sich im Kreis drehen, erst langsam, dann immer schneller im uralten Rythmus, die Haare klebrig feucht von Nebelgischt und Schweiß. Wer tanzt mit mir, auch wenn es dunkel wird, rufe ich hinaus in die Nacht … keine Antwort, nur der Mond kommt auf mich zu geschwommen. Wenn Du am Rücken liegst, nimmst du dann zu oder ab … egal, Du erlaubst doch, sage ich und klettere ins Boot. Und dann fahren wir übers weiße Meer, sanft geschaukelt vom Wellengang.

Der Sommer hält nie, was er verspricht, der Herbst schon.

Einer, der grad 70 Jahre alt geworden ist … ich bete den „Boss“ nicht an, aber dieses Lied liebe ich sehr und wie er da so tanzt auf der Bühne, da finde ich ihn einfach ganz und gar unwiderstehlich!

Rauhe Nächte …

Ein paar Wochen lang ging am Hügel vor dem alten Haus ein Bussard im Gras herum, manchmal blieb er stehen und schaute starr in eine Richtung. Ein paar Mal kam ein zweiter hinzu und sie schauten beide dort hin. Es liegt jetzt viel Schnee und sie kommen nicht mehr.

Noch ist Zeit, in den dunklen Spiegel zu schauen, wer sich traut, kann Fragen stellen, die Antworten sollte man aushalten können.

Was muß ich wissen? Ein Bild erscheint. Drei sind es,  und nackt sind sie, eine alte Frau in der Mitte – ein junges Mädchen und der Tod legen die Arme um sie und lächeln …

Wo ist deine Krone, Königin in deinem Reich?

Verloren.

Noch ist Zeit, werde ich sie finden?

Lache!

Tue, was du tust, und sei die, die du bist.

 

„Wenn Du lachst, lach gscheit, wenn Du weinst, dann schrei, weil das Lebn, lieber Freund, is ganz schnell vorbei  … “

Mein Vater, der Tod und Jesus in der Stube

Oft vermisse ich die langen Gespräche „über Gott und die Welt“, die früher einfach dazugehörten zum Leben, vor allem hier in der Stube des alten Hauses. Erscheint es mir nur so, oder interessiert sich niemand mehr für diese Fragen um Leben und Tod und warum wir denn hier sind auf dieser Erde und was denn vor uns war? Oder hat einfach niemand Zeit, oder hat bereits jeder das Gesuchte schon gefunden? Manchmal befürchte ich, so ziemlich alleine übriggeblieben zu sein mit meinen zweifelnden Fragen mitten hinein in die großen spirituellen Geheimnisse, religionsverweigernd und gottsuchend gleichermaßen. Eine Agnostikerin auf meine spezielle Art, nichts glaubend, alles für möglich haltend, hungrig …

Oft saßen mehrere um den Stubentisch, und ganz egal, womit das Gespräch begonnen hatte, Politik oder mittelalterliche Kunst, irgendwann landete es beim Ärger meines Vaters über die Kirche, die ihm verlogen erschien, weil sie von ihm einen Glauben verlangte an Dinge, die sie selbst nicht beweisen konnte. Und dann war man beim Lieblingsbuch meines Vaters: „Jesus in schlechter Gesellschaft“ vom hochverehrten Adolf Holl, der deshalb aus dem Kirchendienst als Priester entfernt wurde.

Wie ich sie liebte, diese hitzigen Gespräche in langen Nächten über Bibelstellen und Texte aus den verbotenen Büchern der Apokryphen, und darüber, was denn Jesus in den 33 Jahren so machte, darüber stand ja nichts geschrieben … die Frauen um Jesus, ein Lieblingsthema von Pfarrer Hermann, das unterbrochen wurde von seiner bildhübschen runden Köchin, die dann sagte: komm jetzt Hermann, wir müssen ins Bett, Du hast morgen Frühmesse …

Einmal hat sich mein Vater von seinem Freund Leopold , den er wegen seiner angeblich „ewigen Polemisiererei“ nicht mochte, aber dennoch an ihm hing, um 22 Uhr verabschiedet. Um drei Uhr morgens standen sie immer noch mitten in der total verqualmten Stube, in ein Streitgespräch über die Frage, ob Jesus nun Gottes Sohn war oder nicht so heftig verwickelt, daß sie sich weder hinsetzen noch auseinandergehen konnten …

