Archiv der Kategorie: Erinnertes

Der Wind…der Wind…

Sie versteht mich sofort, als ich sage, daß ich mal wieder verlorengegen bin, weil ich mich inwendig verlaufen habe. Wir pflegen keine Bekanntschaft, wir kennen uns nicht mal, unsere Welten sind sehr verschieden. Aber manchmal gibt es ein Synchronleben, wir scheinen dann nicht nur das gleiche, sondern dasselbe Gefühl zu empfinden. So, als teilten wir in diesem einen Moment eine einzige gemeinsame Seele. So stelle ich mir schon mein ganzes Leben lang diesen ersehnten eineiigen Zwilling vor. Manchmal scheinen sich unsere Umlaufbahnen zu kreuzen, dann sagen wir: merkst du es, es ist grad wieder passiert. Einmal sagt sie: weißt Du eigentlich, daß es schon Jahre so geht … magisch, gell? … ja, magisch … nein, nicht drüber reden, keinen Namen geben, das Geheimnis bewahren und dieses warme Glück tief im Herzen spüren…

Stürme kommen und gehen, lassen das alte Haus ächzen und zittern, treiben Schneemassen vor sich her oder diesen lauen Wind wie heute. Alles was nicht niet- und nagelfest ist, gerät in Bewegung und fliegt davon. Alles nimmt er mit, der warme Föhnwind, auch die Stunden und Tage des Lebens , plötzlich leuchtet grell wie ein Scheinwerfer eine deplazierte Sonne auf all das, was vom alten Jahr noch übriggeblieben ist an Sorgen, vergebliche Liebesmühen, Enttäuschungen, das geglückte Glück und das gescheiterte.  Und dann kommt die nächste Sturmböe und wirft all das in die Luft … alles, das Schwere und das Leichte. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“ … der allerliebste Zauberspruch meiner Kindheit, als ich ihn hinaufsage zu den rasenden Wolken, fliegt haarscharf an meinem Kopf vorbei die gußeiserne Bratpfanne, die vom Vater, dem Kunstschmied, mit einem Eisengestell und Blechdach zu einem Eßplatz für Vögel umfunktioniert wurde und an einem großen Haken am Nußbaumast hängt. Der Wind hat die Schraube aufgedreht, die alles zusammengehalten hat. Jetzt liegen die Teile verstreut um den Baum herum.

Die Eichkatzwohnungen hängen noch ganz oben, kunstfertig in die Geäste von Eberesche und Zwetschgenbaum verflochten, es werden immer mindestens zwei Nester gebaut, damit man bei Gefahr eine Ausweichwohnung hat.

Nach einer kleinen Pause am Nachmittag kommen die wilden Winde jetzt mit lautem Gebrause zurück und peitschen eiskalten Regen vor sich her. Sofort ist die Futterschüssel der Katzen voller Wasser, vorhin lag da noch eine herausgewürgte Maus, wurde wohl ein weiteres Mal verzehrt, bevor sie im Wasser aufweicht.

„Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben“

Ich schaue hinaus in die stockfinstere Nacht und ich denke an das Buch, das ich gerade lese:  „Die Ausgewanderten … vier lange Erzählungen“. Jahrelang konnte ich mich in den verschachtelten Sätzen und Geschichten von W.G. Sebald nicht zurechtfinden, jetzt werde ich immer süchtiger danach und ich ergebe mich dem Sog, der von seinen Worten ausgeht. Es ist nicht nur seine Sprache, die mit mikroskopartiger Genauigkeit ungeheuerlich weitläufig mäandernd um ein paar Menschenleben kreist, sondern deren geheimnisvolle, nie ganz geklärte Verbindung zur Person des Schriftstellers. Er scheint einer Verantwortung den längst Gestorbenen gegenüber nachzukommen, indem er auf ihre Schicksale einen letzten Blick wirft und ihnen die Achtung erweist, die sie sich verdient haben, bevor sie im ewigen Dunkel des Vergessens untergehen.

„… die widersprüchlichen Dimensionen unserer Sehnsucht …“

Von vier Menschen ist die Rede, die sich auf ihren Wegen vergangen haben und auf der Suche nach einer sinnvollen Existenz innerlich verunglückt und verloren gegangen sind. Das Schicksal mit allen seiner widrigen Machenschaften ließ für ein paar wenige Augenblicke ein Glück aufleuchten aber sie hatten keine Chance, dem letztendlichen Scheitern zu entgehen.

