Archiv für den Monat: November 2017

Drachenherz

Ein flirrendes Rauschen in der Luft, eine Bewegung gegen den Strom, die Krone zittert, schert aus, Blätter rascheln, ein Ächzen, eher ein leises Stöhnen und dann fällt sie … die Krone fällt immer zuerst … und dann fällt auch er … der Stamm … dumpf das Ende … erbärmlich und dumpf der Aufprall am Boden … und dann ist es still.

Wenn ich am Hof vorbeigeradelt bin, hat sie mir oft zugerufen: „Wann kommst denn endlich mal wieder?“ Seit die Füsse sie nicht mehr trugen, saß sie auf ihrem Sessel vor dem Haus, den ganzen Tag und meist in der prallen Sonne, rauchte und hielt immer einen Groschenroman in der Hand, in dem sie von morgens bis abends las. Sie trug irgendeine Hose und eine Bluse, die wie ein Männerhemd aussah, in ihrem Gesicht die langen Jahre Bauernarbeit  in dunkles Leder eingegerbt. Die kurzen Haare so weiß, daß sie leuchteten, die blauen Augen blitzten spöttisch und immer lachte sie, wenn ich sie besuchte.  „Daß Du nur grad mal wieder da bist,“ sagte sie und dann schimpfte sie auf die alten Füsse und: „Mit mir ist es nichts mehr, Gret!“ Niemand nannte mich jemals so, ich hatte es gern, wenn sie „Gret“ zu mir sagte, es hörte sich immer so an, als hätte ich einen ganz besonderen Wert für sie. Jedes Mal erzählte sie mir von früher und ich sehe sie in der Erinnerung lachend in der Stube stehen, während wir Kinder durchs Haus tobten, wir durften alles bei ihr, es gab keinerlei Verbote. Sie erzählte vom Unglück, das den Ältesten, Vielgeliebten hinwegraffte, vom Tod meiner Mutter und von der Krankheit ihrer Tochter, die einmal meine Herzensfreundin war. Sie hat mich nie gefragt, woran diese Freundschaft zerbrochen ist und ich habe auch nie was gesagt.

In den letzten Jahren haben sie die Umstände ihrer Herkunft verfolgt und es lief ihr das Wasser aus den Augen und sie wurde weich und klagend, wenn sie erzählte … von ihrer Mutter, einer Magd, die sie an die Hebamme verschenkte, zur Aufzucht für die Arbeit am Hof. Kein einziges gutes Wort habe sie da bekommen, man hat sich nicht um sie gekümmert. Die Mutter wollte nie mehr was von ihr wissen und als sie sie besuchen wollte, da wurde sie von ihr verjagt.

Dann hat sie geheiratet, einen wortkargen Einödbauern, etwas sonderlich aber gutmütig. Der hauste mit seinen zänkischen Schwestern und schickte immer sie , wenn es was zum Schimpfen gab.

Und sie sagte zu mir: “ Weißt Du Gret, gefallen lassen hab ich mir nie was!“ Ja, das war bekannt, niemand wollte sich mit ihr anlegen, sie hatte ein freches und ungehobeltes Mundwerk, konnte fürchterlich fluchen und Zoten reissen, war vulgär und machte schlüpfrige Anspielungen. Sie war wild und ungezügelt und fuhr mit einer entfernteren Nachbarin, die auch einen sonderbaren Mann hatte, mit deren Goggomobil durch die Gegend auf alle Tanzveranstaltungen, die es nur gab und wenn keine Tanzpartner da waren, dann tanzten sie eben miteinander die Nächte durch.

Es hieß, sie sei mit ihrer Freundin „andersherum“ und ich habe mir als Kind oft den Kopf darüber zerbrochen, was das denn bedeuten könnte …

Sie hat ihre Schwiegertochter drangsaliert und sagte immer ihre Meinung, auch wenn sie niemand hören wollte und hat sich zeitlebens einen Dreck drum geschert, wenn die Leute von ihr sagten, sie sei eine böse Frau. Sie ließ sich die Wurzeln nicht ausreissen, stark wie ein Baum erzwang sie sich das Leben auf diesem Hof, auf dem sie geschuftet hat wie ein Ackergaul.

Wenn ich bei einbrechender Dunkelheit mit dem Rad vorbeifuhr, hat sie mir zugerufen: „Gret, wo treibst Du dich denn wieder herum, heut ist kein Herr Molicht (Licht vom Herrn Mond), traust dich denn so allein durch den finsteren Wald? “ Und dann hat sie mir zugewinkt und wir haben uns angelacht. 96 Jahre ist sie geworden.

Ich mochte sie.

Still ist es.