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Gläserne Ringe.

Ich bin also jetzt offiziell alt, der Bayerische Ministerpräsident läßt ein Schreiben schicken, das pünktlich zu meinem 70. Geburtstag eintrifft, unterschrieben mit persönlichem Krakel und freundlichen Grüßen. Er läßt mir ausrichten, daß ich in sieben Jahrzehnten viel erlebt hätte und stolz sein könne, wenn ich auf das Erreichte zurückblicke und er läßt hoffen, daß – noch – viele weitere Jahre mit schönen Ereignissen und glücklichen Momenten zum Erfreuen wären. Dazu noch alles Gute, insbesondere Gesundheit! Die Raiffeisenbank schickt alles Gute, Glück und Zufriedenheit, die Hoffnung darauf, daß meine Wünsche in Erfüllung gehen und ich gesund bleiben solle und  – noch – viele weitere schöne und erlebnisreiche Jahre genießen. Der Bürgermeister wünscht  mit breiter Füllfeder und blauer, wahrscheinlich Pelikano-Tinte unter den Glückwunschvordruck  alles Gute für das neue Lebensjahr.

Auf dem Tisch liegen Zeitschriften über Vogelschutz, draußen vor der Terassentüre hüpfen ein paar Spatzen am Futterhäusl herum und ich sehe uns, die wir hier im Wartezimmer meiner Hausärztin sitzen, eine Handvoll trostlos blickender Gestalten, aus denen auch beim besten Willen keine Vögel werden, obwohl sie alle einen Schnabel tragen, mit dem sie verzweifelt und durchaus originell versuchen, zurechtzukommen. Von der Maske des laut schnaufenden und seufzenden alten Mannes neben mir hängen etliche lange Bänder, deren Funktion ihm nicht klar zu sein dürfte;  der Mann gegenüber schiebt den Schnabel unters Kinn, um besser Luft zu kriegen während einer Hustenattacke, eine Frau schiebt ihren schräg über das Gesicht, damit ein Nasenloch frei wird zum Schneuzen, einem anderen wird es zu heiß, er schiebt die Maske hoch und verwendet sie als Stirnband. Seine Frau, ein kleines, zerbrechlich wirkendes Geschöpf, lehnt sich vorsichtig an ihren Mann und versucht, ihre zittrige Hand in seine Hand zu schieben … er läßt es nicht zu, dreht sich weg, minimal, fast nicht zu erkennen, aber sie spürt es und zieht ihre Hand zurück. Der junge Bursche  im Eck trägt seine Maske so, wie es sein soll und ist ganz in sich und sein Handy versunken.

Vor der Wartezimmertüre versucht die Arzthelferin mit überirdischer Geduld einem Patienten klarzumachen, daß er von den Tabletten nur zwei nehmen müsse und da er ja heute schon eine genommen hätte, bräuchte er nur noch eine zu nehmen und zwar morgen. Ein schwieriges Unterfangen offenbar und sie braucht mehrere Anläufe, um diese komplexe Angelegenheit zu erklären …“ Nein, heute keine mehr, erst morgen … insgesamt zwei …  Gebrummel … und heute haben Sie ja schon eine genommen … Gebrummel … nein, nur eine … Gebrummel … nein nicht heute, morgen, eine Tablette, nur eine … Gebrummel … nein, nicht zwei auf einmal, eine haben Sie doch schon, nur eine noch, … Gebrummel … eine nur, Gebrummel, morgen, Gebrummel, die Frau Doktor sagt, Sie nehmen eh schon so viele Tabletten, morgen die eine reicht! Die Aussage der Frau Doktorin hat wohl endlich zur Beendigung der Maßnahme beigetragen und mit ein wenig Gebrummel im Hintergrund wird der Patient freundlich verabschiedet.
Das Ganze hat mich erinnert an die genialen Doppelconférencen „Der Gscheite und der Blöde“ von Farkas und Waldbrunn, bei dieser Art von Humor ist man in einem Zwischenbereich von Lachen und Weinen, alles verschiebt sich, man weiß nicht mehr genau, ob der Gscheite nicht eigentlich der Blöde ist  und umgekehrt und wenn einem die Tränen runterlaufen vor Lachen, weiß man nicht , ob es nicht auch zum Weinen ist und eine Tragödie, dieses Menschsein…
Die Praxis ist bestens organisiert und niemand muß lang warten, draußen fährt ein Auto vorbei mit offenem Fenster … „du bist vom selben Stern, ich kann deinen Herzschlag hörn, du bist vom selben Stern wie ich, wie ich wie ich …“ in den Augen der Frau schräg gegenüber sehe ich es leuchten, dann werd ich aufgerufen.

