Archiv für den Monat: Juni 2024

# 57 Run for the roses…

Das erste der für heute angekündigten Unwetter kam mit einem Regenguß, der innerhalb von ein paar Minuten den Eimer unter dem Loch im Dach bis zum Rand angefüllt hat. So schnell wie er kam, war dieser Spuk auch wieder vorbei. Es hat kaum abgekühlt. Es liegt immer noch eine Spannung in der Luft, die knistert. Die Rosen haben die Köpfe gesenkt, der schwere Regen hatte sie niedergedrückt, aber sie strahlen bereits wieder, als sei nichts gewesen, nur ein paar Tropfen laufen hie und da über zarte Blütenblätter.

Als ich M. im Altersheim besuche, verlaufe ich mich schon wieder, und ich muß fragen nach dem Zimmer. Ums Eck rum und dann den Gang bis ganz hinten … aber es gibt viele Ecken und viele Gänge, die fangen alle an einem Mittelpunkt an, aber wo ist der? Und da sind mehrere Gänge, die man bis hinten gehen kann, anscheinend in alle Himmelsrichtungen, irgendwann finde ich das richtige Ende und ihr Zimmer. M. sitzt am Bettrand wie immer. Sie freut sich, mich zu sehen, aber eigentlich wartet sie auf die Tochter, sie wartet immer auf die Tochter. Die Tochter hat ein Leben da draußen mit viel Arbeit und Familie und allem, was dazugehört, auch Sorgen.

M. weiß nicht , wo genau in der Kreisstadt dieses Heim ist, die Station heißt „Bergblick“, aber die Berge sind nicht zu sehen, sondern nur Häuser mit Garagen und kleinen Grünflächen, da sei jetzt mal eine Katze gelaufen, sagt sie. Wo sind nur die Berge? Ich bin auch dermaßen desorientiert, daß ich nicht mal weiß, in welche Himmelsrichtung das Fenster hinausgeht. M. ist nicht gewaschen, die Haare kleben am Kopf und es riecht ein wenig sonderbar. Und als sie mir erzählt, daß sie ganz furchtbaren Durchfall von den Kirschen bekommen hatte, der sich ins Bett ergossen hat, da wird mir klar, nach was es riecht. Heute hört sie etwas besser und wir versuchen zu plaudern. Ich lache und rede gegen einen Würgreiz an, der sich kaum mehr abstellen läßt.

Später kommt jemand vom Personal zum Insulin spritzen, sie hat die 60 sehr weit überschritten, vermute ich. Ich frage sie, ob im Heim gekocht wird oder ob das Essen von woanders angeliefert wird, sie weiß das leider auch nicht.

M. mag keine Zeitung mehr lesen, auch keinen Fernseher,  das Essen schmeckt ihr nicht und trinken tut sie fast nichts, aus dem Zimmer mag sie auch nicht gern, sie sitzt einfach nur da und schaut vor sich hin.

Beim Abschied sag ich zwar: ich komm bald wieder, hoffe aber, daß die Tochter bald kommt, das ist ihre einzige, noch verbliebene Sehnsucht.

Ich gehe den Gang nach vorne, finde kein Stiegenhaus, suche den Aufzug, den ich nach ein paar falschen Ecken auch finde. Zwei alte Leute sitzen in einer Art offenen Teeküche, weit voneinader entfernt beim Essen, das sie auf klappernden Tellern mit klapperndem Besteck zerteilen und hin und wieder was zueinander sagen. Unten am Parkplatz weiß ich sofort, wo die Berge sind und frage mich, am Heimkomplex hinaufschauend, wo um Himmelswillen denn dieses Zimmer sein könnte, in dem ich grade war und dann weine ich aus Zorn und Traurigkeit über diese Demütigungen, die so selbstverständlich erscheinen, daß ich nicht weiß, wie man sich dagegen wehren könnte.

Beim Heimfahren frage ich mich, was eigentlich mit dieser Gesellschaft passiert ist, die ihre Alten in so einer Anstalt abgeben, anstatt sie daheim in der Familie dem Leben und Treiben der Jüngeren zusehen zu lassen. Früher haben die, die ein Herz hatten, einem Pferd „das Gnadenbrot“ gegeben als Dank für seine lebenslange Hilfe. Es durfte am Hof bleiben, auch wenn es zur Arbeit zu schwach war. Es hatte einen Platz im warmen Stall und bekam sein Büschel Heu und im Sommer durfte es auf der Weide herumstehen und sich ausruhen vom Leben und manchmal  beim Vorübergehen, strich ihm jemand freundlich übers Fell oder gab ihm ein Stückerl Zucker und es durfte sterben, wann immer seine Zeit gekommen war. Meine Großeltern durften auch in ihrer Kammer bleiben, ja, es war oft schwierig, die Alten waren störrisch und mochten meine Mutter nicht, es war kein Geld da und sie schliefen im besten Zimmer des Hauses.