Meistens kam am Ende dieser langen Abende auch die Sprache auf das Sterben und manch eine große Angst wurde mit Bier hinuntergespült und wir waren alle froh, uns zu haben und beisammen sitzen zu können. Jetzt sind die Freunde von damals tot. Als ich meinen Vater im Krankenhaus besuchte, ein paar Tage bevor er sich auf die Große Reise machte, da erzählte er mir von einem Traum … der Boandlkramer (Tod) sei ihm erschienen und habe ihn sehr freundlich angesehen, gar nichts Bedrohliches sei von ihm ausgegangen. Nein, er habe nichts gesagt, nur freundlich gelächelt. „Wir müssen irgendwo dieses Ölgemälde haben, da steht ein Bergsteiger im Gebirge und der Tod hält das Seil und es ist, als tät er ihn beschützen und er schaut genauso aus wie in meinem Traum … ich weiß nicht mehr, ob ich es selbst gemalt habe oder der Max (sein Bruder), brings mir doch mit , wenn Du wiederkommst!“ Ja, und ich habe das ganze Haus abgesucht, in jeden Schrank mehrmals hineingesehen, alles umgedreht, nichts. Ich konnte dieses Bild nicht finden.

Und dann ist mein Vater gestorben.

Ein paar Wochen später öffne ich eine Schranktür und es liegt einfach so da.

 

Nackt

Sie zieht mich nach Karlsbad mit ihren kühlen Gespensterarmen.
Mit ihren warmen Mutterarmen will sie mich ihrem Vater vor die Füsse legen oder bringt sie mich zu ihm ans Totenbett? Schau, das ist Dein Großpapa, würde sie sagen zu mir, ihrem nackten, blutverschmierten Neugeborenen.
Ihrem über alles geliebten Papa würde sie mich zeigen wollen. Da liegt er im Spital, todkrank mit Anfang vierzig, die paar Schritte von der Wohnung in der Röhrengasse Nr. 1 zum Sanitätsauto ist er noch selber hinuntergegangen. Dies sei eh sein letzter Weg, soll er gesagt haben, dann ist er bald darauf gestorben. Sie, die Grete, war bei ihm, nur nach ihr hat er rufen lassen und sie ist gekommen, hat er sie jemals beschützt oder war sie ihm lästig? Sie ist ihr Leben lang ein heimatloses Theaterkind geblieben, den Kopf voller Operettenmelodien. Nie hat sie von diesen letzten Stunden erzählt, als sie ihrer großen Liebe die Hand hielt, um über das Seil zu balancieren …nur dieses Lied, das hat sie gesungen, oft und oft, lächelnd und mit wehen Augen …

„oh, mein Papa, war eine wunderbare Clown
oh mein Papa, war eine große Kienstler,
hoch auf die Seil, wie war er herrlich anzuschaun,
oh mein Papa, war eine scheene Mann …
Hollahopp …hollahopp … hollahopp …“

Ich gehe die steile Röhrengasse hinauf und hinunter, sieht man es dem Ort an, daß hier mein Großpapa seine letzten Schritte tat?
Traumwandlerisch gehe ich durch die Stadt, da und dort warten die Gespenster, meine Mutter im flatternden Nebelgewand mitten im brütendheissen Karlsbad zeigt mir das Theater, dort hat sie geputzt, als das Geld in der Familie nicht reichte, dort hatte mein Urgroßvater sein Photoatelier, und von dort aus fuhren sie los mit seiner Wanderbühne, über die Dörfer … die böhmischen Dörfer und spielten Theater … einmal ist der Motor des Transporters mitten auf einem Bahnübergang abgestorben und der Zug fuhr ihn über den Haufen, alles kaputt, alle Requisiten, einfach alles. Überall winken mich Geisterhände heran und wenn ich hinkomme, weichen die Gestalten vor mir zurück und lösen sich auf.