Neulich haben wir endlich den Listsee gefunden, im Bergland, etwas oberhalb von Bad Reichenhall, im Wald  unter den steilen Wänden der Felsen auf dem Kreuzungspunkt der Wege ins Gebirge und zur Burgruine. Es ist immer wieder rätselhaft, warum man manche Orte im gar nicht so weiten Heimatumkreis einfach jahrelang nicht findet. Ich liebe es,  Sagen und geheimnisvollen Geschichten zu folgen und die Orte zu suchen, an denen sie sich ereignet haben sollen. Diesmal war es der „Nöck“ (Wassermann), dessen stark verborgener Spur ich folge. Hier im Listsee, der sehr lange Zeit „der ungenannte See“ geheißen hat, soll mal einer gelebt haben. Aber die Geschichte beginnt eigentlich schon viel früher … in der Broncezeit war hier schon eine Art Kultort, das haben Ausgrabungen gezeigt. Aus den Sagen der Gegend geht hervor, daß bei der Entstehungsgeschichte des Sees die damals in Urzeiten hier noch ansäßigen Riesen mitgewirkt haben … einer von ihnen ist herumgehüpft an dieser Stelle und durch sein wildes Getanze hat er eine Kuhle in den Boden gestampft, in der sich das Wasser gesammelt hat, so ist der See entstanden. Er hat keinen Zufluß, sondern wird unterirdisch versorgt. Ein Wassermann hat im See gehaust, lange lange Zeiten, dann ist er verschwunden. Schwer zu glauben, daß sich ein mächtiger Wassermann von einem dummen Bauernburschen, einem richtigen Rotzlöffel, so ärgern hat lassen, daß er sich davongemacht hat. Der Bursche wurde tot aufgefunden, ertrunken im See. Bis dahin war der Nöck ein wertvoller Helfer, hat die Menschen gewarnt vor Unwettern und Überschwemmungen und war ihnen stets zu Diensten in ihrer kargen Welt und er hat ihnen aus so mancher Not geholfen.

Ein mächtiger Wassergeist, eine Gottheit, verehrt und hochgeachtet und den Menschen zugetan. Warum hauste er ausgerechnet in diesem kleinen See, der eigentlich eher ein Weiher ist? Grün ist er, sehr grün, nicht tief und voller Seegräser, die sich hin und herbewegen. Ich werde noch öfters hierher kommen. Es ist ein vollkommen unscheinbarer und unspektakulärer Ort, die meisten gehen vorüber, hinauf zu den Almen und den Felsen. Ein Ort, der mich an die „Höhlenkinder im heimlichen Grund“  erinnert. Ja, es ist einer  dieser geheimen Orte … denen man das nicht ansieht. Das Geheimnis zeigt sich nicht im Hinschauen, sondern im Hineinschauen. Wir tragen es in uns. Inwendig. Genauso, wie sich die Heiligkeit der Berge nicht automatisch erschließt durch das Hinaufsteigen sondern durch das von unten Hinaufschauen, dann schaut der Berg in uns hinein. Diese Logik ist rätselhaft wie manch alte Geschichte.