Merkwürdig, wie schwierig dieses Thema geworden ist. Wir mögen uns nicht, wenn wir alt werden, nicht mehr gut riechen und verlangsamen, nicht nur im Denken, wir mögen das Alte nicht und lehnen das Kranke ab und wir hassen allein schon den Verdacht und die Vorstellung, es könne womöglich nach Urin und Kacke  riechen. Ich habe als Kind den Geruch meiner Oma geliebt, niemand hat so wie sie gerochen und sie war mir Zuflucht und hat mir ganz oft förmlich das Leben gerettet, weil sie da war, wenn ich Angst hatte und ich hab mich oft in ihrem Bett verkrochen und dann hat sie mit mir gesungen.

Ich weiß, vovon ich rede, wenn ich sage, daß uns nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Pflege unserer Alten zumutbar ist.

Mit 50 ahnen wir es, mit 60 fürchten wir uns davor und ab 70 wissen wir spätestens, daß unsere Würde antastbar ist immer und überall und ich frage mich, ob eine Gesellschaft, die ihre Alten in Heimzimmern abgibt (ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Schrank) nicht zum Untergang verdammt ist.

Vorhin habe ich traurigerweise erfahren, daß der Fredl Fesl gestorben ist, er war ein grandioser Gitarrist, ein Komiker, dessen Humor aus einem extrem weichen großen Herzen in irrer Sprachakrobatik heraussprudelte … ich finde keine richtigen Worte für diese Kunst von intelligenter Albernheit und Wortwitz, er war einfach einer der Guten und ich verdanke ihm viel viel Freude.

Und weil die Rosen so wunderbar blühen und mir heute ein Lied zugeflogen ist, das mir sehr gefällt, werde ich es Dir mit auf die Reise geben, lieber Fredl und vielleicht triffst Du ja denjenigen, der es gesungen hat! Hab Dank für alles und Ruhe in Frieden.

„… And it’s something unknown
That drives you
And carries you home
And its run for the roses …“
Dan Fogelberg

 

Die liebe Kraulquappe schreibt selbstverständlich hier auch was!

# 56 Für alles gibt es eine Zeit …

Vor paar Tagen bin ich bei Regen durch die Nacht gefahren. Scheinwerfer leuchteten plötzlich auf und verschwanden wieder im wabernden Nebel. Alles taucht plötzlich auf und bleibt eine Zeit lang und dann verschwindet es wieder im Nichts, aus dem es gekommen ist. Das Dasein besteht halb aus Leben und halb aus Sterben. Wir sterben nicht nur den einen Tod, sondern es stirbt in und um uns herum andauernd irgendwas und irgendwer. Und daneben lebt es auch in und um uns herum, und beides ist gleichzeitig und richtig und letztendlich wahrscheinlich nicht mal ein Gegensatz … In einem meiner Lieblingstexte der Bibel  („Alles hat seine Zeit…“) heißt es zum Ende hin:

„Das, was war, ist längst gewesen.
Auch was sein wird, war längst.  (Koh 8, 14)

Erklären tut das nichts, alles bleibt letztlich Geheimnis und Rätsel. Wir kommen und dann sterben wir irgendwann. Und darin sind wir alle gleich, alle Lebewesen sind nur zu Gast auf dieser Erde.

Ich weiß das und doch ist mein Herz schwer. Er war krank und mit 14,5 Jahren als absoluter Freigänger hat er ein angemessenes Alter erreicht. Vor 10 Tagen ist er verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt und es ist absolut sicher, daß er nicht mehr kommen wird. Und wir wissen nicht, wie er gestorben ist, ob er das selber geregelt hat, oder ob ein Fuchs ihn abgeschleppt hat in den Bau zur hungrigen Kinderschar, die ihn genauso krachend zerbissen hat wie er es mit den Mäusen machte.

14 Jahre ist er rechts neben mir auf der Hausbank gesessen und hat mit mir in die Nacht hinaus geschaut und dabei hat er unaufhörlich geschnurrt. Er hat immer geschnurrt, mehr als alle anderen der vielen kätzischen Generationen hier am Hof.