Ich gehe durch eine Stadt, die mal was anderes war, als sie heute ist. Sie ist nicht zugänglich. Überall stehen Theaterkulissen aus längst vergangenen Zeiten herum, oft sind noch verblichene deutsche Namen und Geschäfte zu sehen.
Meine Mutter lebte in der österreichischstämmigen Theaterfamilie, die sind alle freiwillig gegangen, wären nicht vertrieben worden, meine Mama war ein paar Tage mit einem Soldaten aus Mönchengladbach verheiratet und wurde dadurch zur Deutschen und deshalb verjagt.
Was mache ich hier, was suche ich hier?

Soviele Fragen hätte ich an meine Mutter. Ich trage Fotos mit mir herum, da scheint sie glücklich gewesen zu sein … auf dem Hochzeitsbild mit meinem Vater ist sie eine andere geworden.

Sie begleitet mich auf Schritt und Tritt, aber wenn ich sie ansehe, ist sie durchsichtig …
„So durchsichtig, dass es weh tut.
Sie verschwindet nicht
Nie
Nicht
solange wie das, das es nicht gibt, wehtut
Sie tut weh
die gute Mutter
die es nicht gibt
die es nicht gab
als sie hier war.“

Wir gehen durch die Stadt, die Geister und ich. Ich laufe meiner Mutter nach, die  läuft vor mir her und ihrem verlorenen Vater nach … was für ein Spuk, wenn ich stehenbleibe, bleiben sie auch stehen, die Orte ihrer Existenzen sind verschwunden, die Vergangenheit ist soweit vergangen, ich erspüre sie nicht mehr. Ein Ort bleibt noch.

Wir fahren nach Mariaschein, dort nahm alles seinen Anfang, dort begegnete mein Großvater einer jungen strahlenden Schönheit und zeugte mit dieser Frau meine Mutter.

An meinem 65. Geburtstag stehe ich am Taufstein der Wallfahrtskirche Mariaschein (Bohosudov) und denke an die Taufgesellschaft im April 1922, als hier der Pfarrer meine Mutter über das Taufbecken hielt.

Nichts.

Ein Nichts umfängt mich in dieser heruntergekommenen, abbröckelnden Kirche. Sie sind alle weg. Alle Vergangenheit ist vergangen, ich spüre nichts. Die Gespenster hat wabernder Nebel verschluckt, ich sehe Generatoren in der Brunnenkapelle und ich sehe ein ehemaliges riesiges Lager neben der Kirche, da war ein Teil der vielen Roma untergebracht, die anstelle der vielen verjagten sogenannten Sudetendeutschen hier angesiedelt wurden.

Ich bin hierher gekommen, um an den Orten zu sein, wo die Geschichte sich so formte, daß irgendwann an einem Kreuzungspunkt ein flüchtiger kosmischer Gedanke sich so verdichten konnte, daß er sich in meiner Existenz materialisierte.

An einem Bahngleis stehe ich, vielleicht sogar an jenem,  wo sie in Viehwaggons verladen wurde, um aus der einen Heimatlosigkeit in die nächste zu fahren. Mir ist, als käme ein riesiger Strom Menschen daher, auf mich zu … und als ich stehenbleibe, gehen sie einfach weiter … sie schreiten durch mich hindurch … für einen Augenblick bin ich in ihnen und sie in mir … dann steh ich da wieder alleine , neben mir eine schwarzweiße Katze, die sich auf einem Stein in der Sonne räkelt …

Das kursiv gedruckte Zitat stammt aus :

„Wider die Kunst“ (Die Notizbücher) von Tomas Espedal, Suhrkamp 2017

 

 

Im Weg …

Es ist schon finster, als ich durch den Wald zum Dorffriedhof radle, um die Blumen am Grab zu gießen. Vor über fünfzig Jahren, welchen Weg hat sie eingeschlagen damals, auf ihrem grünen Damenfahrrad, das ihr mein Vater geschenkt hatte? Sie muß in der Nacht losgefahren sein, denn am Morgen war sie nicht mehr da. Noch heute träume ich manchmal davon und werde wach mit Herzklopfen, von trockenem Schluchzen und Entsetzen geschüttelt, mit der gleichen Angst wie damals, als sie verschwand.