Ich sitze da und schaue ins Wasser, hinter mir  führt der Weg steil hinauf, man sieht ihn noch nicht, aber ich kann ihn spüren, den Berg, den Felsen, den Stein. Es ist sehr still am ehemals ungenannten See. Ein kleiner Fisch schwimmt immer wieder die gleiche Route. Auf der Wasserhaut tänzelt eine Libelle. Wassermann, wohin bist Du gegangen … könnte ich Dich finden, wenn ich die richtige Frage stelle? Worte von Rumi sagen sich in mir:

„Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.
Dort treffen wir uns.“

 

Auf der Seehaut bildet sich ein kleiner Kreis, so als ob ein Tropfen hineinfällt, es regnet aber nicht. Das Wasser kommt lautlos herauf aus dem Bauch der Erde  und überzieht den See mit Ringen, mit zarten, gläsernen Ringen.

 

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 1

Hin und wieder werde ich bei Wohnungsauflösungen geholt, ganz zum Schluß, wenn alles ausgeräumt ist und nur noch das übrig, was niemand haben will. Bevor es in die Container am Wertstoffhof wandert, schau ich es mir nochmal an … werfe einen letzten Blick auf dieses Häuflein Abfall, was von einem gelebten Leben übrig bleibt. Vor einiger Zeit war ich in der sehr gepflegten Wohnung einer 95 – jährigen Frau und kam mit einer großen Schachtel voller Ansichtskarten heim. Und jetzt, nachdem ich hunderte von diesen Karten monatelang  aufbewahrt habe, die Frage, was weiter mit ihnen geschehen soll.

Vor mir auf dem Boden ausgebreitet die Bilder von bereisten Orten und die Geschichten von geheimen Sehnsüchten, von unerfüllten Träumen, von glücklichen Erlebnissen, von gelebtem Leben … ich kannte die Frau nicht, wusste nur, daß sie alleinstehend war und erst, als ich ihren Namen erfahren hatte, wurde mir klar, daß sie viele der Ansichtskarten an sich selbst adressiert, aber nie abgeschickt hatte. Alle Karten sind leer, nur manchmal steht das Datum der Reise drauf, zart mit Bleistift geschrieben. Viele Reisen führten durch ganz Deutschland und Österreich, ein paar ins damalige Jugoslawien.

Gelebtes Leben, gelebte Geschichten, Spaziergänge vor dem Schloßbesuch und dem Nachmittagskaffee im Heidelberg der 50er Jahre … es flüstert und raunt aus den Karten und ich kann sie nicht wegwerfen, denn ihr Daseinszweck ist: sie müssen beschrieben und frankiert und zur Post gebracht werden, nur dafür sind sie da!

Und genau das möchte ich hiermit anbieten: Wer eine Karte haben möchte, soll mir bitte ihre/seine Adresse zukommen lassen per PN oder e-mail und dann schicke ich sie auf die Reise!

Das ganze Jahr wurde soviel gejammert, weil man nicht weit wegfahren kann, aber die wenigsten wissen genau, wie die Welt um sie herum in 10 km Luftlinie ausschaut! Auch mir passiert es immer wieder, daß ich mich verfahre und vollkommen überrascht bin von Orten, die ich noch nie gesehen habe … manchmal sind es nur ein paar km und alles ist vollkommen fremd. Und deshalb mache ich mich jetzt auf den Weg  und werde innerhalb der 10 km Grenze von meinem Heimatort aus die Welt erkunden und mich auf die Spur von Geschichten machen, alten, neuen, wahren und erfundenen und ihren Orten … eine Reise von drinnen nach draußen und wieder zurück … durch die Zeit des Advents.

Und sollte jemand Lust haben, auch zu erforschen, was ihm/ihr begegnet im Radius von 10 km, nur zu … wir werden vieles entdecken, von dem wir bisher nichts ahnten, glaubt mir!

Es ist finster geworden und es riecht nach Schnee, vor dem alten Haus brennt eine Kerze in der Laterne. Wie Feenstaub glitzert der Rauhreif am Rosenstock und in den Zweigen der Birke hängt Engelshaar … Ihr da draussen in unendlicher Weite des Alls, kommt gut durch diese Nacht und seid herzlich gegrüßt!

