Archiv der Kategorie: 24 T (reloaded IV)

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag21

Leise ist es geworden, hier auf meiner Bühne zwischen Himmel und Erde. Die Worte der wunderbaren Gäste hallen nach. Schön ist es, jetzt ein wenig alleine da zu sein, eine rote Kerze brennt und Rum ist im Tee. Die längste Nacht wird morgen in der Frühe, um 5.19 Uhr, vorbei sein. Alles ist wie immer, und doch bestünde zumindest die Möglichkeit zur Verwandlung, wenn wir die Zeichen erkennen … Der Kreis schließt sich sanft und beginnt zugleich von Neuem … wer jetzt tanzt, „weiß, was sich begibt“.

Gestern erlaubte der Föhn die Sicht auf König Watze und weiter bis hinein ins schneebedeckte Dachsteinmassiv. Heute Nacht ist dichter Nebel, hoch oben hängt eine trübe Lichterkette am Himmel.

Der uralte Apfelbaum wurde jetzt ausgerissen, weil der neue Pächter sonst nicht mit seinem 8 Meter breiten Mähbalken unsere Wiese und die unseres Nachbarn ohne Umschleife mähen kann. Dazwischen hatte der knorrige alte Baum seinen Lebensort. Wie schnell er doch zu Fall gebracht war und weggeschleift die Wurzel mit dem großen schweren Traktor. Ich bin traurig, es ging alles so schnell, ich konnte mich gar nicht verabschieden und ihm danken für sein Lebenswerk. Ein Häuflein Holz ist übriggeblieben. Ich werde ihn vermissen, er trug nicht mehr viele Äpfel und hat auch schon etliche seiner einstmals starken Arme abgeworfen … aber ich hätte ihm so vergönnt, daß er sein Baumleben auf seine Art beendet.

Die „Mutmaßungen“ laufen langsam aus, schön war das mit Euch allen und ich bin sehr dankbar für die wunderbaren Texte, die Ihr mir anvertraut habt! In den nächsten Tagen wird es immer ruhiger hier werden, das eine zieht aus, um langsam dem Neuen Platz zu machen und mit den Rauhnächten beginnt ein neues Spiel … eine Traumgeschichte mit alten Kräften und heutigen Frauen, die sich trauen, in fremde Welten, Zeiten, Zwischenräume hinein ihre Ohren zu spitzen und das Erhorchte hierher auf diese Bühne zu tragen und damit zu spielen. Wir werden sehen, was hier im virtuellen Raum passiert in den heiligen Zaubernächten … ich freu mich drauf!

Aber jetzt gilt es erst, durch diese besondere Nacht heute zu wandeln, auf Träume zu achten und den Bildern, die sich in den Kopf schieben, Raum zu geben.

Kommt gut durch diese Nacht!

 

 

 

 

 

 

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag20

Durch den warmen Abendwind gehe ich zur einsam stehenden alten Fichte am Bach. Ich schlüpfe in ihre duftenden Arme, die sich vor mir schließen, während ich mich an ihren Borkenkörper lehne. Wie still es hier drinnen ist, obwohl ein paar hundert Meter weiter auf der Bundesstraße die Autos hin- und herjagen … was und wem fahren sie entgegen oder vor wem nehmen sie Reißaus … ? Alle Menschen, die ich kenne, bedauern, daß sie keine Weihnachtsstimmung mehr hätten und manche suchen das, was fehlt, in den Augen der Enkelkinder. Der Föhn bringt auch noch alles durcheinander und ich liebe ihn dafür. Gnadenlos dringt der warme Wind in unsere Herzenskammern, fördert gefährliche Sehnsüchte zutage, zeigt die schonungslose Wahrheit hinter den Illusionen, über den Bergen flammt es auf … Advent … wer oder was wird ankommen … wohin führt die Suche … das Fremde begleitet uns , wohin wir auch gehen. An was glauben wir … was ist Weihnachten noch , wenn wir alles Drumrum weglassen … die Botschaft ist nicht hörbar, sie kommt nicht an gegen den Lärm unserer Tage … ein leises Flüstern nur, sehr leise … das Geheimnis bewahrt sich vor neugierigen Blicken und es hält sich zurück, wenn wir meinen, es konsumieren zu können, wie alles übrige auch … es bleibt fremd, auch das Kind in der Krippe.

Es zeigt sich denen, die Mut haben und reinen Herzens sind, heißt es im Märchen … hier, in den Fichtenarmen geborgen, ahne ich, daß es Einsamkeit braucht, den Mut, ganz alleine mit sich zu sein und zu horchen … die alte Frage: was ist, wenn nichts mehr ist.

Ein lauter Schrei, wahrscheinlich ein Nachterl (Eule), das sich auf die Beute stürzt … ein leises Flirren in der Luft …

dieser Stern da über mir …  in meine ausgestreckten Hände fällt golden der Staub …

 

 

 

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag18

Die Fremden sind im Haus

(Ausschnitt)

1

November 2015

Als uns die Flüchtlingsfamilie das erste Mal begegnet, ist das Licht diffus, unten im Keller, wo die Anschlüsse für die Waschmaschinen sind. Die Verständigung ist nicht einfach. Am ehesten noch über die Kinder, die im Auffanglager schon etwas Deutsch gelernt haben und für die Eltern übersetzen. Der stillere größere Junge heißt Luan, der andere Adolf. Adolf…? Ja, Adolf. Der Vater macht einen viereckig-gedrungenen Eindruck und heißt Tarik, die Mutter Miranda. Sie hat überm Mund ein Muttermal, ähnlich dem der Gräfin, nur spiegelverkehrt angebracht und etwas kleiner, unscheinbarer.

