Archiv für den Monat: September 2017

Nackt

Sie zieht mich nach Karlsbad mit ihren kühlen Gespensterarmen.
Mit ihren warmen Mutterarmen will sie mich ihrem Vater vor die Füsse legen oder bringt sie mich zu ihm ans Totenbett? Schau, das ist Dein Großpapa, würde sie sagen zu mir, ihrem nackten, blutverschmierten Neugeborenen.
Ihrem über alles geliebten Papa würde sie mich zeigen wollen. Da liegt er im Spital, todkrank mit Anfang vierzig, die paar Schritte von der Wohnung in der Röhrengasse Nr. 1 zum Sanitätsauto ist er noch selber hinuntergegangen. Dies sei eh sein letzter Weg, soll er gesagt haben, dann ist er bald darauf gestorben. Sie, die Grete, war bei ihm, nur nach ihr hat er rufen lassen und sie ist gekommen, hat er sie jemals beschützt oder war sie ihm lästig? Sie ist ihr Leben lang ein heimatloses Theaterkind geblieben, den Kopf voller Operettenmelodien. Nie hat sie von diesen letzten Stunden erzählt, als sie ihrer großen Liebe die Hand hielt, um über das Seil zu balancieren …nur dieses Lied, das hat sie gesungen, oft und oft, lächelnd und mit wehen Augen …

„oh, mein Papa, war eine wunderbare Clown
oh mein Papa, war eine große Kienstler,
hoch auf die Seil, wie war er herrlich anzuschaun,
oh mein Papa, war eine scheene Mann …
Hollahopp …hollahopp … hollahopp …“

Ich gehe die steile Röhrengasse hinauf und hinunter, sieht man es dem Ort an, daß hier mein Großpapa seine letzten Schritte tat?
Traumwandlerisch gehe ich durch die Stadt, da und dort warten die Gespenster, meine Mutter im flatternden Nebelgewand mitten im brütendheissen Karlsbad zeigt mir das Theater, dort hat sie geputzt, als das Geld in der Familie nicht reichte, dort hatte mein Urgroßvater sein Photoatelier, und von dort aus fuhren sie los mit seiner Wanderbühne, über die Dörfer … die böhmischen Dörfer und spielten Theater … einmal ist der Motor des Transporters mitten auf einem Bahnübergang abgestorben und der Zug fuhr ihn über den Haufen, alles kaputt, alle Requisiten, einfach alles. Überall winken mich Geisterhände heran und wenn ich hinkomme, weichen die Gestalten vor mir zurück und lösen sich auf.

Ich gehe durch eine Stadt, die mal was anderes war, als sie heute ist. Sie ist nicht zugänglich. Überall stehen Theaterkulissen aus längst vergangenen Zeiten herum, oft sind noch verblichene deutsche Namen und Geschäfte zu sehen.
Meine Mutter lebte in der österreichischstämmigen Theaterfamilie, die sind alle freiwillig gegangen, wären nicht vertrieben worden, meine Mama war ein paar Tage mit einem Soldaten aus Mönchengladbach verheiratet und wurde dadurch zur Deutschen und deshalb verjagt.
Was mache ich hier, was suche ich hier?

Soviele Fragen hätte ich an meine Mutter. Ich trage Fotos mit mir herum, da scheint sie glücklich gewesen zu sein … auf dem Hochzeitsbild mit meinem Vater ist sie eine andere geworden.

Sie begleitet mich auf Schritt und Tritt, aber wenn ich sie ansehe, ist sie durchsichtig …
„So durchsichtig, dass es weh tut.
Sie verschwindet nicht
Nie
Nicht
solange wie das, das es nicht gibt, wehtut
Sie tut weh
die gute Mutter
die es nicht gibt
die es nicht gab
als sie hier war.“

Wir gehen durch die Stadt, die Geister und ich. Ich laufe meiner Mutter nach, die  läuft vor mir her und ihrem verlorenen Vater nach … was für ein Spuk, wenn ich stehenbleibe, bleiben sie auch stehen, die Orte ihrer Existenzen sind verschwunden, die Vergangenheit ist soweit vergangen, ich erspüre sie nicht mehr. Ein Ort bleibt noch.

Wir fahren nach Mariaschein, dort nahm alles seinen Anfang, dort begegnete mein Großvater einer jungen strahlenden Schönheit und zeugte mit dieser Frau meine Mutter.

An meinem 65. Geburtstag stehe ich am Taufstein der Wallfahrtskirche Mariaschein (Bohosudov) und denke an die Taufgesellschaft im April 1922, als hier der Pfarrer meine Mutter über das Taufbecken hielt.

Nichts.

Ein Nichts umfängt mich in dieser heruntergekommenen, abbröckelnden Kirche. Sie sind alle weg. Alle Vergangenheit ist vergangen, ich spüre nichts. Die Gespenster hat wabernder Nebel verschluckt, ich sehe Generatoren in der Brunnenkapelle und ich sehe ein ehemaliges riesiges Lager neben der Kirche, da war ein Teil der vielen Roma untergebracht, die anstelle der vielen verjagten sogenannten Sudetendeutschen hier angesiedelt wurden.

Ich bin hierher gekommen, um an den Orten zu sein, wo die Geschichte sich so formte, daß irgendwann an einem Kreuzungspunkt ein flüchtiger kosmischer Gedanke sich so verdichten konnte, daß er sich in meiner Existenz materialisierte.

An einem Bahngleis stehe ich, vielleicht sogar an jenem,  wo sie in Viehwaggons verladen wurde, um aus der einen Heimatlosigkeit in die nächste zu fahren. Mir ist, als käme ein riesiger Strom Menschen daher, auf mich zu … und als ich stehenbleibe, gehen sie einfach weiter … sie schreiten durch mich hindurch … für einen Augenblick bin ich in ihnen und sie in mir … dann steh ich da wieder alleine , neben mir eine schwarzweiße Katze, die sich auf einem Stein in der Sonne räkelt …

Das kursiv gedruckte Zitat stammt aus :

„Wider die Kunst“ (Die Notizbücher) von Tomas Espedal, Suhrkamp 2017