 

 

Ma Vie …

 

 

Auf der Wiese neben der Bundesstraße hat der Wanderzirkus sein schäbiges Zelt aufgebaut. Ein paar Kamele stehen im Nebel und schauen vor sich hin.

Sperriges Grünzeug vom Familiengrab schleppe ich durch den Friedhof zum Komposthaufen. Ich gehe durch die Gräberreihen, es ist dunkel, aber ich sehe im Augenwinkel, wie sie hereinkommen, sich an die Grabsteine lehnen, manche  hocken oben und  lassen ihre Beine baumeln, einer setzt sich auf die Laterne am Boden neben der weinenden Frau aus Stein …  viele sind da, ohne zu erscheinen. Wir lassen uns in Ruhe, die leisen Toten und ich.  Nebel schlängelt sich um meine Füsse.

Eine schwarzweiße Katze springt von einem Grabstein und schaut mich an … ach, meine Freundin mit den Jadeaugen, wie oft ich immer noch an Dich denke … so lange schon ist unsere Freundschaft vergangen, aber dieses Ziehen im Herzen ist geblieben, weit über den Tod hinaus… die Katze streicht an meinen Beinen entlang und läuft leise schnurrend neben mir her.

Im Autoradio singt Alain Barrière

Die Schlucht

Ein paar vereinzelte Schneeflocken segeln aus der dunkelgrauen Pferdedecke, die schwer am Himmel hängt.  An klaren Tagen kann man von hier aus auf die Salzburger Berge, den König Watze samt Frau und Kindern und womöglich bis weit ins Dachsteinmassiv hineinschauen. Alles ist mir bekannt und vertraut und doch bin ich fremd hier. Ich war schon bei den Pyramiden, aber noch nie hier an diesem Ort, 20 km von daheim. Dem großen, behäbigen Klotz von einem Hof, malerisch alleine auf der Hügelkuppe, hat man schon lang die filigranen Ursprünge herausgebaut. An der Hinterseite des Stalles scheint eine alte, windschiefe Mauer den Zeitläuften zu trotzen. Ein paar knorrige Nußbäume und ein vermooster Hollerbusch stehen davor, man stützt sich gegenseitig.

Es ist aufgeräumt und sonntäglich still, keine Menschenseele zu sehen. Das heisere Gebell des unsichtbaren Hundes klingt nach Einsamkeit und Kette.

Im Rand des dunklen Fichtenwaldes soll eine Pforte verborgen sein, durch die man zum Abstieg in eine tiefe Schlucht gelangt. Wir irren herum, es schneit jetzt heftiger und dann, es läuft mir ein Schaudern über den Rücken, sehen wir die Schlucht unter uns und es ist mir, als müsste ich eine unsichtbare Schwelle überschreiten.

Ein Forstweg mit den selten gewordenen Spuren eines holzschleifenden Ackergauls schlängelt sich neben dem tief eingegrabenen ausgetrockneten Bachbett hinunter. Uralte Sagen ranken sich um diese Gegend. Gleich auf der Anhöhe hinter dem Wald steht eine Kirche ganz alleine da, nur umgeben von ein paar Ringwällen. Die dazugehörige Burg hat die Zeiten nicht überdauert, das Geschlecht ist längst untergegangen und aus den Mauern wurden die umliegenden Gehöfte gebaut.

Nachweisliche Historie verliert sich in diversen Vergangenheiten. Geschichten sind übrig geblieben. Dunkle Geheimnisse um diese Schlucht, an deren Ende eine Felswand sein soll mit einem Gang zu einer Raubritterburg , verschlossen durch die eiserne Türe. Es ist die Rede von den Venedigern, gesteinskundigen kleinen Männern,  die „fühlig“ waren, d.h. sie konnten erkennen, wo Erze im Boden wuchsen … wir gehen den steilen Abhang hinunter auf einen alten Jahrmarktsplatz zu, auf dem heute hundertjährige Eschen stehen, wo früher die Karren der Schausteller und Händlerinnen ihre Ware feilboten und wo getanzt wurde; aber vor Mitternacht musste Ruhe sein, denn dann „ging es um“, dann trieb dort der Teufel mit wilder Horde sein Unwesen…

Die Schlucht zieht sich, es wird immer dunkler, der Wald ist mir nicht geheuer, in meinem Kopf sprechen sich die Geschichten,  um mich herum Nadelbäume in finsterer Monokultur … „was mache ich hier ?“- dieser Satz von Bruce Chatwin begleitet mich  … die Füsse versinken im angetauten Morast.

