Mit dem 1. Adventssonntag beginnt morgen hier zwischen Himmel und Erde das Projekt „24 T. – Der Weg.“ In diesem Jahr ist es eine Gemeinschaftsarbeit von Herrn Graugans und mir. Da Herr Graugans fotografisch immer in Serien arbeitet, liegt sein Teil des Projekts als abgeschlossene, in sich abgestimmte Bilderreihe vor. Ich erarbeite meine Texte aus dem Augenblick und werde Tag für Tag neben seinem Bilderweg hergehen und meine Spur verfolgen. Dies ist eine große Herausforderung, denn die Spur ist nicht immer gleich sichtbar, und nicht jede Fährte führt auf einen Weg. Ich ahne, daß ich durch manch unwegsames Gelände gehen muß, Schluchten durchqueren, durch Sümpfe waten, herabfallenden Steinen ausweichen und mich auf dunklen Pfaden verirren und verlieren werde. Ich werde es trotzdem wagen und mich morgen auf den Weg begeben, egal wohin er mich führt.
Vielen Dank, lieber Herr Graugans, daß Du Dich mit mir auf dieses Experiment eingelassen hast! Am Ende werden wir sehen, was daraus geworden ist!
Als ihm die Kerze trotz dicker Batzen Heißkleber auf den Händen ständig umgefallen ist, hat man sie ihm weggenommen. Die dünnen, langen Arme hält er starr nach vorne ausgestreckt, einer davon ist ein wenig länger als der andere. Seine leeren kleinen Kinderhände stecken in Fäustlingen, gegen die Kälte. Die Proportionen seiner Gestalt sind außergewöhnlich, ein kurzer Oberkörper geht über in ein langes Untergestell, er scheint extrem lange Beine zu haben, die sieht man aber nicht, denn alles wird verborgen von einem bodenlangen Gewand. Es ist weiß und hat ganz zarte, himmelblaue Tupfen, auf der einen Seite sind da auch noch viele große und bunte Sterne. Auf dem Rücken ist ihm ein Flügel herausgewachsen, so blau wie der Himmel an einem Sommertag. Seine sehr blonden leicht gewellten Haare trägt er als eine Art Pagenkopf, er hat sehr rote Backen und einen dunklen, etwas stechenden Blick.
Eins seiner Geheimnisse ist, daß man ihn nur von der Seite sieht, eigentlich von zwei Seiten, im Profil. Auf der einen Seite, der mit den Sternen, da scheint er ein wenig fröhlicher und redseliger zu sein, er hat den Mund offen, um was zu sagen …
Auf der anderen Seite schaut er so, als wäre er ziemlich genervt, die blonden Haare streng nach hinten gekämmt, und täte grad loslegen, um seine Meinung zu sagen, der Flügel ist aber auch auf dieser Seite himmelblau. Die Arme hat er entweder nach links oder nach rechts ausgestreckt, wohin er genau schaut, ist nicht feststellbar, denn er schielt ein wenig in alle Richtungen. Bei mir streckt er die Arme nach Osten, Richtung Salzburg also. Er ist zwar sonderbar, aber er scheint schon ein Engel zu sein … was wäre er sonst … ein Vogel hätte keinen so dicken Bauch, aber sicher zwei Flügel … und ein Mensch könnte zwar einen dicken Bauch haben, aber sicher keine Flügel, nicht mal einen, nicht wahr?
Die Katzen gehen nur mehr mit Abstand an ihm vorbei, seit er bei dem Versuch, sich an ihm zu reiben, zu wackeln begann und mit lautem Gepolter umgefallen ist.
In welcher Mission ist er hier gelandet, die Arme ausgestreckt, fluguntauglich und alleinstehend ohne Füsse mit einem offenen Mund, der nichts sagt?
„Unterste Charge“, wie H.M. Enzensberger seinem bösartigen Besucher einst andichtete, ist meiner sicher nicht, eines Tages war er einfach da und ist geblieben, wir pflegen keinerlei Konversation und sind uns zwar immer noch fremd, aber wir haben uns aneinander gewöhnt und seine Sterne leuchten so schön.