Merkwürdig, wie oft ich jetzt an einen denken muß, der vor vielen Jahren zusammen mit seiner Schwester in unserem Haus gelebt hat, weil beide uns nach dem Krieg „zugeteilt“ worden sind. Sie wurden verjagt aus ihrem Ort, aus ihrem ganzen Leben und dann waren sie gezwungen zu einer armseligen Existenz. In unserem kleinen Stüberl, beheizt von einem ständig rauchenden Ofen hausten sie dann, beide heimatlos geworden, seine Schwester und der Herr Ritz, wie sie ihn immer nannte. Den Herrn Ritz hatte ich als kleines Kind viel lieber als seine Schwester, die immer meine Locken bürsten wollte und mich dabei mit ihren Knieen in den Schraubstock nahm, ich versuchte deshalb  ihre Nähe zu vermeiden. Ich kann mich außer an diese Haarkämm-Prozedur an nichts mehr erinnern, weiß nicht, wie sie aussah, nur daß sie mir groß und mächtig erschien. Erst vor kurzem hatte ich ihren Ausweis in der Hand, da steht bei Körpergröße: 1,48 …

Der Herr Ritz ist mir in einer Erinnerung geblieben. Er hatte gutmütige Augen und saß immer in einem alten Lehnstuhl am Fenster mit einem Buch in der Hand und ich weiß noch ganz genau, wie liebevoll er mich anlächelte, wenn ich ihn im Stüberl besucht habe. Gesagt hat er wohl nichts, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, daß wir miteinander gesprochen hätten. Aber ich war gerne bei ihm, er trug immer einen Anzug mit Weste und Krawatte und hatte immer glänzend polierte Schuhe an. Er war ein leiser und feiner Herr und wir mochten uns, der Herr Ritz und ich.

Weil mich das Schicksal unserer „Flüchtlinge“ interessiert, gehe ich zur Gemeinde und frage nach, möchte wissen, wie der Herr Ritz mit Vornamen geheissen hat und wann sie zu uns kamen. Ich erzähle von diesem freundlichen alten und gebildeten Mann, während der Gemeindeangestellte in alten Büchern blättert und dann schaut er mich lächelnd an und fragt: Sag mal, wann bist du denn geboren … ich sage: 1952.

Aha, sagt er, aber der Herr Ritz ist 1949 gestorben.
Sein Name war Josef.

„Zerstöret das Letzte
Die Erinnerung nicht“

 

die Zitate stammen aus dem Buch: Die Ausgewanderten, von W.G.Sebald

 

 

 

 

 

 

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 15

Den Schulweg bin ich immer mit dem Mädchen vom Einödhof gegangen. Wir waren allerbeste Freundinnen, bis sie mir dann irgendwann vor meinen Augen eiskalt und berechnend meine erste große Liebe ausgespannt hat, völlig leidenschaftslos, nur um zu sehen, daß es möglich war. Dieser Verrat hat mich so geschmerzt, daß es mir noch heute einen Stich ins Herz gibt.

Unser Schulweg ging durch den Wald und danach kam eine große Kiesgrube, von der ständig weiße Lastwägen hin- und herfuhren. Ein Fahrer gefiel uns ziemlich gut, er hatte dunkle Locken und immer einen roten Pullover an, und es ging einzig und allein um die Frage, schaut ER her oder nicht! In der Kiesgrube gab es Schubraupen und Bagger und an einem davon stand meist ein Mann und pinkelte. Das war nichts so Aufregendes, daß es uns besonders interessiert hätte und führte nur zu einem Kichern und der Bemerkung: schau, da ist wieder dieser Piesler, der muß aber oft, und damit war die Sache erledigt.

Was uns viel mehr interessiert hat, war das Fahrrad, das auf der anderen Seite an dem Holzschuppen neben der Straße lehnte. Wir ahnten, daß es dem geheimnisvollen „Esbedemann“ gehörte, den man nie zu Gesicht bekam, nur sein Rad. Wir hätten gerne dieses Rätsel gelöst, trauten uns aber nicht zu nah an den Stadel heran, wer wusste schon, wozu dieser Unheimliche fähig war. Als das Rad mal nicht dort stand, spähten wir hinein … und alles war leer … schaudernd liefen wir weg.