Kannst du nicht wenigstens ungefähr sagen, nach was wir eigentlich suchen, fragt mich der Fotograf und verschwindet im Unterholz. Nach was suche ich denn … nach diesem „heimlichen Grund“ der Höhlenkinder vielleicht, sage ich, nach diesem erregenden Gefühl von Fremde und Aufbruch und Angst und Wildnis und Abenteuer und was weiß ich, vielleicht auch nur Lust, einfach Lust und Hunger auf das Leben die sich meiner bemächtigten, und mich nie mehr ganz losließen, seit ich als junger Mensch diese Bücher las.  Ein paar Frauen mit langen wehenden Röcken überholen mich, zwei laufen weiter und eine setzt sich auf das abgebrochene Geländer des hölzernen Steges, der über den Bach führt. Biberfräulein heißen sie in den Geschichten, zu dritt und schwarzweiß sollen sie sein, meist taucht nur eine von ihnen auf und hilft zwar immer wieder den in Not geratenen, aber man hält sie für unberechenbar. Man meidet ihre Nähe, denn manch ein Versuch von jungen Burschen, mit ihr zu scherzen, endet tödlich. Sie gibt und nimmt, bindet und löst , beherrscht das Wandeln und Bannen, das Unsichtbarmachen und ein Blick von ihr läßt aus einem starken Mann einen liebeskranken, ergebenen Diener werden.

Die Frau neben mir auf dem Geländer schlenkert mit den nackten Füssen und singt leis vor sich hin, die Melodie kommt mir bekannt vor, … das Lied handelt von einem, dem das Herz so weh tut, wenn er ein spezielles Mädchen anschaut, das so schwarze Zöpfe hat und rote Wangen und weiße Haut … meine Großmutter hat es immer mit mir gesungen. Und ich lehne mich an das Geländer und singe das alte Lied mit dieser fremden Frau, dicke Schneeflocken verkleben die Augen, nur schemenhaft bemerke ich in meinem Augenwinkel ein graues Fellbündel. Ein Hund? Nein, eher ein Wolf, ich kann ihn nicht gut sehen, denn wenn ich genauer hinschaue, verschwindet er. Sag mal, in diesen vielen Geschichten da steht aber nichts davon, daß Dir ein Wolf folgt, oder?

Mit einem hellen Auflachen springt die Frau mit einem Satz vom Geländer, dreht sich zu mir, geht durch mich hindurch, läuft mit wehendem schwarzen Rock einen kleinen Pfad entlang und verschwindet in einer Felswand. Ich stehe da, und lausche dem leiser werdenden glockenhellen Lachen hinterher … wer ist sie … Fee oder Königin … Spuk, Traum … ihr Gesicht … sie hatte keins.

Ich fühle mich beobachtet. Du bist ja noch da, sage ich und sehe seine alten Augen in einem grauen Fell, und als ich dem Weg der Königin folge zur Felswand, da scheint er mich zu begleiten, ich spüre ihn mehr, als ich ihn sehen kann, merkwürdig vertraut … als wäre es schon immer so gewesen.

Dort angekommen an dieser Wand aus Nagelfluh suche ich die Türe, aber da ist nichts. Nur Stille, heimlicher Grund, wie eine Falte in Raum und Zeit, nur ein paar Schneeflocken und die Sterne umkreisen mich tonlos … was ist, wenn nichts mehr ist …

Alles.

Ist.