Schon ist der langersehnte Höhepunkt überschritten. Unglaubliche Freude über die ersten Kirschen, ein ganzes Jahr davon geträumt, den Mund zu voll, Klebriges tropft von den Lippen am Hals entlang und versickert im Rot der Bluse. Die Kerne ins Gras gespuckt, dann den kleinen weißen Wolken nachgesehen, wie sie durch das obszön blaue Himmelwasser davonsegeln. Nichts bleibt, aus Blüten werden Früchte und die fallen zu Boden. Der Sommer ist ein Gefühl von früher. Damals hat sich die Zeit ausgedehnt in die Unendlichkeit staubiger Langeweile. Jetzt ist es anders. Ich fahre mit dem Rad durch Wald und Hochsommer, auf der Straße flirrende Hitze, nirgendwo sind Kinder zu sehen. Uns war es früher oft sehr fad in den Großen Ferien und dann immer der gleiche Spruch: Papa, mir ist sooo langweilig! Und alle Erwachsenen gaben zur Antwort: Ach, hast Du es schön, ich wollte, mir wäre langweilig. Und wenn ich nicht gewußt habe, wohin mit mir, dann bin ich zu meiner Freundin geradelt und wir haben Musik gehört, einfach nur Musik aus dem Radio oder später von den Singles oder noch später von den mühsam zusammengesparten LPs. Aber da war dann schon eine neue Zeit angebrochen, der Ernst des Lebens, sozusagen, hat die Musik auf Nebenschauplätze verwiesen.
Heute sehne ich mich manchmal danach, einfach Dich oder Dich oder Dich anzurufen, wir treffen uns irgendwo daheim und dann sitzen wir am Boden neben dem Plattenspieler und hören unsere Lieblinge und lachen über manches Machwerk, das uns früher gefallen hat … natürlich „Nights In White Satin“ und was halt alles so jeder mitgebracht hat … und wir essen Erdnüsse und dazu gibt es Cola mit irgendwas drin und alles andere ist vergessen, es gibt nur noch Musik, Musik, Musik und plötzlich ist Morgengrauen und alle müssen heim und dann stehen wir mit glänzenden Augen an der Tür, noch einen Schluck Kaffee und dann fällt noch jemand diese ultimative, erste Schwermetallscheibe in seinem Leben ein, und dann müssen aber wirklich alle los…
Niemand macht sowas mehr … schade eigentlich, nicht wahr … es wäre so einfach, man müsste nur die alten Platten suchen und den Hörer in die Hand nehmen …
Kein großes Hoffest heuer zum Beginn meiner „Route 67“, kein Wilder Westen (naja, Südosten) am Fuß der Blauen Berge mit viel Lieblingsmusik von Willie Nelson und Konsorten, lassowerfenden Cowboys, versprengten Dakotas, Rauchzeichen und schwingenden Saloontüren … nein, dafür wochenlanges Sitzen am Krankenbett, in dem der Rancher mit „Bauchschuß“ liegt, Zeiten mit Hoffen und Bangen und Auseinandersetzen mit fragwürdigen Diagnosen, Meßwerten und Prognosen und einem entmenschlichten Krankenhaussystem. Vorsichtiges Durchschnaufen und den Sommer dahinziehen lassen, dankbar freuen über Musik und gute Worte in der Geburtstagsnacht, über Geschichten mit Menschen, immer sind es Menschen, die über alle Distanzen hinweg eine Hand ausstrecken und ihren Herzschlag hörbar machen.
Am Stubenfenster ist ein architektonisches Meisterwerk entstanden. Auf einer alten Kalebasse, seit Jahren zwischen Stange und Fenster zum Trocknen vergessen, wurde in wackeliger Schräglage ein Stil aus zerkauter Holzfaser geklebt, auf ihm ein Haus gebaut, vertikal, ohne schützende Hülle. Die Waben darin offen und frei. So machen sie das immer, die wilden gallischen Feldwespen. Eine der überwinterten Jungköniginnen beginnt, es kommen dann andere Frauen dazu, und in poligyner Gemeinschaftsarbeit bauen sie das Nest, nach Ende der Bauzeit wählen sie eine zur Königin, die anderen werden zu Arbeiterinnen und betreuen die Brut. Wenn es zu heiß ist, dann sitzen sie da und flattern kühlend mit den Flügeln, wenn es abkühlt, liegen alle ausgebreitet wärmend über den Waben. Ein sehr friedliches Volk, es werden schwere Tropfen Blütenwasser angeschleppt und Unmengen von kleineren Insekten. Alle wissen, was zu tun ist und wer welche Aufgabe hat, wie gebaut, gelebt, begattet wird, wer sterben muß und wer den Winter überleben wird. Alles geht seinen Gang, solange kein Mensch die absolute Harmonie zerstört.