Alles hat sich irgendwann aufgeklärt. Als ich mal daheim zum Vater gesagt habe, Du Papa, der Baggerführer in der Kiesgrube muß aber oft pinkeln, der steht immer da, wenn wir vorbeigehen, da ist er hingefahren und nach einem kurzen Gespräch musste der nicht mehr so oft …

Der „Esbedehmann“ war wohl der einzige im Dorf, der das Parteibuch der SPD hatte, damals eine erwähnenswerte Auffälligkeit. Er hat dannJahre später die Lieblingsschwester meines Vaters geheiratet, die ihren Mann und eins ihrer sechs Kinder verloren hatte. Er hat wohl eine Frau gebraucht, die ihn versorgte und meine Tante eine Heimat und so ist sie in sein Haus gezogen. Mein Vater ahnte, das sie in dieser Ehe nicht sehr glücklich geworden ist. Ja, sie war eine sehr fromme Frau, musste viel Leid ertragen, alle haben sie bedauert. Ich habe mal mitbekommen, daß sie nach der Kirche am Gottesacker ihrer Tochter so eine schallende Ohrfeige gab, weil diese während der Messe geschwätzt hatte, daß die rote Baskenmütze aufs Nachbargrab geflogen ist. Da wusste ich plötzlich, daß fromm sein und böse sein zusammengehören können und ab da habe ich ihr das Lächeln nicht mehr geglaubt.

Der Stadel ist längst verschwunden und ob es im Dorf inzwischen viele gibt, die in der SPD sind … wage ich zu bezweifeln.

Und der junge Mann, der damals so oft pinkeln musste, der ist ein höchst ehrbarer und angesehener Großunternehmer geworden, irgendwo, ziemlich weit weg.

Und wenn ich den Weg heute gehe, und ein weißer Lastwagen kommt, schau ich automatisch, ob ich einen mit braunen Locken und rotem Pullover am Lenkrad sehe.

Heimwärts

»Werdet Vorübergehende«  (Th. 42)

Früher, wenn es so mondhell war wie jetzt, dann konnte man nicht nur hören sondern auch sehen, wie er unten im Tal auf der nächtlich unbefahrenen Bundesstraße daherkam. Und auf der kleinen Brücke, da wo der Weg zu uns hinaufführt, da hat er sich kurz zum Rasten auf das Geländer gesetzt. Dann ist er weitergegangen immer Richtung Osten, heimzu. Eine spindeldürre Gestalt, einen Gehstecken in der Hand und auf dem Kopf einen Hut. Den hat er manches Mal übermütig  den Juchzern, die aus seiner Kehle zum Himmel flogen, hinterher geworfen. Es war so still damals in der Nacht, man hörte ihn schon von weither singen. Sein Repertoire bestand aus allem, was er in seinem bisherigen Leben gehört hatte, das Meiste „ein ziemlicher Schmarrn“, wie mein Vater es ausdrückte. Mit Inbrunst hat er das Kufsteinlied, den Schneewalzer und zum Leidwesen meines Papas das romantisierende „Alpenglühn“ gerne und oft gesungen.

Ich sitze auf der Hausbank, über mir der silbertropfende Mond, dem die wieder heruntergelassenen österreichischen Grenzbalken völlig wurscht sind, er ist einfach oben drüber geflogen, weil er das schon immer so gemacht hat und es auch in Zukunft so machen wird, ob mit oder ohne Viren. Es ist so unglaublich still, nur manchmal ein leises Flattern in den Bäumen, ein Nachterl(Käuzchen) ruft und die einzigen Flugobjekte sind ein paar kleine Fledermäuse, die blitzschnell und lautlos in den Tiefen der Nacht verschwinden.

Wie gern würd ich heute den Geislechner Miche wieder singen hören. Damals galt er als komischer Kauz, wer kam denn schon in der Nacht lauthals singend auf der Bundesstraße daher? Und am nächsten Tag sagten die Leute: hast es gehört, gestern war der Miche wieder unterwegs und: jamei, er ist halt nicht so ganz richtig im Kopf… von Zeit zu Zeit kam er durchs Tal, meist vor Feiertagen, so wie jetzt vor Ostern und man hörte seine Stimme, eine Art Tenor, aber so genau kann ich mich nicht erinnern, nur, daß er sehr laut gesungen hat in schwindelerregende Höhen hinauf und so grad noch am äußersten Rand der für die Lieder beabsichtigten Tonfolgen, manchmal auch ein bisserl, also haarscharf, daneben. Er hat die Liedfolgen abgesungen und dann fing er wieder von vorne an. Niemals wieder habe ich : „Schau das Alpenglühn überm Bergsee“ schmalziger und inniglicher singen gehört wie vom Miche … und auch wenn wir uns noch so anstrengten, würden uns die Jodler nie so herzergreifend aus der Brust springen wie die seinen und die Juchizer dazwischen.