Nun ist der Leberfleck über der Oberlippe so etwas wie das besondere Merkmal der Gräfin. Schon als kleines Mädchen war ihr jeder Mensch suspekt, der kein Muttermal im Gesicht trug. Im Sommerurlaub lief sie den Strand rauf und runter und malte jedem, der sich nicht wehrte, einen braunen Fleck ins Gesicht, mit Mutters Schminkstift.

“Die Leute sind doch sonst nicht vollständig!“ rief sie. „Das sind doch sonst keine richtigen Menschen!!”

Im Halbdunkel des Kellers muss die Gräfin mich auf diese seltene Ähnlichkeit erst hinweisen. Auch Miranda erkennt jetzt erst die Gemeinsamkeit. Aus lauter Freude beginnt sie zu lachen und fällt der Gräfin um den Hals, so als habe sie in der Fremde ein Stück Heimat gefunden. Auch ihr Mann lacht unbeholfen und die beiden Jungs lachen. Der schmächtige Adolf tanzt sogar auf einem Bein. Ein schöner Moment. Im Nachhinein fällt mir auf: einen schöneren Moment wird es zwischen der Familie und uns nie mehr geben.

*

„Man kann die Sache auch anders sehen“, sagt eine Nachbarin. Sie und ihr Mann stammen aus Kroatien und leben schon lange in Deutschland, sind in mancher Beziehung deutscher als wir Deutschen.

„Ich kenne die Mentalität der Leute vom Balkan“, sagt sie.

Gerade Albaner kommen ihrer Meinung nach nur hier her, um so viel Sozialgeld wie möglich abzugreifen und nach Hause zu schicken, damit die Großeltern daheim was zu fressen haben. Und wenn sie nach einem Jahr abgeschoben werden, nehmen sie die neue Waschmaschine, den neuen Kühlschrank und den E-Herd einfach mit.

„Was denn, im Flugzeug?“ frage ich verstört.

Die Nachbarin guckt mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Quatsch, sagt sie, war doch nur Spaß. Ach so. Mir geschieht es immer öfter, dass ich Ironie nicht verstehe. Vielleicht weil die Leute bei Reden keine Emojis verteilen. Letztens steh ich bei meinem Hausarzt an der Theke, kommt ein Bekannter rein, mit Fahrradhelm und Biker-Dress. Na, mit dem Rad unterwegs? frage ich blöd, und er antwortet nur: Nee, ich tu manchmal nur so, als würde ich Rad fahren. Damit gebe ich mich zufrieden. Ist eh ein komischer Vogel. Halbe Stunde später seh ich ihn draußen in die Pedale treten und ärgere mich, hey, was erzählt der denn da, der ist ja doch mit dem Rad da. Was erzählt der denn fürn Scheiß. Und da erst geht mir auf, dass seine Antwort beim Arzt ironisch gemeint war. Oh Mann, ich werde alt. Ich verstehe die Menschen nicht mehr.

*

„Nein, das sind keine guten Menschen, die Albaner“, sagt die Nachbarin aus Kroatien. „Die spielen euch Deutschen nur was vor, damit sie hierbleiben dürfen und Sozialhilfe kassieren können. Und ihr seid so blöd und glaubt denen alles.“

Na schön. Und was soll ich jetzt wem glauben? Sie, die Nachbarin, kommt ja ursprünglich auch vom Balkan. Spielt sie mir auch was vor? Mir als Deutschen, der das höchste Recht hat in diesem Land? Das Recht des Einheimischen?

*

„Die müllen uns zu mit Flüchtlingen!“ belausche ich auf dem Bürgersteig ein Gespräch unter Deutschen.

Als ich noch mal hinschaue, ist da ein einträchtiges Nicken.

*

Die Fremden kommen aus Kriegsgebieten in Syrien und Afghanistan, sie kommen aus dem Maghreb und vom Balkan, wo kein Krieg ist, nur die Zukunft düster. Und die Gegenwart. Und die meisten Flüchtlinge wollen nach Deutschland.

Hieß es noch bis Mitte der Neunzigerjahre „Deutschland, der kranke Mann Europas“, so heißt es keine zwanzig Jahre später: Deutschland, der Amerikaner Europas, Garant für Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben. Doch es ist ein kleines Amerika. Ein enges, ein ängstliches Amerika, ein Amerika ohne Mumm und ohne Raum. In Amerika stehen sich die Menschen vielleicht in Metropolen wie New York auf den Füßen, Deutschland dagegen ist überall eng – außer im Hunsrück, wie ich höre. Und in der Eifel. Und im Osten, aber da will niemand hin, nicht mal Flüchtlinge.

Für dieses Jahr rechnet man allein in Deutschland mit einer Million Flüchtlinge. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich bin ja nicht mehr zwanzig, wo man die Arme ausbreitet und jeden willkommen heißt, der einwandern will: Schlitzohren, Heißsporne, Hochstapler. Ganz normale Menschen. Mit fünfzig bin ich dafür, nur die Menschen aufzunehmen, die tatsächlich vor Krieg oder Verfolgung fliehen. Deutschland ist kein Land für 100 Millionen Menschen. Wo sollen all die neuen Häuser hin? Und was ist mit Arbeit für all die Leute, wenn es irgendwann mal nicht mehr so viele schlechtbezahlte Jobs gibt?

*

„Aber vom Balkan? Was sollen die hier?“ sag ich zur Gräfin. „Da ist doch kein Krieg am Balkan. Der ist doch lange vorbei.“

„Na, du bist gut. Angenommen, du siehst keine Perspektive in deiner Heimat und hörst von einem Land, wo Milch und Honig fließen, da würdest du auch hinwollen. Oder nicht.“

„Wo fließt denn hier Honig“, sag ich.

„Für jemanden, der aus der Armut kommt, fließt in Deutschland sehr wohl Milch und Honig“, sagt sie.