Die Schwanenjungfrau im Märchen wird von einem Mann eingefangen, und ihr Federkleid kommt an einen geheimen Ort, hinter Schloß und Riegel in eine Truhe. Als sie nicht mehr wegfliegen kann, ergibt sie sich, läßt ihre Wildnatur zähmen, wird eine brave Ehefrau, eine  treusorgende Hausfrau und liebevolle Mutter …

… manchmal kommt sie zur Morgendämmerung aus dem Wald zurück und bringt eine Schürze voller Pilze mit. Sie ist unglücklich und keiner merkt es, denn sie ist gut gelaunt, erzählt alte Theatergeschichten und sie hat dieses glucksende, ansteckende Lachen. Sie kann über alles lachen, auch über sich selbst. Sie kommt aus einer anderen Welt, sie passt nicht hierher und sie kann die Anforderungen an sie nicht erfüllen …  Sehnsucht bleibt.

Eines Tages findet sie den Schlüssel zur Truhe und fliegt weg.

Eine Art, die Geschichte weiterzuerzählen ist, daß die Schwanenfrau eine Zeitlang nachts kommt, um ihr Kind zu versorgen und zu trösten … eine weitere Variante wäre, daß der Mann sich auf den Weg macht, seine Frau zu suchen, und sie nach vielen Abenteuern auch findet, den wilden Zauber von ihr nimmt und sie heimholt und dann leben alle glücklich bis an ihr seliges Ende.

In unserer Variante hat sie der Vater auch gefunden, ziemlich weit oben in den Berchtesgadener Bergen, er hat sie lachend und scherzend bei der Heuarbeit  angetroffen, bei Bekannten mit einem Bauernhof am ziemlich wilden und verwahrlosten Rande der Zivilisation. Er hat sie mitsamt ihrem grünen Rad in den VW Bus gepackt und wieder heimgebracht.

Ein, zwei Jahre später ist sie gestorben, meine notdürftig domestizierte wilde Mama.

Nie hat sie mit mir gesprochen über ihr Verschwinden und im Nachhinein erscheint mir ihr Tod nur als die letzte Konsequenz ihres damals eingeschlagenen Weges …Mir ist heute, als hätte ich sie damals unwiederbringlich verloren und womöglich suche ich sie schon mein Leben lang, wer weiß das schon so genau. Ein lieber Freund sagt mir, mein Lachen sei unwiderstehlich und ich täte immer so fröhlich glucksen dabei … ich achte  darauf und auf einmal höre ich sie in mir lachen … sie lacht durch mich hindurch.

Ich plane eine Reise, dahin, wo sie herkommt und verjagt wurde, ich werde keine Spuren finden können, trotzdem werde ich hinfahren an diese verlorenen Orte in Böhmen, in die Vergangenheit, oder in eine Parallelwelt zwischen den Steinen und in den Schatten der Gräser, auf die Strassen und in die Augen der Menschen … irgendwo dort wird irgendwann durch eine Laune der Geschichte eine junge Frau auf einen Weg ins Unbekannte geschickt, sie folgt ihm, notgedrungen, und dann, als sich ihr Weg irgendwo im Süden mit einem Fremden kreuzt, entstehe ich. Und ich bin unsicher, was mich erwartet, wonach soll ich denn suchen, alle Wege führen in dunkle Vergangenheiten, Namen verhallen im Nichts, die Geschichte meiner Mutter , ihrer und somit meiner Familie … lauter lose Enden wehen im Wind … eine leise Wehmut schlängelt sich durch mein Herz und mir ist, als wäre meine Sehnsucht auch ihre gewesen … Spürungen schleichen sich an, Angst vor der großen Verlorenheit … was kann ich denn finden, wenn ich nicht mal weiß, wonach ich suche?

Ein freundlicher Reisender kommt vorbei und macht Rast auf halber Wegstrecke im alten Haus. Zwischen zwei Flügelschlägen sitzen wir am Stubentisch und unsere Geschichten setzen sich lächelnd dazu, stellen Fragen und geben Antwort. „Geh einfach los, und Du wirst sehen, es ist ganz egal, welchen Weg Du nimmst, jeder ist richtig!“ Ich höre es und schaue in kluge und sanftmütige Augen … Als wir uns verabschiedet haben, durchziehen noch lange unsere Stimmen und das gemeinsame Lachen das Haus, eine Art Vertrautheit, die entsteht, wenn aus Fremden Freunde werden …

Ja, ich werde einfach losgehen und abwarten, was passiert.