Irgendwann hab ich ihn zum letzten Mal singen gehört und dann nie wieder. Irgendwann ist er zum letzten Mal an uns vorübergegangen, heimwärts …

Und irgendwann, es ist noch gar nicht so lange her, habe ich mit der alten Nachbarin geplaudert und sie hat mir erzählt, daß der Miche aus einem kleinen Häusl stammte, viele Kinder waren da, die taten sich schwer in der Schule und viel Geld hätte es sicher nicht gegeben. Der Miche hat in Adelhozen gearbeitet, da, wo das Heilwasser herkommt, das vor undenklicher Zeit der Hl. Primus als Quelle im Wald gefunden hat. Was er da gearbeitet hat, weiß man nicht und ob sie ihm viel Geld dafür bezahlt haben … aber wenn er am Wochenende mal frei hatte, ist er am Abend nach getaner Arbeit heimgegangen.  Das sind ungefähr 15 km, und da hat der Miche ganz laut singen müssen, weil er sich so arg gefürchtet hat im Finstern.

Ach, was gäb ich drum, wenn ich ihn hören tät heute … ich würd ihm zuwinken und mitsingen, ganz laut und das schmalzigste aller Lieder am Allerlautesten.

Das Lied ist für Dich, Geislechner Miche, Du kennst das Geheimnis:
wir sind alle Vorübergehende … heimwärts

 

 

 

 

 

Vom guten Bedenken

Mein Papa hat oft davon erzählt, wie sie als Kinder mit dem Schlitten vom Gang (Balkon) herunter gefahren sind, weil soviel Schnee da war. Der Mutter hatte das nicht gefallen, weil sie natürlich mit dem Schlitten und waschelnass unten durch die Tenne ins Haus hinein und oben zur Gangtür wieder hinausgesaust sind. Bei dieser Gelegenheit haben sie dann auch gleich den „Gendarm“ eingegraben. Der Gendarm war eine von ein paar Handpuppen für´s Kasperltheater, mit denen sie gern gespielt haben, aber der Gendarm war ihnen zuwider. Wenn er im Frühling unter dem Schneehaufen wieder zum Vorschein kam, dann wurde er so lange den Sommer über im Wassertrog ertränkt, bis er eines Tages verschwunden ist.

Das Haus meiner Väter schmiegt sich ganz elegant an den Nordhang des Tales. Es hat kleine Fenster, durch die man die Sonne vom Aufgang über den Bergen hinter Salzburg ums Haus wandern sieht, bis sie im Westen als roter Ball ihrem Untergang entgegensinkt. Den Sonnenuntergang sehen wir leider nicht mehr, seit der Nachbar vor sein altes Bauernhaus einen Klotz hingestellt hat, der alles überragt.

Das Haus meiner Väter ist über 250 Jahre alt und wurde so gebaut, daß es bisher aller Wetterunbill getrotzt hat. Der Dachstuhl ist immer noch gut in Ordnung, schwer und behäbig, aus Holz gebaut, das zum richtigen Zeitpunkt geschlagen und gelagert wurde und das Dach hat ausgehalten, auch in schweren Zeiten und unter großen Lasten. Die roten Schindeln waren irgendwann kaputt und der Vater hat in den Siebzigerjahren beim Neueindecken einen großen, folgereichen Fehler gemacht, er hat sich zu einem Eternitdach überreden lassen. Das war die günstigste Möglichkeit und von Giftstoffen hat auch noch niemand gesprochen damals. Jetzt sind die  Eternitplatten mehr oder weniger porös und deshalb darf auch niemand raufgehen zum Schneeräumen. Die ganze Dachangelegenheit , es handelt sich da immerhin um ein paar hundert qm, kostet mit allem Drum und Dran und Entsorgung des Eternits nach neuer Berechnung um die 100000,- Euro. Und es tritt der Fall ein, daß das Haus verkauft werden muß, um es zu retten. So schaut´s aus. Selbstverständlich steht es unter Denkmalschutz, aber es gibt so gut wie kein Geld mehr zum Renovieren, die Kassen sind angeblich leer.