Ein bisschen bin ich ja von mir selbst empört. Dass ich so konservativ geworden bin. Ein muffiger alter Knochen, der Schiss hat um… um, ja um was eigentlich? Es ist mehr ein Gefühl, das ich habe, ein Gefühl des drohenden Verlustes von Freiheiten. Ich kann es nicht genau definieren, aber die Gräfin stimmt mir zu. Sie geht sogar einen Schritt weiter.

„Verlust von Freiheit, ja… wir sind wahrscheinlich die letzte Generation, die Zeit ihres Lebens in einer demokratischen Gesellschaft gelebt hat.“

Solche Sätze, die einen ein bisschen in der Luft hängen lassen, solche Sätze finde ich gut. Manchmal ist sie längst schon beim nächsten Thema, da denke ich noch darüber nach, was sie zuvor gesagt hat.

*

Fast zwei Jahre hatten wir das Haus für uns allein. Zwei goldene Jahre lang gab es keine Mitmieter, es gab keinen Lärm und keinen Ärger, beide Wohnungen über uns standen leer und warteten darauf, dass auch wir im Erdgeschoß ausziehen und das 1926 erbaute Haus endlich modernisiert werden konnte. Was hat die Genossenschaft uns alles versprochen. Sonderzahlungen, Sonderkündigungsrecht, man hat uns den roten Auszugsteppich ausgerollt, damit wir uns endlich vom Acker machen. Aber wir ließen uns Zeit, wir fanden kein passendes Ausweichquartier. Und plötzlich, mit dem Hochschnellen der Flüchtlingszahlen, kam die Kehrtwende. Innerhalb weniger Tage brachten Handwerker die beiden leerstehenden Wohnungen auf Vordermann. Parkettboden wurde geschliffen, ein Heidenlärm, der mich zwei Vormittage lang aus dem Haus trieb und zu langen Ausflügen mit Frau Moll nötigte, unserer 12jährigen Mischlingshündin, die gar keine Luft mehr hat, so lange herumzulaufen. Wände wurden geweißt, ein paar Möbel reingestellt, das war’s. Die Stadt hat beide Wohnungen kurzerhand gemietet, für fünf Jahre, wie man hört.

*

Zuerst zieht ein ruhiger großer Schwarzer ein. Im Dachgeschoss. Früh am Morgen steigt er so sachte die Stufen runter, als gingen ihm die Batterien aus. Oder als lade er gerade auf. Ein schüchterner Typ, vielleicht 18 Jahre alt. Pechschwarz.

Er wohnt in der alten Bude von Lester. Die stand sogar fast drei Jahre leer, nachdem Lester dort zwanzig Jahre lang gehaust hatte. Dann zog er aus und starb sang- und klanglos, nach einem Schlaganfall, abends vorm Fernseher, mit Anfang Fünfzig, in seiner neuen Bleibe. Ein Einzelgänger, der in einem Galvano-Betrieb als Vorarbeiter beschäftigt war und seinen Jahresurlaub jeden September in Andalusien verbrachte, der rauhen Landschaft wegen. Niemand sonst hat mir je mit solch stoischem Gleichmut Geld geliehen, mit einem brüderlichen Grinsen, wenn er die Brieftasche öffnete, die stets gut gefüllt war. Mit seiner üppigen Hippie-Krause, die fast unverändert die Jahrzehnte überstand, wirkte er aus der Zeit gefallen. Vielleicht ist das der Grund, warum es mir so schwerfällt, seinen Tod zu akzeptieren. Irgendwie ist er immer noch in Ferien, wenn ich an ihn denke.

Noch viele Wochen, nachdem er im Sommer 2012 ausgezogen war, meinten wir abends um sieben seinen federnden Schritt zu hören, wenn er sich zum Italiener in den Clemens Galerien aufmachte, um Espresso zu trinken und schwarzen Tabak zu rauchen. Punkt acht war er zurück, Abend für Abend für Abend. Man konnte die berühmte Uhr nach ihm stellen. Wenn Lester aus der Stadt heimkehrte, ging die Tagesschau los. Die man nicht unbedingt verfolgen musste, um zu wissen, was los war in der Welt. Solange Lester um acht nach Hause kam, war die Welt in Ordnung.

*

Hi. Sprichst du Deutsch?

Deutsch…? Ein bissche, sagt der Schwarze scheu. Wir stehen uns im Hausflur gegenüber.

English? setze ich nach.

Er nickt, wenn auch nicht sehr überzeugend.

Where do you come from?

Guinea, antwortet er leise.

Guinea?

Er nickt. Guinea… yes.

Gut. Und wo liegt Guinea, denk ich. Schwarzafrika? Sind die korrupt? Kriegen die Asyl?

What‘s your Name?

Lamy.

Ein hochgewachsener träger Bursche, der kaum den Mund aufkriegt. Was nicht weiter schlimm ist, so kann ich mich ganz auf diese grandiose Oberlippe konzentrieren. Welch ein mächtiges fleischfarbenes Ding. Manchmal steigt morgens ein zweiter Schwarzer die Treppe runter. Auch ein junges schwarzes Mädchen haben wir schon gesehen. Sie ist Lamys Schwester, sagt man. Es sind alles sehr freundliche und reservierte, etwas undurchsichtige Menschen.

I’m Andreas.

Er nickt verhalten.

Andy, präzisiere ich.

Ah. Ok.

Lamy erinnert mich daran, wie ich gewesen bin, mit achtzehn. Schüchtern war ich, jedenfalls Erwachsenen gegenüber. Vorsichtig. Schüchtern. Ein bisschen arrogant. Anders. Nicht so… verdammt…

Andreas.

*

„Sag mal, kriegen die Brüder auch die Hausordnung auf Afrikanisch?“ fragt mich ein älterer Nachbar, der ein paar Häuser weiter wohnt. Bei ihm weiß man nie so genau, wie er das meint, was er sagt. In diesem Fall aber bin ich mir ganz sicher: er meint es genauso.