Der Mond der reifenden Beeren, wie diese Zeit im indianischen Medizinrad genannt wird, geht seinem Ende zu und verwandelt sich langsam in den Mond der Ernte. Nichts bleibt stehen, alles ist immer in Bewegung, die Sterne kreisen um uns und wir um die Sterne. Kein Anfang, kein Ende, der Höhepunkt des Jahres ist überschritten, Kreisen im ewigen Tanz von Werden und Vergehen.
Wie alle mit Löwenfeuer Geborenen, habe auch ich als Lebensaufgabe, Freude in die Welt zu bringen und den inneren Glutstock gut zu pflegen, um Frierende zu wärmen. Aber wenn ich vergesse, rechtzeitig nachzuladen, dann ist auch bei mir der Akku leer.
Und dann dieses Lied, genau zum richtgen Zeitpunkt …
Am 24. Juli um halb zehn Uhr abends, vor unglaublichen 64 Jahren, ist mein Vater mit dem Motorrad heimgekommen und hat glücklich und aufgeregt ins alte Haus hineingerufen:
„a Dirndl hamma, jetzt mog i a Halbe!“
Am Tisch sitzen zwölf Leute im alten Getreidekasten, mit vielen Kerzen, denn es gibt dort keinen Strom. Alle sind gekommen, um mit mir in mein neues Lebensjahr hineinzufeiern. Wir teilen alles, den Braten, den Wein, das Bier und unsere Geschichten. Mit vielen verbindet mich jahrzehntelange Herzensfreundschaft. Es wird durcheinander geredet, laut palavert über Sorg und Leid aber auch über die ganzen „wisst Ihr noch, als wir damals…“ und was wir alles schon miteinander erlebt haben, wo wir schon überall auf Exkursion waren, weil ich wieder einer geheimnisvollen Geschichte auf der Spur war, die in Radlkeller statt Kulthügel endete. Und auch darüber, daß überall auf der Welt sich die Menschen gegenseitig totschießen. Und wir sitzen hier und uns laufen die Tränen runter, weil wir so viel lachen. Ja, es gibt immer diese Gleichzeitigkeit. Irgendwo wird immer geschossen und woanders gelacht.
Ich fühle mich so beschenkt, ich sehe diese freundlich lachenden frohen Gesichter und ich frage mich: Würden wir es erkennen, wenn einer von uns verlorenginge, depressiv würde und droht, abzustürzen…ja, ich bin sicher, wir würden uns suchen und da sein füreinander und uns halten.
Was für ein Glück, zu wissen, es sind Menschen da, auf die ich mich tausendprozentig verlassen kann.
Wir verändern die Welt nicht, wir sind nur wenige, aber wir halten zusammen und wenn ein paar neue dazukommen, wird der Kreis einfach erweitert. Wie selbstverständlich das junge afghanische Paar mit Baby dabeisitzt und mitlacht, wir sprechen nicht die gleiche Sprache und doch verstehen sich alle prächtig.
Augenblicke des Glücks. Irgendwann wird die Gitarre ausgepackt und die ersten Klänge jagen mir einen Freudenschauer über den Rücken. Heute darf ich mir aussuchen, was gesungen wird und wie oft und alle singen gutmütig mit, um mir eine Freude zu machen…unzählige Male mein Lieblingslied „an der Saale hellem Strande“, und nicht mehr zu zählen, wie oft wir „Wilde Gesellen, vom Sturmwind umweht singen, weil mir
„…uns geht die Sonne nicht unter“ so gut gefällt…
…alles, alles wird gesungen, alles darf ich mir wünschen, meine Güte , wie reich ich doch bin!
„Whatever you want“…bis hin zum „Schuld war nur der Bossa Nova“…zwischendurch wird geblödelt bis zum Abwinken, manche Töne liegen nicht mehr ganz exakt, aber wir singen mit Inbrunst und aus Freude…aus purer Lebensfreude.
Beim vierstimmigen, magischen „Alperer“ – Jodler bekommen wir nasse Augen.
Und dann ist Mitternacht und Irm singt das wundervolle Lied: „Mir gehts ähnlich“ und da ich nicht genug kriegen kann davon, singt sie es halt mehrere Male.