Manchmal träum ich davon, daß es womöglich irgendwo einen Menschen gibt, der sein vieles Geld nicht auf die Bank tragen will, sondern für seine Kinder altes Kulturgut erhalten will, dort, wo es entstand und bewohnt wird und nicht als leere Kulisse im Bauernhausmuseum. Naja, gut geträumt, wir werden sehen, wie es weitergeht. Wenn wir verkaufen, dann nur auf Leibrente, denn wir wollen in diesem wunderbaren und ehrwürdigen Haus wohnen bleiben.

Der Winter ist lang noch nicht vorbei, aber wenn von einer derzeitigen leichten Entspannung im großen Chaos gesprochen werden kann, dann ganz sicher nicht nur deshalb, weil es jetzt paar Tage geregnet hat, sondern hauptsächlich, weil viele liebe Menschen warme Gedanken geschickt haben, die zwar das Dach nicht reparieren, aber alles alles leichter machen in der Not einer existentiellen Bedrohung. Habt meinen Herzensdank dafür, daß ich so manch einem von Euch in stets löwischer Dramatik mein Herz ausschütten durfte und Ihr auch meine dunkle Seite ertragen habt.

Der Winter ist wahrlich noch nicht vorbei, in den Landkreisen ringsherum herrscht immer noch der Katastrophenfall, es wird dringendst gewarnt, den Straßen in die Berge hinein fernzubleiben, überall gehen die Lawinen ab oder werden künstlich ausgelöst, es gibt Hubschraubereinsätze und Evakuierungen … und gleichzeitig wollen aber die Skigebiete auf ihre Kosten kommen und werben mit sicheren Pisten und es gibt natürlich trotzdem die Weltmeisterschaft im Bobfahren in Königsee und den ganzen Partyzauber drumherum … was für eine verrückte Welt, nicht wahr?

Ich täte am liebsten zur Nation sagen: „Bleibt halt einfach mal zuhause, meidet die oberbayrischen Straßen und geht weitläufig den Bergen aus dem Weg, denn die Bergwacht ist nicht nur dazu da, unter Einsatz ihres Lebens leichtsinnige Touristen unter Lawinen auszugraben … spielt was mit der Familie oder lest die Zeitung oder bleibt einfach mal sitzen und tut gar nichts!“

Das Element bleibt letztendlich fremd in seiner unglaublich schönen und unbezähmbaren Wildheit, deren Gesetze wir nicht mehr begreifen, weil wir uns als außerhalb der Natur verstehen. Wir sind aber Natur und alles folgt dem großen Ein- und Ausatmen …

ach ja … „a sigh is just a sigh“ …

Automassen wälzen sich von der ständig verstopften Autobahn über alle Bundesstraßen durch das Tal, Tag und Nacht. Seit April schwebt die Idee des Jahrhundertsommers über dem Land und erzeugt massiven Wohlfühl – Leistungsdruck. Ich stehe stundenlang im Stau und blicke in mißmutige, abgehetzte Gesichter, denen dort, wo sie herkommen das Glück weggelaufen ist und die wohl meinen, wenn sie ihm möglichst schnell hinterher rasen,  könnten sie es einholen … man bewegt sich einfach mal in Richtung Süden, und wenn man der Autobahn München – Salzburg folgt, dann wird schon irgendwann das Mittelmeer auftauchen, da wird es dann an die Strände gespült … das Glück … und mit ihm die Leichen von den Ertrunkenen, die  über´s Meer gekommen sind, auch sie getrieben von der irren Hoffnung, es könne ein wenig Glück für sie am Strand übrig sein. Alle paar Tage schwemmt es tote Babies an, wer kann das noch aushalten ohne schreiend durch die Gegend zu laufen.