Afrikanisch. Hausordnung.

*

„Orwell wird Recht behalten. Es wird in hundert Jahren keine Bücher mehr geben, nur noch das Internet, und das wird kontrolliert von einer Weltregierung, die den Bürgern nur das zugänglich macht, was ihnen in den Kram passt. Eine kleine Schar Aufrechter wird sich außerhalb des kontrollierten Mainstreams mit alten bröckelnden Büchern befassen, den letzten, die das große Feuer von 2085 überstanden haben.“

Die Gräfin

*

Tarik, der albanische Familienvater, ein kräftiger, untersetzter Mann Ende dreißig, beteuert in seinem nuschelnden Mix aus einigen Brocken Deutsch, Italienisch und viel Albanisch, dass wir uns keine Sorgen machen müssten, wir könnten überall im Haus Geld herumliegen lassen, aus seiner Familie würde niemand auch nur eine Kopeke stehlen.

Ja, sehr schön, lobe ich jovial, doch wir sind eh blank, sage ich und zeige Tarik meine leeren, nach außen gestülpten Hosentaschen. Was wiederum keinem Flüchtling aus Albanien zu vermitteln ist, dass man kein Geld auf der Tasche hat, als Deutscher. Das ist für einen Asylsuchenden nicht vorgesehen. Für einen Albaner, sagt die Gräfin, ist allein der deutsche Pass wie 6 Richtige im Lotto.

Dann sind wir ja alles Lottogewinner, sag ich zur Gräfin. Von Geburt an. Mit Zusatzzahl.

„Ja, wir sind Sahnekuchenkinder“, murmelt sie.

*

Lamy, den Jungen aus Guinea, bekommen wir kaum zu sehen. Meist steigt er spätabends so leise die Treppe hinauf, dass man sich fast an Lester erinnert fühlt, an die alten Zeiten. Dabei hätten es die beiden Zimmer unterm Dach verdient, dass Lesters Traurigkeit endlich aus den Wänden weicht, sagt die Gräfin. Dass endlich Fröhlichkeit Einzug hält da oben. Na, vielleicht tut sie das ja, entgegne ich. Vielleicht ist Lamy auf seine leise Art ein fröhlicher Mensch.

Mittags kehrt er mit drei gleichaltrigen schwarzen Freunden heim, unterm Arm Schaumgummirollen. Sie schlafen bei ihm. Immerhin – er scheint nicht allein zu sein in der Fremde. Er hat Freunde hier, und er hat seine Schwester. Und im Erdgeschoß wohnt dieses komische weiße Paar mit Hund, das zwar nicht viel sagt, aber relativ freundlich aus der Wäsche guckt.

*

Die Gräfin glaubt, dass die Gesellschaft auf Dauer von Zuwanderung profitieren wird. Sie steht mit dieser Meinung nicht allein, aber insgesamt ist die anfängliche Willkommensstimmung in der Bevölkerung schnell verflogen. Skepsis und offene Ablehnung nehmen zu. Und tatsächlich. Warum etwa so viele Familien vom Balkan rüberkommen, obwohl ihre Chancen auf Asylgewährung gleich null sind, will mir nicht in den Kopf.

„Das macht doch keinen Sinn“, sag ich.

Zumal ich höre, dass nur die Familien eine Wohnung außerhalb der Auffanglager beziehen dürfen, bei denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass ihr Asylantrag gewährt wird. Was also soll die albanische Familie in unserem Haus? Oder steckt mehr dahinter?

*

Eine Woche zuvor kam die vierköpfige Familie erstmals ins Haus, um sich die künftige Wohnung anzusehen. Die begleitende Sozialarbeiterin der Stadt, eine hochgewachsene Daunenjackenträgerin mit 160-Überstunden-alleine-in-September-und-Oktober, klingelte bei uns im Erdgeschoß und erkundigte sich höflich, wo denn bitteschön die Mansarde sei, die zusätzlich zur Wohnung im 1. Stock für die Familie angemietet worden sei. (Wobei gesagt werden muss, die Mansarde gehört stets zur Wohnung im ersten Stock.)

„Mansarde ist oben unterm Dach“, antwortete ich. (Wobei mein Blick verriet: so ist das mit Mansarden.)

Die Albaner hielten sich im Hintergrund, sagten kaum ein Wort. Sie kamen mir vor wie vier kleine Laternen, die kein Licht hatten.

„Wir nicht laut, wir nicht laut“, versichert der Vater später mehrere Mal. „Wir ruhig.“

Das trifft sich gut, denke ich. Hier unten bei uns schreibt einer und hier unten malt eine, wir sind insgesamt ein Haus der stillen Machenschaften. Wenn wir hier irgendetwas nicht gebrauchen können in der Hausgemeinschaft, dann Unruhe und Lärm. Kinder? Können lachen.

Deutsch spreche leider niemand in der Familie, so die Sozialarbeiterin, aber die Kinder gehen in die Schule, die lernen schnell. Können Sie sich ja mit denen unterhalten. Und der Vater soll nach seinen Angaben etwas Italienisch beherrschen, was aber bislang niemand verifizieren konnte.

Die beiden Jungs machen einen fixen Eindruck. Man merkt ihnen an, dass sie von den Eltern angehalten werden, höflich zu den Nachbarn zu sein. Vielleicht versprechen sie sich damit auch Pluspunkte beim finalen Aufnahmegespräch in der Ausländerbehörde. Damit wir hier unten im Erdgeschoß, falls ein Anruf vom Amt kommt, sagen können, ja, das sind nette Leute. Die können ruhig hierbleiben.

Also, ruhig.