 

 

 

Der Himmel über Naumburg

Unsere Schritte hallen auf dem matt glänzenden Kopfsteinpflaster  durch das nächtliche mittelalterliche Städtchen. Gelblicher Lichtschein strömt aus den Straßenlaternen … oder sind es Fackeln? Eine Gruppe Jugendlicher kommt uns entgegen:  „Guten Abend!“ sagt jeder freundlich zu uns … was war das denn – ja, jetzt hab ich mich aber auch gewundert … wir bleiben stehen und lächeln uns an, dann werde ich nachhause gebracht zu meiner Pension, wie sich das gehört. Gute Nacht Bludgy, schön war es heute, ich freue mich auf morgen!

Ich gehe die Steintreppen hoch zur Ferienwohnung im vierten Stock eines alten Stadthauses, in die ich am Vortag eingezogen bin, um in den nächsten Tagen der Einladung eines Bloggers zu folgen. Wir sind uns im Schreiben vertraut geworden und möchten jetzt die Personen kennenlernen, die wir „in Wirklichkeit“ sind. Das ist eine höchst riskante Angelegenheit, denn wie ein Mensch sich schreibend darstellt, muß nicht unbedingt zur Realität, die er ausstrahlt,  passen.

Ich befrage die Zimmerwirtin, wo der vereinbarte Treffpunkt genau ist.  Muddi, sag mal, hamm wir da nicht am Kramerplatz so´n Ding, was da rumsteht, Germanschia soll das heissen? Naaa … bekomme ich in der hiesigen Sprachfärbung hilfsbereit mitgeteilt, da steht was! Naaa!

Treffpunkt zwölf Uhr, High Noon, brütende Hitze, verschwitzt und aufgeregt renne ich also zur „Germania“ und da steht einer und sieht mir schon entgegen, freundliche Augen, hell wie weit geöffnete Fenster, Servus, freu mich, ja, ich mich auch! Warmer Händedruck, wir lachen uns an, ein guter Anfang, jetzt kanns losgehen!

Und wir gehen los! Da der arme Riffmaster samt Frau Gemahlin mit Motorschaden auf der Autobahn bei Bayreuth liegenblieb (nicht der erste, der dort gestrandet ist…), bekomme ich alleine das Stadt- und Landführungsprogramm und erlebe eine Fülle von Eindrücken und werde so reich beschenkt, daß ich, die immer hungrig ist, es am letzten Abend nicht mehr in die Kneipe schaffe zu einem Abschiedsbier, weil mein enormer Sättigungsgrad an Geschichten aller Couleur, tiefen Gesprächen, unglaublich viel Gelächter und das Bergaufgehen zu den „Burgen stolz und kühn“  mich nur noch mit letzter Kraft in den vierten Stock raufkriechen läßt, um am Abreisetag quer im Bett in Schuhen und dem Programm des wunderbaren Orgelkonzerts in der Hand wieder aufzuwachen …

Eigentlich ist es doch komisch, daß ich vor meiner Abreise daheim sage, ich fahre in den Osten, wo ich doch selber aus dem Osten komme! Was redest du denn, wir leben doch nicht im Osten, sagt Herr Graugans. Ja wo denn dann? Wir leben im Süden, das hier ist der Süden! Das hier ist der südöstlichste Punkt der Republik, sage ich. Nur Süden, sagt Herr Graugans, der Osten ist ganz woanders. Aha.

In der Domstadt frage ich Bludgeon Löcher in den Bauch, daraus hervor quellen Antworten, die mich verwirren, begeistern, beschämen, verwundern, erfreuen, meinen Wissensdurst befriedigen und gleichzeitig so viele Fragen aufwerfen … ich liebe es, gefüllt mit Antworten aber gleichzeitig mit mindestens sovielen neuen Fragen von einer Reise heimzukehren.

Viel viel sprechen wir darüber, ob es denn immer noch diesen Unterschied zwischen Ost und West im gemeinsamen Land gibt. Diese angebliche Kluft, gibt es die denn jetzt auch zwischen uns, Bludgy, wir sind uns doch sympathisch, oder, wir haben uns so viel zu sagen und wir lachen über die gleichen Sachen, es trennen uns doch nicht soviele Jahre oder soviele Kilometer, wo ist denn diese Kluft? Du bist in der damaligen DDR aufgewachsen und ich in der damaligen BRD, ist es das … ?