Ich lebe in einem sehr schönen und sehr reichen Bundesland. Täglich wird in Bayern eine Fläche von ca. 14 Fußballfeldern zubetoniert mit Gewerbeparks, die kein Mensch braucht und mit unzähligen Einfamilienhäusern mit beheizten Doppelgaragen mit Blick auf die Berge. Den Kühen werden die Hörner weggebrannt, die saftiggrünen Wiesen sorgen mit fünfmal Mähen im Jahr für gleichbleibende Milchleistung, die unnütz ist und mies bezahlt.  Das Land ist reich an Industrie, florierendem Massentourismus, Schneekanonen , Alpenglühen, man pflegt sorgfältig die Klischees, trägt Dirndl, spricht charmantes südliches Hochdeutsch und fliegt im Winter auf die Seychellen. Nachbarshäuser haben Sprech- und Alarmanlagen, weil es  doch seit Jahren irgendwo paar Flüchtlinge gibt, die bedrohlich viel Geld kosten und von denen man nicht weiß, wo sie sich herumtreiben. Die Internetversorgung ist schlecht, deshalb verspricht der aktuelle Ministerpräsident, ganz viel Glasfaser nachschieben zu lassen. Im Herbst ist Wahl. Die einen behaupten, sie hätten zurecht Recht und fürchten sich davor, daß das Volk den anderen noch vielmehr Recht gibt, weil die noch viel mehr zurecht Recht haben. Deshalb strengen sich alle recht an und stellen ihre Kraft zur Schau. Das politische Schmierentheater spielt eine lang geprobte Posse, ein Lehrstück aus dem Inneren des patriarchalen Tempels: ein ausrangiertes Alphamännchen, das sich für Gottvater hält, neidet seinem Nachfolger dessen an sich gerissene Macht und rennt wie Rumpelstilzchen um die Chefgöttin herum, die es seiner Ansicht nach nur gibt, weil ER sie erschaffen hat, die aber undankbar viel zu wenig auf ihn hört und ihn auch noch Kraft ihres Amtes falsch eingeparkt hat … die Handlung ist zäh, irgendwann kapiert niemand mehr, um was es eigentlich geht und warum das alles so ein Drama sein soll, die Rollen sind nicht sehr glaubhaft, am ehesten noch die der Chefgöttin, die in all dem Tohuwabohu aufgeregter Männchen und deren Speichelleckern bewundernswert die Contenance bewahrt.

Und während das Volk gebannt auf die Bühne starrt, treiben die Toten auf dem Meer und ein Schiff voller Menschen darf nirgendwo einlaufen, denn wir wollen es denen jetzt mal richtig zeigen, wenn sie nicht daheim bleiben, da wo sie herkommen, dann sollen sie halt ersaufen, gell, liebe Regierung, so soll es sein, so sichert man die Grenzen unseres geliebten deutschen Vaterlandes. Meine Güte, wie ich mich schäme für all das,  ich verneige mich in großer Achtung vor dem Kapitän dieses Schiffes, der sich jetzt kriminalisiert vor Gericht befindet …

Endlich dieser warme Regen, er läßt die Last dieser Schwüle sanft zu Boden sinken.  Der Sommer ist eine Illusion, er hält nie, was er verspricht …  wenn er beginnt, hat er gleichzeitig schon seinen Höhepunkt überschritten und alles wird rückläufig … le petit mort … die Bezeichnung für den Liebesakt und die Sommersonnenwende … alles genauso flüchtig wie die Kirschen … kaum sind sie reif, geht alles ganz schnell, sie werden immer dunkler und süsser und noch süsser und schon sind sie eingetrocknet und es ist, als wären sie nie gewesen. Vier große alte Bäume voller Kirschen. Die Elstern hatten viel zu tun. Der Mond der reifenden Beeren wird sich bald zeigen und mit ihm wird mein Leben auf die Route 66 zusteuern.  Kaum haben wir in der längsten Nacht die roten Röcke fallenlassen und in wilder Nacktheit die Sonnenwende betanzt, kichernd die Gesichter geheimer Liebschaften im Wasser spiegeln gesehen und das Kräutlein, das unsichtbar macht gesucht … schon ist wieder alles vorbei und doch hat es soeben erst begonnen.