*

Die Gräfin berichtet, dass Tarik, der Vater, sich wohl nicht sicher gewesen sei, ob sie, die Gräfin, Deutsche sei oder vielleicht Italienerin oder Griechin, mit ihrem langen dunklen Haar eine nicht ungewöhnliche Vermutung.

„Du Deutsch…??! Du Deutsch…??!“ fragt er atemlos, als ich der Sozialarbeiterin den Speicher und die Mansarde zeige und die beiden im Hausflur nebeneinanderstehen, und als die Gräfin bejaht, fährt ein Sturm der Erleichterung durch sein Gesicht. Vermutlich glaubt er seine Chancen auf Asylgewährung dadurch zu schmälern, würde seine Familie hauptsächlich unter Ausländern leben. Er sucht einheimischen Support. Dennoch sieht die Sache für die Familie nicht gut aus, würde ich sagen. Albanien gilt als sicherer Staat. Es ist keine Diktatur.

*

Als die Sozialarbeiterin tags drauf noch mal vorbeischaut, mit einem Handwerker im Schlepptau, der sich einen letzten Überblick verschafft, was im Haus noch zu tun ist, schnappe ich sie mir im Treppenhaus.

„Ich wundere mich, dass Sie hier eine Familie aus Albanien einquartieren“, sage ich. „Albaner haben doch kaum eine Chance auf Asyl, und wie ich gehört habe, sollen Wohnungen auf dem freien Markt nur an Menschen verteilt werden, die gute Chancen haben.“

„Richtig. Deshalb unterschreibt ja auch die Stadt den Mietvertrag“, sagt sie, „und nicht die Familie selbst. Eine syrische Familie, die zu 90 % sicher Asyl bekommt, darf selbständig Mietverträge unterschreiben, eine albanische nicht.“

Aha. Wir reden ein bisschen aneinander vorbei, glaube ich.

Als ich abends die Nachbarin aus Kroatien vor der Tür treffe, hat sich ihre Stimmung gegenüber den Albanern verschlechtert. Keine Ahnung, ob etwas vorgefallen ist oder ob die Kroatin nur schlechte Laune hat, jedenfalls meint sie zu mir, in einem fast schon konspirativen Ton: „Vor denen möchte ich am liebsten ausspucken..“

Spricht’s, und verschwindet in ihrem gemütlich warmen Heim.

*

Wer keine Spielsachen hat, nimmt einen Bogen DIN A4 Schreibpapier. Der ist schnell gefaltet, bekommt zwei Flügel und segelt im ersten Stock aus dem Schlafzimmerfenster in Richtung Vorgarten. Die Herbstböen bringen zusätzlich Schubkraft und Auftrieb.

„Guck mal. Der erste Papierflieger liegt auf dem Rasen“, ruft die Gräfin.

Da ist noch Saft auf den Kindern, sag ich.

*

Die Gräfin geht die Dinge psychologisch an, wie immer. Sie ist der Auffassung, dass die zunehmende Ablehnung gegenüber Flüchtlingen auch daran liegt, dass sich das deutsche Volk von seiner Kanzlerin, der Übermutter Merkel, verraten fühlt.

„Es scheint ja beinah, als habe sie fremde Kinder lieber als die eigenen. Sie ist unsere Mutter, denken die Deutschen, sie soll sich zunächst mal um uns kümmern, nicht um die Fremden. Wir wollen ihre Nummer 1 in der Rangfolge bleiben. Wir sind die Erstgeborenen, basta.“

*

Ein richtiger Macher, ein Mann, der anpackt, scheint Tarik nicht gerade zu sein. Seine Frau und er führen mich stolz durch die neue Wohnung. Die Wände geweißt, Parkettboden geschliffen, tipptopp die Bude, aber – weitgehend leer. Miranda präsentiert mir ratlos den Kühlschrank in der großen Wohnküche, der zwar fabrikneu ist, aber dennoch einen Fehler hat: er ist nicht ans Stromnetz angeschlossen. Ich drehe das Gerät von der Wand weg und schaue mir die Rückfront an, die offen ist. Nach kurzer Suche finde ich den eingerollten Stecker und ziehe ihn hervor, unter beifälligem Blick von Miranda, die gleichzeitig einen schnellen Du verdammter Loser-Blick in Richtung Ehemann abfeuert. Den lässt das kalt. Tarik beglückwünscht mich kurz zu meiner gelungenen Operation, und widmet sich dann wieder seiner Lieblingsbeschäftigung: dem Studium des Schlüsselbundes, der den Flüchtlingen ausgehändigt wurde und mit dem sie kaum etwas anfangen können, da die meisten Schlüssel keine erkennbare Funktion haben. Dafür fehlen aber der Briefkastenschlüssel und der Kellerschlüssel. Vielleicht hat man gedacht, komm, wir geben den armen Teufeln was zu klimpern an die Hand, damit sie vor Langeweile nicht auf falsche Gedanken kommen. Keine Ahnung, was Leute so denken, die Schlüsselbunde für Flüchtlinge befüllen.

*

Ein weiterer Nachbar mischt sich ein. Ein alter Sozi-Wähler, der sich mittlerweile Pegida nahe fühlt.

„Das sind doch nicht alles Rechtsradikale, nur weil sie Angst vor Überfremdung haben.“

Man sieht ihm an, dass er am liebsten Angst vor Juffen sagen würde statt vor Überfremdung, aber er weiß nicht, auf welcher Seite ich stehe. Bin ich für oder gegen Flüchtlinge? Sind es Juffen oder Fremde?

„Kann schon sein“, sag ich, „aber wenn ich mir die Demos ansehe und all den Lügenpresse-Scheiß höre… also, da könnte man schon auf die Idee kommen, die wollen alle die gute alte Nazi-Zeit wiederhaben, wo alle was aufs Maul kriegen, die was falsches sagen.“

Er blickt mich an und bleibt still. Hoffentlich habe ich nichts Falsches gesagt.