Hab Dank, lieber Zeilentiger!

Der alte Kirschbaum hat soviele Früchte, daß ihm ein Ast abgebrochen ist.
Aus den Kakteen quellen unzählbar viele Knospen und schicken sich zum Blühen an
und ich habe endlich herausgefunden, wo der Tatzelwurm (die bayrische Variante des Drachen) hausen soll: in der Gumpe unterhalb des Wasserfalls nämlich, dies gilt es demnächst, genauer zu erforschen.

 

 

 

„It is a risk …“

„It is a risk to love.
What if it doesn´t work out?
Ah, but what if it does.“

Peter McWilliams

Ja, ich glaube,  Mick zwo hat recht, wenn er schreibt: “ Allerdings glaube ich, dass die Geschichten nicht passiv sind. Sie laufen uns über den Weg, nicht umgekehrt! „

Diese Worte führen genau dahin, an diesen Punkt, an dem so unwiderruflich klar wird, daß die Zeit reif ist für genau diese eine Geschichte und keine andere…

Genauso ist das mit diesem Film, immer mal wieder muß ich ihn ansehen und jedesmal ist hinterher irgendwas irgendwie anders als vorher. So geht es mir oft mit Geschichten, nein, natürlich nicht mit allen…nur mit den ganz wichtigen, die was mit mir zu tun haben;  ich wüsste nicht zu sagen, was sich zwischen vorher und nachher in meinem Leben verändert hätte, aber daß nichts mehr ist wie vorher, das scheint sicher.

Michael Althen, der wunderbare, leider so früh verstorbene Filmkritiker hat mal über ein „zweites Leben im Kino“ geschrieben, das „besser ist als unseres und ihm doch aufs Haar gleicht“…das Kino als doppelte Natur gibt Auskunft über das, was ist, und das, was möglich wäre…wer wir sind und wer wir gerne wären, und daß wir, wenn wir uns den Bildern überlassen , womöglich erkennen, woher wir kommen und wohin wir gehen…

Eine Nuance nur reicht, ein Windhauch, eine ganz zarte Gedankenspur, kaum merklich, kann den Weg freimachen in völlig neue Richtungen, die Tür zu anderen Welten öffnen, zu neuen Ufern, neuen Träumen, weiteren Geschichten…um letztendlich immer die gleiche, nämlich die eigene  auszuleuchten.

Ganz am Anfang des Films sieht man eine Zehe mit einem Smileypflaster, man hört das Entkorken einer Flasche und das Geräusch, das irgendein Getränk macht, wenn es in ein Glas geschüttet wird.

Dann holt einer sein Feuerzeug aus der Tasche, zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug… ich schmecke und rieche den verbrannten Tabak und als der Mann in Hut und hellem Sommeranzug vom Tresen weggeht, liebe ich ihn schon und bin bereit, ihm zu folgen durch die dunkle Bar hin zur Türe. Und dann geschieht dieses Wunder, der Klang der Gitarre (David Hidalgo), das gleißende Sonnenlicht, der Mann und ich, wir verschmelzen und werden zu einer Geschichte, die hier beginnt.

Viele Male musste ich den Film ansehen, um endlich zu erkennen, daß eigentlich alles schon in den ersten fünf Minuten erzählt wird und daß die Musik die Geschichte parallel dazu nochmal erzählt. Und ich lasse mich führen,  gehe den Weg mit, den Bobby Long durch eine runtergekommene Vorstadt von New Orleans entlanghumpelt, bis er an der Friedhofsmauer ankommt, wo er die leergetrunkene Flasche abstellt und wenn die Kamera auf die Trauergemeinde schwenkt und das grandiose Saxophon (Steve Berlin) einsetzt, ist klar, daß es kein Zurück mehr gibt aus dieser Geschichte, bis sie zu Ende erzählt ist.

Man hat diesem Film vorgeworfen, daß die Story zu simpel und vorhersehbar sei und, daß John Travolta viel zu wenig wie ein verwahrloster Säufer aussehen würde…ja, mag alles sein. Ich liebe diesen Film, genau so wie er ist und alle, die mitspielen, bezaubern mich immer wieder aufs Neue!