Selber alt geworden gehe ich herum im alten Haus, ich bin nicht alleine, viele Dagewesene  gehen mit mir, und ich freue mich auf die Kommenden, die bald die Räume mit Lachen und Plaudern füllen, viel ist noch vorzubereiten, aufzuräumen, um Platz zu schaffen. Ich finde einen großen Sack voller Zöpfe aus Flachs, Jahrzehnte lagern sie irgendwo, sind sie 50 oder 100 Jahre alt? Ihr Duft nach Stroh und Getreide steigt mir in die Nase und Bilder steigen in mir auf und überfluten mein Herz. Ich erinnere mich an Strohgarben, mit diesen ganz speziellen Stricken geschnürt, die am Ende so Holzklöppel hatten, blaue, rote, gelbe … ich rieche den Staub und den Sommer und den Schweiß meines Vaters, der sich sehr plagen mußte, um die Strohballen nach oben unters Dach zu werfen. Plötzlich spüre ich den Stoff seines Hemdes und seine kitzelnden Bartstoppeln, wenn er mich immer wieder hochhob, mich an sich drückte und mir ein großes „Zwickerbussi“ gab, weil er sein kleines Dirnderl einfach so liebhatte. Viele Spuren in die bäuerliche Vergangenheit führen durch Haus und Hof, viele Relikte künden von schwerer Arbeit , nehmen Platz weg, versperren den Weg und verstauben … und es gibt immer Menschen, die sagen: verkauft doch alles bei Ebay, das alte Zeug ist sehr gefragt oder werft doch den ganzen alten Krempel weg. Es gibt Dinge, wenn ich die in irgendeinen Container werfen täte, dann würde mein Herz mit hineinfallen.

Zur Bearbeitung von Flachs wurde in den Wintern in einem „Brechelbad“ gut eingeheizt, Wasser erhitzt und alten Geschichten nach gab es dann so eine Art Sauna und es wurde sich vergnügt und manch eine Lustbarkeit wurde ausgetauscht, diesen alten Geschichten zufolge, denn es wurde nicht nur Flachs, sondern auch Hanf gebrechelt … solange, bis die Kirche einschritt, dem Vergnügen ein Ende machte und die Kräuter- und liebeskundigen Frauen auf die Scheiterhaufen warf. Ganz in der Nähe unseres Hofes gibt es diesen Platz, wo das Brechelbad in ganz alten Zeiten stand, man erzählt sich, daß die Erde dort deshalb so schwarz ist, weil sie im Winter soviel einheizen mussten für das „Haar“! Wenn der Flachs von den hölzernen Stengeln befreit war, wurde er über solche Eisenraffeln gezogen, die noch bei uns herumhängen, er wurde gekämmt und hieß anschließend „Haar“.  Ich lasse die Zöpfe durch meine Hände gleiten und denke an die Königin im Märchen, die aus Flachs Gold spinnt  und an eine im Norden, die ich sehr mag , ich erinnere mich an ihren langen goldenen Zopf und an ihr Feenkleid … wie schön muß es sein, zusammen mit ein paar Frauen im Winter in der Stube zu sitzen und das Haar zu Fäden zu verspinnen und dann das rupfene Tuch daraus zu weben … begleitet von Lachen und Weinen und unzähligen Geschichten … die Zeit, wo kommt sie her, wo geht sie hin … geh ich neben ihr her, laufe ich ihr davon oder stecke ich sie in mein großes blaues Tuch, verknote die Zipfel und hänge es an meinen Wanderstab und gehe einfach weiter über Stock und Stein …

Wieviele Wege sich doch kreuzen in so einem Leben, denke ich, Menschen kamen auf mich zu, gingen an mir vorüber oder blieben ein wenig stehen, gaben mir die Hand, lehnten sich an, manche brausten mit Getöse in mein Herz vorne hinein und hinten wieder hinaus, manche ließen was da, manche nahmen alles wieder mit, manche blieben ein Weilchen, manche sorgten für Aufruhr und manchmal passiert es, daß sich jemand in meinem Herzen in einem Winkel zusammenrollt, ganz still ist, nichts tut und nichts verlangt, aber dann, wenn kalte Winde mich frösteln lassen, eine warme Decke hervorzaubert … ja, es wird nichts leichter, wenn man alt wird, der Körper verfällt zusehends und immer mehr erkenne ich, daß das Leben aus Abschiednehmen und Loslassen besteht, und ob das mit der Weisheit was wird bei mir ist bis jetzt nahezu ungeklärt, ich bin eine unverbesserliche alte Löwin, immer auf der Jagd nach Drachen, Sonne und Mond und dem Meer dazwischen und nach Musik, Worten und vor allem und immer wieder nach Menschen, von denen ich einfach nicht genug bekommen kann …  und ich bin immer hungrig, denn meistens hab ich auf halbem Wege Mitleid mit der Beute …

Und als jetzt mal ein lieber Freund einfach so sagte: „Du bist so wunderbar, hat Dir das eigentlich heute schon wer gesagt?“ … da hab ich mir gedacht: ich werde weiterhin Drachen jagen, schräge Musik hören und Menschen nerven mit unmöglichen Ideen … was kann mir denn schon passieren, solange es jemand gibt, der sowas sagt zu mir?