*

Schon nach einer Woche nervt die Zappelphilipp-Atmosphäre, die im Haus Einzug hält. Dieses ständige Gewusel, die Treppe rauf und runter, das Geschrei der Kinder. Klar, die Albaner haben viel Zeit, mit der sie nichts anfangen können. Arbeiten dürfen sie nicht, Deutsch lernen beschränkt sich auf zwei Mal die Woche eine Stunde, also sitzen sie den ganzen Tag daheim auf der Bude und machen einen seltsamen Radau, als würden Flipperkugeln übers Parkett schießen. Am schlimmsten ist es am Wochenende, wenn die Kinder keine Schule haben. Das scheint auch die Eltern so dermaßen zu stressen, dass sie sich hauptsächlich bellend durchs Haus bewegen.

Den Rest der Zeit versucht die Familie sich nützlich zu machen. Besonders Miranda. Bloß – wer will das schon? Mehr als zwei Jahre hatten wir das Haus für uns allein, was für das Treppenhaus vor allem eines bedeutete: Spinnweben, wo man auch hinschaute, Deckenlampen, die nicht funktionierten, Briefkästen, die weit offenstanden. Kurzum: saugemütlich. Bis Miranda kam. Die Rakete aus dem Großraum Tirana. Seither blinken selbst die Holme der Treppengeländer, als bewegten wir uns in den Kulissen des Raumschiffs Enterprise. Es ist so sauber im Haus, dass selbst die Brandmelder schon vier Mal angeschlagen haben. Sie sind die Ausdünstungen scharfer Putzmittel nicht gewohnt.

*

Tarik treffe ich vor der Haustür. Ich erkundige mich nach seinem Befinden.

„Alles klar?“

Er schaut mich verständnislos an.

„Klaa..?“

Ich strecke den Daumen in die Luft.

„Alles okay? Alles gut?“

Jetzt versteht er, worauf ich hinauswill. Er schüttelt langsam den Kopf, und zeigt auf mich. „Du.. du okay?“

„Na ja“, sag ich. „Ja.“

Er glaubt mir nicht recht.

„Mh..“, sagt er skeptisch und wiegt sich hin und her, wie ein Baby, das nach einer wohligen Position sucht, um über die nächsten Minuten zu kommen.

So gehen wir auseinander, für diesen Tag.

*

Samstag ist Badetag bei den Albanern. Früh am Morgen hört man aufgeregtes Juchzen im Bad, heißes Wasser wird eingelassen. Gelächter. Die Familie geht baden.

„Das erinnert mich an meine Kindheit“, leuchtet die Gräfin vor Freude, „nur dass bei uns Freitag Badetag war.“

Ihr Vater arbeitete bei RWE als Operator, wofür die kleine Gräfin sich irgendwie schämte. Sie konnte ihren Klassenkameradinnen nicht erklären, was das sein sollte, ein Operator, und wünschte sich, ihr Vater hätte einen Job gehabt wie die Väter anderer Kinder auch, Elektriker oder Kaufmann.

Sie wohnten in einem abgelegenen Häuschen, das RWE gehörte. Im Haus gab es kein WC, nur ein Plumpsklo im Garten, mit den riesigsten Spinnen an der Wand, die man sich vorstellen konnte. Trink- und Badewasser musste extra hochgepumpt werden, aus einem eigenen Brunnen. Ein kleines Paradies am Stadtrand von Düsseldorf. Eine Astrid Lindgren Kindheit, von der sie heute noch zehrt.

“Direkt hinterm Haus rauschte ein wilder Bach, der im Sommer Hochwasser führte. Schon ein einziger Sturzregen genügte, und ich war nicht mehr zu halten. Anlauf, Köpper – rein! Wie Tarzan! Der Bach war sauber und nicht kanalisiert, und überall lauerten Blutegel. Wenn ich aus dem Wasser stieg, waren die Beine voll davon. Sofort kam Mutter angelaufen und riss die Viecher runter. Das muss sein! rief sie, sonst lutschen die dich leer! Ich hab jedes Mal geschrien vor Schmerz. Aber sobald die Blutegel runter waren, hab ich mich ein bisschen ausgeruht, und dann gings wieder rein in die Fluten.”

“Aha. Du warst also Tarzan…? Nicht Jane?”

“Ich war alles. Ich war Tarzan und Jane, und Cheetah war ich auch. Schon als Kind war ich erst dann glücklich, wenn ich alles hatte.”

Als die Gräfin das Teenageralter erreichte, wurde der fehlende Komfort zum Ärgernis, besonders das Plumpsklo störte. Sie traute sich kaum, Schulfreundinnen heimzubringen, aus Angst, die Mädels könnten sich lustig machen über die Gerüche. Über die Riesenspinnen.

Über das Paradies.

*

Die beiden albanischen Jungs sind richtig aufgeblüht, seit sie hier wohnen, meint die Gräfin. Seit sie wieder wissen, wo sie hingehören. Raus aus dem überfüllten Heim. Überhaupt ist es irgendwie rührend, wie die Familie jeden Abend zu viert ins Schlafzimmer übersiedelt. Ab 21 Uhr herrscht völlige Stille über uns. Nicht mal die Klospülung ist nachts zu hören.

Die Flüchtlingsfamilie ruht.