Schade, ich hab es nirgendwo gefunden, sollte es jemand haben, tät ich mich so freuen, wenn ich es hier erklingen lassen könnte! Ich hoffe ja, daß der wunderbare Herr Ärmel das liest und…
Na, was sag ich denn, hier isses schon! (Herr Ärmel,Sie haben was gut bei mir! )
Ja, und irgendwann gehen alle heim oder liegen auf dem Sofa in der Stube und ich sitze vor meinen Geschenken und fühle mich vom Glück umarmt. Ich bin so reich beschenkt mit Gutscheinen für Ausflüge an geheimnisvolle Orte, Zaubergeschichten, Rosen, ein Freund schenkt in wissender Vorausschau eine Schachtel Blues vom Feinsten, um mich für das neue Lebensjahr musikalisch gut zu versorgen und stark zu machen für alles, was so kommt…einer schickt mir einen Wunsch durch die Nacht, der mir Glanz in die Augen zaubert und ein Seelenverwandter sagt, daß jetzt die beste Zeit wäre, um so richtig neu durchzustarten…soviele gute Wünsche fliegen durch alle Welten, analog und digital,
als ich um fünf Uhr am Geburtstagsmorgen ins Bett falle, bin ich nur noch dankbar und trunken vor Glück und ich denk mir, wenn ich in diesem Moment stürbe, tät ich es als reichste Frau der Welt!
Morgen werde ich zum Vater Rhein fahren, freue mich so sehr darauf, an den Großen Fluß zu kommen.
Aber heute gehe ich noch zu meiner wilden Mama und lege ihr meinen Herzensdank und eine rote Rose auf ihr Grab. Denn sie hat mir das allergrößte Geschenk gemacht:
Für einen Augenblick möchte ich hier zwischen Himmel und Erde die gerade entstehende wundervolle Geschichte am Feuer unterbrechen, um eine Geschichte zu erwähnen, die gerade erst in Echtzeit geschah und zu einem sehr traurigen Ende kam.
Ich bedauere sehr, daß @lz, „Der versteckte Poet“ in so eine bedrängte Lage geraten ist , hier in diesem „Bloghausen“, wie wir das immer so nett nennen, daß er keinen anderen Weg mehr für sich sah, als seine komplette Internetexistenz zu löschen.
Daß Menschen sich gegenseitig in große Not bringen, wissen wir natürlich, das kommt ja täglich aus den Kriegsgebieten zu uns. Hier passiert es auch, hier im Netz, unter uns freundlichen BloggerInnen, vor unseren Augen, sozusagen, und es geht schneller, als wir denken.
Ich kenne nicht alle Einzelheiten und nicht die Argumente beider verfeindeter Lager, um mir ein Urteil erlauben zu können und ich will mich auch nicht einmischen, trotzdem
finde ich es empörend, daß es dazu kommen muß,
daß ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr hat, als alles, was er sich im virtuellen Raum geschaffen hat, auszulöschen, um Ruhe zu haben.
Ich bin sehr traurig über solche Geschichten und ich bin traurig über die Tatsache, daß einer der schönsten Blogs, eine feingeistige, freidenkende, freudeschenkende Oase der Kunst nicht mehr existiert. Ich vermisse den wunderbaren „Versteckten Poeten“ und möchte ihn bitten, wieder zu kommen, dennoch, trotzalledem…
Ich danke Dir tausend Mal, lieber versteckter Poet, für alles Wunderbare, was ich durch Dich an erweiterter Sicht über die Kunst erfahren durfte.
Ich grüß Dich herzlich
Deine Graugans, nicht mehr so aufgeregt schnatternd…denn was, zumindest hier im Virtuellen, gelöscht wurde, kann jederzeit woanders in Ruhe wieder aufgebaut werden!
Am Donnerstag, dem 24. September um 19.00 Uhr wird hier, im KunsTRaum der Graugans, zwischen Himmel und Erde, die Ausstellung
: Flüchtling
eröffnet und beinhaltet die Ergebnisse unserer heurigen, auf dem heimischen Marxenhof veranstalteten Sommerakademie. Für die Videopräsentation unserer Arbeiten wurde bewusst der virtuelle Raum gewählt, denn wir hoffen natürlich, daß wir in diesem offenen Raum möglichst viele BesucherInnen aus irdischen, sowie interstellaren Räumen, und auch Reisende aus ferneren Galaxien begrüssen dürfen!
Wir werden am 24. pünktlich um 19.00 Uhr an den Rechnern sitzen und ziemlich aufgeregt abwarten, ob sich wohl welche einfinden, die sich mit einem Klick oder einem Kommentar bemerkbar machen und damit an diesem Experiment teilnehmen wollen.
Also, bitte Termin vormerken und Fluggeräte bereitstellen, ich würd mich wirklich wahnsinnig freuen, wenn jemand vorbeischaut hier in diese luftige Verortung, zur virtuellen Vernissage und zum gemeinsamen Weben am Großen Netz…seid Alle herzlich gegrüßt und freudig erwartet!