angeregt durch:
Geschichtengenerator von Jutta Reichelt
Lieber John
Es ist alles schon so lange her, da standest Du eines Tages auf dem Flur jener Station im Kreiskrankenhaus, auf der ich als Lernschwester gestrandet war. Wir waren beide so um die 18 / 19 Jahre alt. Ein viel zu großer Arztkittel hing an Deinem langen, dürren Gestell, unten schauten zerbeulte Jeansbeine heraus, die etwas ausgefranst da endeten, wo nicht ganz saubere Clarks anfingen. Du hattest glänzende schulterlange dunkle Haare, einen zotteligen, dunklen Jungmännerbart, den weichsten Mund, den ich je gesehen hatte und Augen, die mich so sanft und gutmütig anlächelten…ich mochte Dich sofort, auf der Stelle.
Wir hatten kaum was miteinander zu tun, es trennten uns Kontinente, wenn nicht gar Welten, Du hast das vorgeschriebene Praktikum absolviert, um dann Medizin zu studieren und warst meist in der Nähe der Ärzte, sehr weit entfernt vom Dasein einer Lernschwester.
In Pausen standest Du, meist übernächtig und blass, irgendwo mit den anderen Praktikanten zusammen, Ihr habt über die „wirklich harten“ Sachen von irgendwelchen Bands gesprochen und von brandneuen Scheiben…manchmal stand ich dabei, konnte aber nicht mitreden, weil ich bis heute noch nicht weiß, von was für Musik Ihr damals gesprochen habt. Ganz sicher waren es nicht Herman´s Hermits oder Smokie und Creedence Clearwater Revival, die ich liebte, waren sicher auch nicht „hart“ genug, oder?
Immer warst Du sehr freundlich, und wenn Du mich angeschaut hast, mit so sanften Augen, dann, lieber John, spürte ich nicht mehr die Last dieser Katastrophe zuhause, die ich mitschleppen musste, sondern dann war ich einfach jung und unbeschwert und tanzte durchs Leben.
Manchmal sah ich Dich mit ein paar Kumpels irgendwo auf Parties herumstehen, Du hast mich angesehen, das wars aber auch schon.
Irgendwann hab ich all meinen Mut zusammengenommen und Dir einen Brief geschickt. Dieser Brief war lang und zwei Drittel handelten davon, daß ich ja eigentlich nichts von Dir will, wie das halt ein junges, verträumtes und schüchternes Mädchen so schreibt, das genau das wollte und am liebsten Tag und Nacht Deinen weichen Cat Stevens Mund geküsst hätte…
Mit großer Sehnsucht, aber ohne Hoffnung, daß Du mir zurückschreiben würdest, hast Du genau das getan! John, Du hattest meine Worte ernst genommen und mir auf vielen Seiten mit der unglaublich bezaubernden Poesie eines verträumten jungen Mannes ganz zart versucht, klarzumachen, daß aus uns wohl nichts werden kann.
Kurz danach warst Du weg, wir haben uns nie wieder gesehen. Für mich begannen die wilden Münchner Jahre, Deinen Brief habe ich immer wieder mal gelesen und es wurde mir warm ums Herz dabei. Irgendwann verblasste die Schrift und ich habe ihn feierlich verbrannt.
Vor ein paar Monaten fuhr ich zufällig an Deinem Heimathaus vorbei und sah Dich am Auto stehen, Du warst dabei, Gepäck auszuladen aus dem Kofferraum. Du hast wohl meinen Blick gespürt auf Deinem Hinterkopf, denn Du drehtest Dich um und unsere Augen saugten sich ineinander, nach über vierzig Jahren. Du bist ein schöner älterer Mann geworden, John, ja, vielleicht siehst Du immer noch ein wenig aus wie Cat Stevens, Du bist viel kleiner als ich Dich in Erinnerung hatte, genau noch so dünn und etwas ungelenk in den Bewegungen…ob Du wohl noch genau so meckernd lachst wie früher…ich fürchte, Du schreibst schon lange keine poetischen Briefe mehr, nicht wahr, John? Und ob Dich heute noch jemand John nennt? Unwahrscheinlich. Auf Deinem alten Bubengesicht sind die Spuren vieler Jahre Allgemeinarztpraxis, Ehe, Kinder, Enkel, Eigenheim und großes Auto sichtbar…aber Deine Augen sind sanft geblieben, und Du bist immer noch so blass, John.
Als ein entgegenkommendes Auto hupt, fahre ich weiter, ich drehe mich um und sehe, daß Du mir nachschaust. Ich glaube nicht, daß Du mich erkannt hast.
John, damals, der Brief von Dir, da mußt Du was übersehen haben, das war ein Liebesbrief.
Der schönste in meinem Leben.