Er konnte fremde Menschen nicht leiden und ging ihnen großflächig aus dem Weg.

Berührung an den Pfoten mochte er nicht.

Er lag gerne am Rücken und ließ sich den Bauch kraulen.

Wir waren nicht befreundet, wäre ich nicht viel größer als er gewesen, dann hätte er mich krachend gefressen. Er wohnte da, wo er ausreichend was zum Essen bekam  und ansonsten lebte er seiner Wildnatur gemäß ein freies, selbstbestimmtes Leben.

Er hat sich zur Kommunikation mit seinen Menschen das Wort „Meeeh“ zugelegt und konnte damit ganze Geschichten erzählen.

Oft saß er einfach da, schnurrte und sah mich an.

Er liebte es, sein Gesicht in meiner Hand zu vergraben und sofort einzuschlafen.

Er liebte die Nacht, so wie ich und wir gingen oft miteinander spazieren.

Er flüchtete vor mir, wenn ich gesungen oder gepfiffen habe, das Rascheln von Papier machte ihn nervös.

Vor einigen Wochen hat er noch eine große dicke Feldmaus angeschleppt und krachend zerbissen.  Er ging auf wackeligen Beinen bis kurz vor seinem Verschwinden noch zu seinem Revier, beim Gehen mußte er alle paar Meter eine Pause machen und sich auf der Straße zum Ausruhen hinlegen.

Er war auf seine Weise immer in meiner Nähe und hatte mich im Blickwinkel, sobald ich irgendwo saß, kam er und puffte seinen Kopf an mich und strich mir um die Beine .

Sein Fell am Kopf hat immer irgendwie ähnlich wie Hühnerfedern gerochen.

Er liebte fein aufgeschnittenen Leberkäs und Butterstückerln.

Plötzlich eines Abends ist er verschwunden und nicht mehr aufgetaucht, niemand hat ihn gesehen. Nirgends eine Spur von ihm.

Ja, er war sehr krank und er hatte ein gutes Leben. Und die Natur hat hoffentlich auf ihre Weise dafür gesorgt, daß er aus diesem Leben gut hinausgehen konnte. Ja, ich weiß, er hatte keine Wahl … wer hat die schon … aber ich glaube, er hätte sicher nicht am Ende in die Tierklinik gewollt, um in die Pfote gestochen zu werden.

Herr Graugans sagt, das ist ein guter Abgang für den Herbert, der beherrschte das plötzliche spurlose Verschwinden … sowie Du …

Ja, wir mochten uns sehr. Jetzt sitze ich alleine  auf der Hausbank, andere Katzen streichen um meine Beine, aber der Platz rechts von mir bleibt leer. Ich schaue alleine hinaus in die Nacht und hinauf zu den Sternen. Auf welcher Umlaufbahn wirst Du sein, mein kleiner weißer Kater, flieg, wohin Dich der Wind treibt, dem Paradies und den ewigen Jagdgründen entgegen. Eine leise Wehmut ist in meinem Herzen. Du warst ein gern gesehener Gast in unserem Haus. Aber nicht wahr – auch der liebste Gast kehrt irgendwann in seine Heimat zurück.

Lebewohl mein lieber Herbert.

Herbert 2010 – 2024

 

Da schreibt die Kraulquappe

# 55 Rose … trotzalledem

Ach ja, es wurde gewählt.

Die Welt ist kompliziert geworden und deshalb stehen die Parteien hoch im Kurs, die einfache Lösungen für schwierige Sachlagen anbieten, das war immer so und wird auch weiterhin so bleiben, auch hier im so ziemlich reichsten Bundesland. Vor den Ergebnissen der Europawahl hier im wohlhabenden oberbayrischen Landkreis BGL kommt mir das kalte Grausen und ich bin wieder heilfroh, daß wir  (noch) freie, geheime Wahlen haben, denn womöglich könnt ich vielen Menschen nicht mehr unbefangen begegnen oder in ihren Geschäften einkaufen, wenn ich wüsste, was sie gewählt haben. Der bairische Landesvater, der ein Franke ist, schaute erstaunlich entspannt in die Kameras.  Jetzt ist natürlich, wie immer nach einer Wahl landauf landab die Stunde derer, die wissen, was alles schiefläuft in diesem Land und was „die Ampel“ alles falsch macht und wer alles schuld ist an unserer Misere usw. usw.