Gastbeitrag: Andreas Glumm

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag16

Fremd, das, was ich noch nicht kenne, aber mir vertraut machen kann, das, was mir vertraut war und fremd geworden ist, fremd, wo im Augenblick kein Kontakt ist, der mal war, oder mal (wieder) sein kann, wenn ich nur beweglich bleibe in der Offenheit für das, was aus mir kommt und mir begegnet, im Außen, und ein furchtloses Herz mir bewahre.
Was ich noch nicht kenne: kann sein, dass ich es mit offenen Armen willkommen heiße und es kommt als Usurpator. Kann sein, dass ich fürchte, es kommt als Usurpator und ich baue Wehrtürme auf und Waffen zur Verteidigung. Kann sein, dass mich die jeweils falsche Erwartungshaltung selbst verletzt. Das Fremde als das, was ich nicht kenne und erst einmal (unvoreingenommen) betrachte, um es mir vielleicht vertraut zu machen oder mich abzuwenden, um mich anderem, was mir noch nicht bekannt ist, zuzuwenden, um es mir vertraut zu machen (oder mich vertraut machen zu lassen), solcherart wie auf Stufen dem Ruf meiner Seele zu folgen, der eigentlich ganz aus mir kommt.
Wo im Augenblick kein Kontakt ist: der mal war, weil da eine Entsprechung vorlag, die sich verändert hat, weil jeder seinen eigenen Weg gehen muss und manche Wege sich nur kurz kreuzen oder man eben ein Weilchen verweilt, gemeinsam am Lagerfeuer, und sich Geschichten erzählt, um sich die Welt der anderen in die eigene zu holen. So das Fremde sich vielleicht nur als Möglichkeit oder Mahnung oder Hinweis zur Dankbarkeit heranholt, weil man ja lernen kann von der Reibung mit dem Anderen, Unbekannten oder Gefürchteten.
Kenne ich mich selbst? Ist mein eigentliches … was auch immer … mir nicht oft das, was mir selbst ganz fremd ist, weil ich … Angst … womöglich vor mir selbst … nein, vor dem was ich eigentlich bin … sein soll … fremd ist …, habe? Ist das, was ich im Außen als Fremdes, Usurpatorisches fürchte, in Folge unreflektiert ablehne, mein eigenes Spiegelbild?
Alles kann fremd sein, aber eigentlich nur so lange, wie man das selber will, denn wir sind Bewohner derselben Welt, die in so viele unterschiedliche Zimmer eines Hauses geteilt zu sein scheint, aber wir wollen alle das Gleiche: Gesehen werden, geliebt werden, in Ruhe gelassen werden, Wohnen, Lieben, Kochen, Schlafen, Gedeihen, einfach Sein. Manchmal Tun und manchmal einfach nur Lassen. Einfach MenschSein. Einfache Übung?

Lächel.

Ja, lächle und liebe.

 

Gastbeitrag: Silvia Springer

 

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag14

In Ruhe bettet sich alle Fremdheit

Drei Wirkprinzipien. Das Herausfordernde. Das Neugierige. Das Festhaltende. Seit Jahrmillionen. Bedrohung ist, wenn Gewohntes in Veränderung gerät. Sagt das Festhaltende. Cocooning vermeidet Bewegung. Lässt Ruhe einkehren. Festsetzen. Status Quo erhalten. Neugier und Herausforderung greifen ins Nichts. Das Gewohnte auspolstern ist Komfort. So erspürt sich Nichtbewegung wohlgesinnt. Wer sich’s leisten kann. Wer Neugier und Ehrgeiz nicht mehr nötig hat, hält fest am Festhalten. Fremdheit ist Fragezeichen. Setzt in Bewegung. Affront. Ist das Aussen. Lässt den Komfort-Cocoon zum goldenen Gefängnis werden. Innerhalb wird die Welt klein und kleiner. Aber überschaubar. Bewegung kommt gänzlich zum Stillstand. Schmerzfreiheit durch ein Wattebett der Bequemlichkeit. Unendliche Bewegungslosigkeit, Stille. Dann Sterben der Sehnsüchte. Fremdheit ersetzt Gewohnheit und wird selbst zum neuen Statthalter. Bettet sich ein. Hofft auf das eigene Festsetzen. Neue Fremdheiten stehen bereits am Horizont und warten auf die Chance des Stillhaltens der alten Fremdheit. Wenn alle Fremdheit bewegungslos, ist Erfüllung. Ruhe. Ende. Für immer. So denkt das Festhaltende. So befürchtet das Neugierige. So ängstigt sich das Herausfordernde.

 

Gastbeitrag: Herr Graugans

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag13

Bekenntnisse einer glücklich Beheimateten.

Den Großteil meines Lebens hatte ich‘s ja nicht so mit der Fremde. Alles um mich herum reiste durch die Welt oder fuhr mindestens ausgiebig in Urlaub – und ich? Blieb hier!
Weil es mich nicht hinauszog in die Welt. Weil ich mich immer schon wohlfühlte dort, wo ich ja sowieso war. Hier, zuhause, in der Heimat, in Oberbayern, an den Seen, in den Bergen.

Meine Exkursionen in die Fremde beschränkten sich sehr lange auf Fahrten an die Nord- oder Ostsee oder ins benachbarte Österreich, was jetzt aber – aus süddeutscher Perspektive – nicht wirklich als fremd bezeichnet werden kann, denn man versteht die anderen ja, kann sich also verständigen, man kennt auch ihre Essgewohnheiten und die regionaltypischen Eigenheiten, kommt also problemlos über die Runden für die Dauer seines Aufenthalts. Echte Fremde, das ist anders, so viel war auch mir als Heimathockerin klar.

Nachdem die finanziell entbehrungsreiche Studentenzeit vorüber und ich im ersten richtigen Job (mit ebenfalls erstem richtigen Gehalt) gelandet war, begann auch ich, Urlaube zu machen, gelegentlich sogar Reisen zu unternehmen. Mein Radius erweiterte sich nun mit den Jahren und für meine Verhältnisse durchaus beachtlich: kleine Urlaube in der Schweiz, in Italien, in Griechenland, in Portugal – und einmal schaffte ich es sogar über den großen Teich, weil man ja meint, anlässlich einer Hochzeit etwas ganz Besonderes unternehmen zu müssen (dabei ist so eine Ehe ja eigentlich schon Grand Canyon und Monument Valley genug).
Dennoch: all das kein Vergleich zu all den anderen. Im Freundes- und Kollegenkreis begab man sich viel intensiver in die richtige Fremde und begab sich auf ausgiebige Exkursionen durch Nepal, Patagonien, Alaska, Madagaskar oder Neuseeland.