Ein ehemaliger Literaturprofessor und sein Schützling, den er dazu auserkoren hat, ein Buch über ihn zu schreiben, haben sich ins Haus einer verstorbenen Freundin geflüchtet und versuchen, sich durch große Mengen Alkohol soweit zu betäuben, daß sie die Verzweiflung über ein gescheitertes Leben nicht mehr spüren.

Da hinein gerät die Tochter der Freundin, die das Haus erbt.

Die junge Frau ist ihrerseits auch bereits eine gescheiterte Existenz, voller Zorn und Gram über eine verlorene Kindheit und tiefer Sehnsuch nach einer unerreichbaren Mutter.

Auf ihre Weise bewegen sich diese drei Menschen und ein paar Nebenfiguren durch ihr Schicksal und am Ende sind sie vom Meeresboden, auf den sie gesunken waren, wieder nach oben getaucht und sehen, jeder auf ganz eigene Art neuen Horizonten entgegen.

Was ist es, was mich so berührt an diesem Film… ich vermag es gar nicht so genau zu sagen, die Geschichte ist ein Märchen, in dem alle am Ertrinken sind und sich dann Kraft der Liebe retten…das allein ist es nicht, auch nicht mein Faible für gescheiterte Existenzen, für diese Lonly Wolves…

Nein, ich glaube, letztendlich ist es der Blues, der mich ergreift und durch diese Schwüle trägt, Bewegungen wie in Zeitlupe… ja es sind die Farben des Südens und der Blues.

Immer wieder dieser Blues, der alles einschließt, das Lachen und das Weinen, die Freude und den Schmerz, das Leben und das Sterben , dieses Hin und Herwiegen wie das Gras in einem lauen Sommerwind…das Sichhingeben an das Leben und das Sichtreibenlassen und dem Verstreichen der Zeit zuzusehen…

(Sehr schade, daß der wundervolle Soundtrack nur mehr für Wucherpreise erhältlich ist)
Das war einmal!
Inzwischen hat Herr Riffmaster, der nicht nur seines Zeichens Archivar von glücksbringenden Musikalien ist, sondern anscheinend auch diverse Zauberkünste beherrscht, genau diese Scheibe zu meiner großen Freude in seinem überirdischen Laden ausgestellt…würd mich ja nicht wundern, wenn er auch noch wilde Augen hätte!
Vielen Dank , lieber Meister!

Schade bleibt (vorerst) nur noch, daß ich leider leider niemand kenne, der/die mit mir „Alabama-Schuffle“ tanzen täte!

 

 

 

We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be arrive where we startet
And know the place for the first time.
T.S. Eliot

„Gott kennt mich und ich kenne Gott“ (Bobby Long)

 

A Lovesong for Bobby Long
Regie: Shainee Gabel
2005

Fallwind…

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Die alte Katze Mimi geht hinter mir im Haus die Stiege runter. Sie ist sehr schwach geworden in den letzten Tagen und das bisschen Kraft, das sie noch hat, verschwendet  sie nicht dafür, zu essen oder sich zu waschen, sondern, um jetzt zur Haustüre hinauszukommen, in die Sonne.

Als ich mich umdrehe, schaut sie mir lange in die Augen und ich sehe in die dunkle Unendlichkeit des Universums. Uferlose Weite im Blick eines Wesens, das sich anschickt zu sterben.

Am Abend wankt sie  mit letzter Kraft ins Haus und bleibt liegen, wo ich sie hinbette.

Heute trage ich sie auf den Balkon, da liegt sie in der Sonne, wie so oft in ihrem Leben.

Gnadenloser Föhn , warmer Fallwind, weht sanft ums Hauseck und sorgt dafür, wie unter einem Vergrößerungsglas die Dinge des Lebens neu zu betrachten und mit Wehmut erkennen zu müssen, daß manch ein Traum längst weggeflogen ist und manch eine Wahrheit brüchig wird, wenn ich genauer hinsehe.

Dieser blöde Föhn, immer wieder kehrt er mir das Innerste nach außen und besteht  darauf, genauer, noch viel genauer hinzusehen, was wirklich zählt.

Manch eine hinausgeschobene Entscheidung will endlich getroffen werden, um sich von Vergangenenem zu lösen und Freiheit für die Zukunft zu bekommen.

Welche alten Verbindungen halten noch…gibt es neue, die schon halten?