Ich bin immer noch heilfroh darüber, daß dieses Land, in dem ich lebe, zumindest derzeit noch demokratisch und ohne Krieg regiert wird, mit allem was dazugehört und mit allen Fehlern, die Menschen machen können, mit allem Drum und Dran. Noch dürfen Menschen den größten Blödsinn von sich geben, ohne daß ihnen der Kopf abgeschnitten wird oder sie in den Kerker geworfen werden. Daß ich immer zu wenig Geld habe und daß wir uns nicht leisten können, auf unser uraltes Haus ein neues Dach zu setzen liegt sicher nicht an der Ampelregierung, sondern daran, die Abzweigungen im eigenen Leben, die zu Wohlstand und Sicherheit geführt hätten, verpasst oder verweigert zu haben.

Grad ist mir ein Buch  untergekommen, das der leider längst verstorbene österreichische Psychiater Erwin Ringel herausgegeben hat, es handelt von „Politverdrossenheit und Identität“. Erwin Ringel war ein überaus kluger Mann mit Charisma, ich habe ihn sehr geschätzt. Für dieses Buch mit Aufsätzen verschiedener Autoren hat er einen Titel gesucht und ist an einem Ausspruch von Viktor Matejka hängengeblieben:

„Ich bitt Euch höflich, seid´s keine Trottel!“

Eine wahrlich weise Aufforderung.

Tempora mutantur
et nos mutantumur in illis  – hat irgend ein alter Römer irgendwann gelehrt von sich gegeben.
Oder – wie unsere alte ehemalige Pächterin immer sagt: „Heit is ois anders“ (Heut ist alles anders) Sie mußte aus ihrem Leben alleine in der Küche in ein winziges Zimmer im Altenpflegeheim wechseln. Es wurden praktisch die Einsamkeiten ausgetauscht. Nach dem Schlaganfall regeln sich manche ansonsten selbstverständliche Abläufe ihrer Körperlichkeit nicht mehr normgerecht, sondern entwickeln eigene Gesetzmäßigkeiten, was Ein- und Ausfuhr von Flüssigkeiten und Nahrung anbelangt. Sie bräuchte viel Betreuung, gutes Zureden, Trösten und Ansprache. Die ist extrem erschwert, denn die Hörgeräte funktionieren nicht, das Gehör hat sich verschlechtert. Ich schreie mir förmlich die Seele aus dem Leib, wenn ich bei ihr sitze und wir so plaudern wollen, wie wir das seit vielen Jahren tun. Man sagt mir, die Demenz sei fortgeschritten. Ob das so ist, kann man erst feststellen, wenn sie wieder besser hört, glaube ich.

Das Heim tut sicher, was ein Heim leisten kann, z.B. im Kreis sitzen und Kindergartenspiele machen und dann zur Belohnung ein kleines Eis, das alle freudestrahlend aus den Bechern löffeln, die Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben und Teil der Gesellschaft waren, die Kinder großgezogen haben und die Alten in der Familie versorgt, sitzen jetzt da und nach dem Stuhlkreis werden sie wieder in ihre Zimmereinsamkeiten verfrachtet. Das Haus ist groß und die langen Gänge glänzen und hallen bei jedem Schritt und ich frage mich, wie man sich da in diesem Zimmer –  Wirrwarr auskennen soll und ich bewundere M.  wie sie den richtigen Knopf drückt im Aufzug und dann sofort mit ihrem Rollator die richtige Richtung findet und nach ein paarmal ums Eck rum auch in ihr Zimmer. Ich gehe hinter ihr und sehe, daß die Hose inzwischen naß ist.

Ich mag sie sehr, bald hat sie 83. Geburtstag. Sie hat so schwer gearbeitet, nicht nur daheim, sondern auch als Pächterin um unseren Hof herum. Sie war eine Meisterin im Mähen mit der Sense, flink und fleissig war sie ein Leben lang, hat ihre Schwiegermutter 17 Jahre lang gepflegt und mußte immer den Mund halten und das tut sie jetzt auch, sie fügt sich in ihr Schicksal, wie sie das schon immer getan hat, was sollte sie auch anderes  machen.

Das Regnen wird zwischendurch unterbrochen von glühender Hitze, wir hatten ein paar Tage um die 30 Grad, dann wieder Regen und wieder und wieder Regen. Langsam schlägt mir das aufs Gemüt. Wie das die Rosen nur machen? Eine hat jetzt mitten im Dauerregen ihre prachtvollen Blüten geöffnet, wie ein Wunder.  Ich habe gelesen, daß man anhand fossiler Funde nachweisen kann, daß es die wilden Rosen schon vor 25 Millionen Jahren gegeben hat. Das Geheimnis der Rosen dringt mit ihrem Duft in mein Herz und überflutet es mit Liebe zur Schöpfung.

