Was wir sehen,
ist nicht,
was wir sehen,
sondern
was wir sind.
Fernando Pessoa
Ein Grund, warum ich jahrzehntelang diesen Ort nicht gesehen habe, obwohl ich unzählige Male die Strecke Salzburg Wien gefahren bin, könnte natürlich sein, daß die Ruine im Sommer total zugewachsen ist und mit ihrem Blättergrün mit dem dahinterliegenden Wald verschmilzt. Merkwürdig ist es trotzdem, denn sie liegt so nahe an der Autobahn, daß man doch gar nicht anders kann, als hinzuschauen. Aber es gibt Orte, die verbergen sich, vor allem, wenn man sie sucht. Oft dauert es Jahre, bis sie sich zeigen. Warum das dann genau zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert, das wird mir immer ein Rätsel bleiben. Wie machst Du das nur, immer wieder solche Orte zu finden, sagt die Freundin. Ich wusste nichts von seiner Existenz, aber auf einmal hab ich auf der Fahrt nach Wien irgendwo im Mostviertel um St. Pölten herum am Waldrand diese riesige Ruine gesehen, aber da war sie noch unauffindbar, wir haben uns bei der Suche nach ihr verirrt und sind weiter in die große Stadt gefahren. Erst am Heimweg hat uns ein freundlicher Mann mit Hund den Weg gezeigt und es stellte sich heraus, daß wir schon auf der Hinfahrt im selben Wald gesucht hatten, wir mussten direkt hinter der Kirche gewesen sein, ohne sie zu bemerken.
Erst jetzt, nach ein paar hundert Metern durch wildes Gehölz, stehen wir vor ihr, ringsherum Teppiche aus weissen Veilchen, die ich so noch nie gesehen habe. Ein verwunschener Ort … heimlicher Grund … eine Ruine aus dem 14. Jahrhundert, St. Cäcilia gewidmet, in einer Zeit, da dieser Ort geweihter Boden war. Eine Wallfahrtskirche, zum Stift Göttweig gehörend, im Franzosenkrieg zerstört, so heißt es. Kriege sind über das Land gegangen und mit ihnen Mord und Totschlag und das Blut ist aus den geschundenen Leibern gespritzt, der Boden hat alles aufgenommen und die Schreie sind im Wind verhallt.
„Was mache ich hier?“ Diese Frage, einst von Bruce Chatwin formuliert, stellt sich auch mir immer wieder. Und dieses rätselhafte: „Werdet Vorübergehende“ aus den Apokryphen trage ich wohl lebenslang als eine Art Koan mit mir herum. In der Apsis ist dort, wo einst der Priester am Altar gestanden ist, eine Feuerstelle. Im Kreis sind ordentlich die Steine aufgeschichtet, um dem Feuer seine Begrenzung aufzuzeigen. Angesammeltes Erdreich über die Jahrhunderte hat den Kirchenboden aufgeschüttet und höher gelegt, die Kirche erscheint dadurch viel niedriger als sie eigentlich ist. Ich stehe an der Feuerstelle und schaue am Baum vorbei, den der Wind mitten ins Kirchenschiff gepflanzt hat, nach hinten und versuche mir vorzustellen, wie es hier ausgesehen haben mag, als bei einer Messe die Kirche voller Menschen war … zwei Stuhlreihen, rechts die Männer, links die Frauen, gesungen werden sie wohl haben und ihre Bitten um Linderung mancher Not werden sie der Hl. Cäcilia erzählt haben und die Sorgenbündel vor ihren Füssen abgelegt.
Nein, ich höre und sehe nichts außer verfallenenen Mauern und Schatten, die darüberhuschen, von den Bäumen, die sich sonnenbestrahlt leis im Wind wiegen. Aber wie schon öfters an verwunschenen Orten schiebt sich dieses Bild in meinen Kopf: ich sehe nackte, lehmverschmierte Frauenfüsse , die schnell hinter einem klappernden Karren herlaufen, es geht durch eine Schlucht im Wald aufwärts, die hölzernen Räder hinterlassen tiefe Geleise im Weg. Und ich sehe den grauen langen Rock, schwer geworden vom Lehm schlägt er an die Beine der Frau … immer diese Szene …
Ich stehe an dieser Stelle, vorne im Altarbereich, und es wird mir etwas flau im Magen, der offene Himmel zieht mich nach oben, bald verliere ich den Boden unter meinen Füssen … ich laufe hinaus in die Sonne. Zur Freundin sage ich, warst Du schon vorne in der Apsis? Sie sagt, nein, aber in der Sakristei. Wir haben eine ähnliche Spürung und einen Hang zu unerklärlichen Phänomenen. Wir verfolgen die Spuren alter Geheimnisse, sind aber eher wortkarg im Erzählen unserer Erlebnisse, um nicht in Kraftplatzplauderei das zu verraten, was uns heilig ist.
In die Sakristei mag ich gar nicht mehr hinein, schon beim Hinunterbücken, um durch den Türbogen zu kriechen, läuft mir kalter Schauer über den Rücken und ich bekomme es mit der Angst zu tun.
Dann gehen wir auf dem alten, verwachsenen Wallfahrtsweg durch einen warmen Frühlingswind unter blauem Himmel in Richtung Auto. Beim Umschauen weiß ich, daß ich auf jeder weiteren Reise nach Wien ganz sicher hier kurze Rast machen werde. Und ich winke ihm zu, diesem Ort … oder soll ich sagen, dem Geist dieses Ortes?