Was bleibt übrig?

Die Berge verringern dramatisch ihren Abstand, rücken näher, färben sich nachtblau am hellichten Tag, der Himmel steht in Flammen…

Letztendlich bleibt nur die Erkenntnis übrig, daß ich umso reicher werde, je mehr ich verschenke, daß nur das bleibt, was ich loslasse, und daß Liebe dann entsteht, wenn ich liebe…so einfach ist es.

Warum, frage ich mich, kommen seit Jahren alle Katzen zu mir und wollen in meiner Nähe bleiben, wenn es zum Sterben ist? Wilde werden plötzlich zahm und Katzen, die normalerweise nie so unhöflich wären, jemand lange in die Augen zu schauen, suchen meinen Blick und dann sprechen sie mit mir, jammern und klagen in einer Sprache, die ich zwar erahne aber nicht dechiffrieren kann.

Die alte Katze Mimi liegt ruhig da und atmet sich leise dem Tod entgegen, nein keine dramatischen Lebensrettungsaktionen mehr, keine Fahrt zur Tierklinik und schon gar keine Todesspritze.

Sie darf in ihrem eigenen Tempo auf die letzte Reise gehen, in der Nähe von uns, ihren Lebensmenschen, immer wieder sehen wir nach ihr, das Leben vollendet sich…ja, natürlich weine ich ein wenig, aber ich werde sie gehen lassen, dorthin, wo Fragen und Antworten aufhören… und ich lasse das Mantra leise laufen, von dem es mal geheissen hat, daß es der Dalai Lama für einen Freund gesungen habe, um ihm das Sterben leicht zu machen.

Ein Gesang, den ich seit Jahren erfolglos gesucht habe, merkwürdig, plötzlich ist er einfach da…er soll sowohl beim Sterben als auch beim Leben helfen …vielleicht deshalb, weil beides ja eigentlich eins ist

oder

wir womöglich das eine und das andere eh nur träumen?

Wer weiß das schon, nicht wahr?

 

Während ich an diesem Text schrieb und das Mantra lief ist sie gestorben, weggegangen auf leisen Pfoten…

Gute Reise Mimi.

Dank an meine Schwester, das Felltier, für alles.

Ruhe in Frieden.

„…daß, wanns so kimmt…“

gretl-repro-84730

Seit Wochen war mein alter I-Mac unpässlich, jetzt funktioniert er wieder.

Letzte Nacht ist das Meer wieder zu uns gekommen und graue Nebelzungen lecken die Talwände ab. Allmählich sickert gegen Mittag  eine etwas ausgebleichte  Sonne durch die feuchten Schwaden und gibt den Meeresboden frei.

Das Jahr ist in die Knie gegangen unter den letzten blühenden Rosenbüschen und kriecht jetzt langsam auf Allerheiligen zu.

Beim „Nebelreissen“ bilden erste zarte Melancholientropfen kleine Lachen auf  den vermodernden Blättern.

Ein paar Krähen stelzen ganz gemächlich über die Straße und erledigen ihre Besorgungen.

Rings um mich herum werden die Gärten leer gemacht, es wird  „aufgeräumt“, allerorten.

Die letzten zuckersüssen Äpfel fallen von den Bäumen, wir werden nochmal Most pressen, um den Winter hindurch volle Ballons zu haben und willkommenen Gästen die Gläser damit zu füllen.

Nein, noch keine Bestandsaufnahme, was das Jahr gebracht hat, dafür ist noch Zeit genug, jetzt steht erstmal eine Fahrt an, nach Leipzig und den Domen der Romanischen Straße entlang. In den Osten, und ich freue mich sehr und hoffe auf wunderbare Begegnungen mit heutigen Menschen und Erkundungen auf alten Spuren und geheimnisvollen Wegen.

Und während draussen das Nebelmeer sogar die Nacht verschlingt, packe ich meine Sachen für die Reise zusammen und freue mich auf das Unterwegssein mit  meinen liebsten Freundinnen. Und doch  wird mir ein wenig weh ums Herz und das Wasser steigt mir in die Augen, weil ich dieses Lied immer und immer wieder höre vom Sichverstecken müssen und der großen Angst, sich nicht mehr zu finden…wenn das Wetter (Gewitter) vorbei ist…