So überschritt ich schließlich die 40, ohne je nennenswert länger in der Fremde gewesen zu sein und konkrete Erfahrungen und Wissen über das Fremde, das Fremdsein oder Sich-fremd-Fühlen waren mir immer noch fremd.
Bis ich eines Tages ganz unerwartet von der großen Skandinavienliebe heimgesucht wurde, die dann auch keine unerfüllte bleiben sollte, weil sie so stark in mir brannte, dass ich ihr nachgehen musste.

Ich reiste. Wochenlang. Alleine. Und war erstmals länger in der Fremde und fühlte mich auch so: ziemlich fremd. Das Alleinreisen ist oft ein Unterwegssein jenseits der Komfortzone: denn es setzt einen aus. Dem fremden Land, den fremden Menschen, den fremden Sitten, der fremden Sprache.

Ganz auf sich gestellt ist man, fern der Heimat, alles Vertraute weit weg, bis auf den kleinen Hund, ja gottseidank, denn wer weiß: vielleicht wäre ich sonst vor die Hunde gegangen, so allein und ausgesetzt in der Fremde vor mich hin fremdelnd.

In den vielen Wochen, die ich in den letzten Jahren in Skandinavien verbrachte, habe ich dank der Differenzerfahrung zwei Begriffe zum ersten Mal wirklich gespürt und verstanden: Was mir Heimat ist und bedeutet, und wie sich das Fremde anfühlt. Und ein Stück weit sogar, wie man sich das Fremde ein wenig anheimaten kann, sich sozusagen versuchsweise in ihm beheimatet, indem man sich ihm anvertraut und es sich vertraut macht.

Gelingt einem das, dann löst es sich auch wieder ein bisserl auf, das ganze Gefremdel, denn fremd ist der Fremde ja nur in der Fremde, wie‘s schon der Karl Valentin so treffend zusammenzufassen wusste, und heimisch ist demnach der Einheimische eben auch nur in der Heimat. Was je nach Land, Regierung, Religion, Schicksal und etlichen anderen Umständen ein schreckliches Drama, eine schnöde Tatsache oder auch ein großer Segen sein kann – und ich weiß mich glücklich zu schätzen, dass ich zu den Segensreichen gehören darf.

Gastbeitrag: Kraulquappe

 

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag12

Wenn man einen Menschen mit optisch-vermutbarem Migrationshintergrund
fragt: „Wo kommst du denn her?“, dann scheint es in Deutschland seit
einiger Zeit Mode zu sein, auf diese Frage extrem genervt zu
reagieren. Die „Spiegel“-Kolumnistin Ferda Ataman hat daraus sogar ein
Buch gemacht: „Ich bin von hier. Hört auf zu fragen“.

Seit nun zwölf Jahren lebe ich, geborener Hamburger, in den USA. Man
sieht mir nicht an, dass ich nicht von hier bin, aber die
Einheimischen können das natürlich bereits nach wenigen Worten hören.
Auch nach zwölf Jahren wird man den Akzent nicht völlig los. Den
meinen allerdings können sie hier meist nicht einordnen. Dann fragen
sie nach: „Oh, you’re not from here, right? Where do you come from?“
Ich lasse sie dann gern raten. Manchmal werden die Niederlande
vermutet, manchmal England, manchmal Schweden oder Norwegen (da grüßt
dann wohl meine isländische Vorfahrin durch, obwohl ich heute nicht
mehr blond bin), Deutschland merkwürdigerweise selten.

Ich würde hier auf völliges Unverständnis treffen, wenn ich auf die
Frage nach meiner Herkunft wie Frau Adaman reagieren würde. Wenn ich
dann sage, woher ich komme — und ich mache nie ein Geheimnis daraus
–, dann graben fast alle Amerikaner sofort einen Verwandten aus ihrem
Gedächtnis, der in Ingolstadt oder Balingen geboren wurde, oder sie
selbst waren als GI in „Heidelbörg“. Norddeutschland ist weniger
bekannt.

Mehr als einmal bin ich schon im Supermarkt oder auf der Post aufgrund
meines Akzents angesprochen worden, einfach so. Die Amerikaner sind
völlig offen und neugierig in dieser Hinsicht. (Man merkt den
Unterschied sofort, wenn man dann mal wieder in Deutschland ist.) Es
ist mir bei solchen Gelegenheiten schon passiert, dass, als ich
Hamburg erwähnte, sie mir eine Geschichte erzählten: In einem Fall war
es — mit Foto aus der Brieftasche! — die Geschichte, wie die
Urgroßeltern, arme Bauern, mit dem Schiff in Ellis Island gelandet
sind, mit buchstäblich nichts außer ein paar Klamotten in einer
Reisetasche. Seitdem muss ich jedesmal, wenn ich die Freiheitsstatue
sehe, an dieses Foto denken. Im anderen Fall waren es die inzwischen
verstorbenen Großeltern, die in Bremen gerade noch das letzte Schiff
erwischt hatten, das noch zu bekommen war, bevor man sie in einen Zug
gesetzt hätte.

Auf diese Züge bin ich übrigens noch nie angesprochen worden. Trotz
der Menorah, die zu den gegebenen Anlässen unten in der Lobby dieses
Hauses steht. Nennen wir das mal: Willkommenskultur.

 

Gastbeitrag: Jan Reetze