Aber, was bedeutet denn das, ein „Ossi“ oder ein „Wessi“ zu sein, gibt es denn das überhaupt … sag mal, bin ich also auch eine „Wessi“?  Hmmmmm …naja …

Ich stelle ziemlich viel blöde Fragen, er nimmt es gelassen hin und beantwortet alles, aber auch alles, klug und freundlich und ich lerne und lerne zu erkennen, wie wenig ich doch weiß.

Da breitet einer vor mir sein Leben aus, fährt mich an die Schauplätze seiner Geschichten, ich sehe einen kleinen Buben in der Nische der roten Felswand auf die alte Bäuerin warten, die ihn zum Kindergarten bringt, gehe an seiner Schule vorbei, da, schau mal, das ist das Haus, in dem der Henker lebte, ein Geächteter … ein sonderbares Schild deutet darauf hin …  erfahre, wie die Stadt aussah vor der Wende, wir suchen das fleischfarbene Kruzifix im Dom, ich spüre verschiedene Strömungen, ja, das Gebäude hatte mehrere Baumeister,  Frösteln beim genaueren Blick in das traurige Gesicht der Uta, die den Mantelkragen hochschlägt vor ihrem Mann … der Löwenkopf zwischen ihnen … merkwürdig … ein wildes Eichhörnchen, im Hamsterrad gefangen…warum weht vom Turm der Burg eine ukrainische Fahne? Die Jüdengasse … hier war das Ghetto … um 1500 mussten die Juden die Stadt verlassen … meine Güte … das holt mich herunter aus den Wolken, in  denen ich im vierten Stock meine zu leben … wir fahren durch einen Wald, die Bäume wachsen so hoch hinauf und bilden ganz oben eine Art Kuppel, ein grüner Dom … und dazu klingt Genesis … bitte lauter … noch lauter … Waaaaahnsinn, soooo schön ist´s jetzt! Und auf der Lichtung ertönt Priesnitz, Du weißt schon, die Musik im Film „Alois Nebel“, da braucht man nichts mehr sagen, nur zuhören und sich freuen. Später ein Besuch im Rosengarten mit Besichtigung eines riesigen Kopfes im Boot.

Am Abend dann Wandelkonzert, auf zwei Kirchen aufgeteilt, in der Pause marschiert das Publikum samt Organisten von der Wenzel- in die Marienkirche. Es ist immer noch so heiß und ich bin müde, aber natürlich lasse ich mir von der unwiderstehlichen Toccata und Fuge d-Moll, BWV 565 mein Herz öffnen und meinen Geist frei schweben!

Vieles, was wir noch erlebten, in diesen paar Tagen, hat Bludgeon so liebenswürdig beschrieben auf seinem Blog.

Ein paar Rätsel sind geblieben und harren der weiteren Ergründung: der Unterschied zwischen Thüringer (Kartoffel) Klößen und den bayrischen (Semmel) Knödeln scheint einem Mysterium gleichzukommen, auch die Tatsache, daß Rhabarbersaftschorle in manchen Regionen unseres Landes die Gläser blindmacht und woanders nicht, und keineswegs zureichend erklärt ist die Frage, wo denn die Meerkatzen zur damaligen Zeit herkamen, um Schach zu spielen im Dom?

 

Vielen Dank für diese wunderschönen Tage in einem bezaubernd freundlichen Städtchen, ich bin so reich beschenkt worden und muß auf dem Weg zur Autobahn soviel schmunzeln über alles, was wir so erlebt haben, daß ich plötzlich durch den Blütengrund fahre … anscheinend soll ich noch eine Abschiedsrunde drehen, um erst dann Richtung München den bayrischen Bergen entgegen zu fliegen.

Bis bald, lieber Bludgeon!