Die Rose,

die Rose der Perser und des Ariost,
die immer allein ist,
die immer die Rose der Rosen ist …
Jorge Luis Borges

 

irgendwo im Großstadtdschungel treibt sich die Kraulquappe herum.

# 54 Ein kleiner warmer Wind

Bevor das Unwetter begann, war es ganz still, die Sonne schickte warme Strahlen aus tiefblauem Himmel und dann kam ein kleiner warmer Wind und die Zeit war reif und da ist sie weggeflogen. Während im Zimmer leise Musik aus dem Radio kam und die Schwestern sie pflegten und vorsichtig umlagern wollten … da hat sie aufgehört, zu atmen. Die Schwestern streuten Blütenblätter auf ihr Bett und kämmten ihre Haare, das hätte sie gefreut, denn nie wäre sie unfrisiert aus dem Haus gegangen und schon gar nicht auf eine weite Reise hinter die Sterne … der ewigen Glückseligkeit hätte sie sich nur in gepflegter, gebügelter Kleidung mit frisch gewaschenem Haar genähert.

Heute Mittag um 12 Uhr standen wir vor der Glasscheibe im Krematorium. Ein hoher Raum, lichtdurchflutet, durch die Glaskuppel strahlt der blaue Himmel. An den Wänden Bilder von Miró, bunte Blumensträuße da und dort. Ein schöner Ort, um wie der Rauch zum Himmel aufzusteigen.

Viel haben wir in den vergangenen Tagen geredet über die Eltern und die Kinder und was alles so geschehen ist, über Glück und Mißgeschick, Träume, die während der Flucht auf der Straße liegengeblieben sind und über so vieles, was nie ausgesprochen wurde, was man aber dem Sohn in den Lebensrucksack gepackt hatte.

Jetzt sind wir still, ihr großer Junge und ich. Der Sarg, viel zu groß für dieses winzig kleine Persönchen, leicht wie ein Vöglein, wurde hereingeschoben und da steht er vor uns.

Ich denke an sie und daß wir beide gescheitert sind, sie an der Sehnsucht, eine Tochterfreundin zu bekommen und ich daran, nochmal eine Mutter zu finden. Wir haben uns enttäuschen müssen in unserer Erwartung, zu unerfüllbar waren unsere Wünsche aneinander. Bitte verzeih mir, sage ich inwendig. Und dann fällt mir ein, wie sehr ich sie bewundert habe in ihrem Wagemut. Sie ist noch mit 80 auf unseren höchsten und ältesten Kirschbaum gestiegen bis oben hinauf und das auf der längsten, ausgezogenen Leiter. Sie hat sich dann trotzdem den Arm furchtbar kompliziert gebrochen, aber nicht irgendwo oben, sondern unten, am Boden, als sie mit dem Eimer voller Kirschen über den Leiterfuß gestolpert ist . Sie hat sich überhaupt öfters was gebrochen, das hielt sie aber keineswegs davon ab, bei nächster Gelegenheit wieder irgendwo hinaufzusteigen, egal, ob der Untergrund sicher war oder aus wackligen Rollen bestand. Du bist ein wilder alter Wassermann, hab ich oft zu ihr gesagt und da hat sie herzlich gelacht.

Dann wird der Sarg weitergeschoben.

Tschüß mein Junge, hat sie immer gesagt.

Der große alte Junge sagt jetzt: „Pfiati Mama!“

Dann geht die Türe auf und der Sarg wird dem Feuer übergeben, ein unglaublich wehmütig schöner Vorgang. Das mächtige heilige Feuer verbrennt alles, was wir auf Erden einmal waren, alles, was dieses irdische Dasein mit sich brachte, wird zu Rauch, der zum Himmel steigt. Ein überwältigend feierlicher Akt.

Morgen wird in einer Andacht mit Musik und Begleitung des Pastors die Mutter und ihr Leben gewürdigt und verabschiedet und die Urne in die Erde versenkt und dann ist die Verbindung Himmel und Erde besiegelt und es ist gut.

Als wir heimfahren, sehe ich, daß an den am Straßenrand gestapelten gefällten Buchenstämmen überall kleine hellgrüne Schößlinge herauswachsen.

 

Lisa : 25. 01. 1932 – 30. 05. 2024
Möge der Weg Dir leicht sein in die ewige Heimat und mögest Du ruhen in Frieden, liebe Lisa.

 

Und da schreibt die Kraulquappe.