Tatsächlich gibt es noch so was wie einen „Schauerroman“, der Aargauer Schriftsteller Virgilio Masciadri hat ihn geschrieben: “ Dämonen im Murimoos“ heißt er und ich habe mit größtem Vergnügen und ein wenig Gänsehaut leider schon über die Hälfte gelesen, sehr spannend, unheimlich, intelligent. Ein junger Aushilfslehrer kommt in ein kleines Gymnasium im Aargau und versucht, den Geheimnissen über das Ableben und Verschwinden etlicher Lehrkräfte auf die Spur zu kommen, dabei gerät er in persönliche Befindlichkeiten der ganz besonderen Art. Das Murimoos scheint dabei nicht von geringer Bedeutung zu sein.
Hier am untersten Rand der Republik, in den südöstlichen Provinzen, ist die Schweiz ja nicht so weit entfernt…nur die Alpen liegen dazwischen.
Komisch, Virgilio, ständig blitzt mir abends dieses Fenster entgegen, früher ist mir das nie aufgefallen. Mir ist ein bisschen, als hätte ich Dich gekannt, was ja nicht sein kann, nicht wahr, zwischen uns lagen schließlich die Alpen. Mir ist, als würde ich Dich vermissen, Virgilio, aber auch das kann nicht sein, wir kannten uns ja nicht. Ich trage seit Jahrzehnten einen Terminkalender mit mir herum, der, zum Hineinschreiben völlig unbrauchbar, aber zum Herauslesen lebensrettend ist. Du weißt, über manch einen Tag trägt uns nur die Poesie, nicht wahr?
Hier, am Nordrand der Alpen, staut sich gerade die Sehnsucht nach dem Süden, die sich vorher durchs Land bis zu uns heruntergewälzt hat. Auto für Auto wird unter dem Gebirge hindurchgezerrt, um dann irgendwo am Meer das Eigentliche zu erleben…das, wovon alle träumen…
Wovon wirst Du geträumt haben? Auf einem Foto sehe ich schwarze Augen, ein gescheites Gesicht… ich lese: Altphilologe, promoviert, Schriftsteller, Lektor, Freund, Regenschirmvertreiber… Du hast über mythologischen Themen geforscht, Deine Arbeit über Pan hätte mich interessiert.
Der Poet ist gegangen, sein Werk hat er dagelassen. In jedem Gedicht ist eine Pforte verborgen, allein der Wunsch öffnet die Tür… die Geschichte beginnt mit Antworten auf Fragen, die man nie gestellt hat.
Ciao, Virgilio!
Nachts
Ich möchte dass es nie mehr Sommer wird
dass der Regen nicht aufhört die Birken
ihr Grau behalten der Asphalt den
Scheinwerferglanz
vor dem Wind die Läden ver-
riegeln im Turm von den Balken es
lesen Was weiss ich? dann draussen wir
schwarzweiss
das Pflaster gehn durch einen
Film ohne Tonspur doch wenn du
aufsiehst im Kreuzungslicht
diese bläulichen
Kreise hinter den Wimpern und wie dir´s
in die Stirne fiele das Rot.
Virgilio Masciadri
(mein herzlicher Dank an die Poesie-Agenda des Orte Verlags für´s Ausleihen!
In der Abenddämmerung bin ich mit dem Rad unterwegs. Im nahen Dorf läßt der rotgoldene Ball der untergehenden Sonne ein Fenster neben dem Kirchturm plötzlich aufstrahlen. Ich bin schier geblendet vom flammenden Funkeln und es fällt mir ein liebgewonnenes Gedicht von Virgilio Masciadri ein. Immer wenn ich es las, dachte ich, wie schön es doch wäre, wenn ihm meine Fensterscheibe zugeblinzelt hätte, denn irgendwie lebe ich doch auch „am Hang gegenüber“…aber wie sollte das gehen, dazwischen sind die Alpen… ach, und wie auf den Aquarellen von Hesse schaut´s bei uns leider auch nicht aus… wo ist eigentlich „Casasco“?
Jetzt ist Virgilio tot. Vor ein paar Monaten ist er weggegangen… ja, das ist sehr traurig, aber auch ein Poet muß wohl irgendwann weiterwandern, durch Räume und Gezeiten, fremden Sternen entgegen.
Lieber Virgilio, mit dem Morgenstern kann ich leider nicht dienen, aber vielleicht kannst Du ja ein Bündel rotgoldener Strahlen der Abendsonne „empfangen“ als Dank für Deine wunderbaren Worte, die Du auf der Erde hinterlassen hast. Ich wünsche gute Reise, verehrter Dichter und grüß mir am Weg Casasco und…
Casasco
Frühmorgens funkelt im-
mer dieselbe
Fensterscheibe vom Hang gegen-
über in mein Zimmer ein
irdischer Morgenstern das
Dorf mit dem Kirch-
turm ist
wirklich es blinzelt mir zu und den
ganzen Tag fühle ich mich als
wäre
ich Hermann Hesse
Virgilio Masciadri
Herzlichen Dank an Irene Bosshart vom Orte-Verlag in der Schweiz, die mir erlaubte, dieses Gedicht hier zu veröffentlichen und deren wunderbare „Poesie-Agenda“ mich seit Jahrzehnten begleitet. Virgilio Masciadri hatte dieses in jeder Beziehung außergewöhnliche Poetische Notizbuch auch 2014 noch mit herausgegeben.