Und letztendlich ist es ja so: Herzensangelegenheiten kommen und gehen und manchmal bleiben sie.

 

 

 

 

 

Drachenherz

Ein flirrendes Rauschen in der Luft, eine Bewegung gegen den Strom, die Krone zittert, schert aus, Blätter rascheln, ein Ächzen, eher ein leises Stöhnen und dann fällt sie … die Krone fällt immer zuerst … und dann fällt auch er … der Stamm … dumpf das Ende … erbärmlich und dumpf der Aufprall am Boden … und dann ist es still.

Wenn ich am Hof vorbeigeradelt bin, hat sie mir oft zugerufen: „Wann kommst denn endlich mal wieder?“ Seit die Füsse sie nicht mehr trugen, saß sie auf ihrem Sessel vor dem Haus, den ganzen Tag und meist in der prallen Sonne, rauchte und hielt immer einen Groschenroman in der Hand, in dem sie von morgens bis abends las. Sie trug irgendeine Hose und eine Bluse, die wie ein Männerhemd aussah, in ihrem Gesicht die langen Jahre Bauernarbeit  in dunkles Leder eingegerbt. Die kurzen Haare so weiß, daß sie leuchteten, die blauen Augen blitzten spöttisch und immer lachte sie, wenn ich sie besuchte.  „Daß Du nur grad mal wieder da bist,“ sagte sie und dann schimpfte sie auf die alten Füsse und: „Mit mir ist es nichts mehr, Gret!“ Niemand nannte mich jemals so, ich hatte es gern, wenn sie „Gret“ zu mir sagte, es hörte sich immer so an, als hätte ich einen ganz besonderen Wert für sie. Jedes Mal erzählte sie mir von früher und ich sehe sie in der Erinnerung lachend in der Stube stehen, während wir Kinder durchs Haus tobten, wir durften alles bei ihr, es gab keinerlei Verbote. Sie erzählte vom Unglück, das den Ältesten, Vielgeliebten hinwegraffte, vom Tod meiner Mutter und von der Krankheit ihrer Tochter, die einmal meine Herzensfreundin war. Sie hat mich nie gefragt, woran diese Freundschaft zerbrochen ist und ich habe auch nie was gesagt.

In den letzten Jahren haben sie die Umstände ihrer Herkunft verfolgt und es lief ihr das Wasser aus den Augen und sie wurde weich und klagend, wenn sie erzählte … von ihrer Mutter, einer Magd, die sie an die Hebamme verschenkte, zur Aufzucht für die Arbeit am Hof. Kein einziges gutes Wort habe sie da bekommen, man hat sich nicht um sie gekümmert. Die Mutter wollte nie mehr was von ihr wissen und als sie sie besuchen wollte, da wurde sie von ihr verjagt.

Dann hat sie geheiratet, einen wortkargen Einödbauern, etwas sonderlich aber gutmütig. Der hauste mit seinen zänkischen Schwestern und schickte immer sie , wenn es was zum Schimpfen gab.

Und sie sagte zu mir: “ Weißt Du Gret, gefallen lassen hab ich mir nie was!“ Ja, das war bekannt, niemand wollte sich mit ihr anlegen, sie hatte ein freches und ungehobeltes Mundwerk, konnte fürchterlich fluchen und Zoten reissen, war vulgär und machte schlüpfrige Anspielungen. Sie war wild und ungezügelt und fuhr mit einer entfernteren Nachbarin, die auch einen sonderbaren Mann hatte, mit deren Goggomobil durch die Gegend auf alle Tanzveranstaltungen, die es nur gab und wenn keine Tanzpartner da waren, dann tanzten sie eben miteinander die Nächte durch.

Es hieß, sie sei mit ihrer Freundin „andersherum“ und ich habe mir als Kind oft den Kopf darüber zerbrochen, was das denn bedeuten könnte …

Sie hat ihre Schwiegertochter drangsaliert und sagte immer ihre Meinung, auch wenn sie niemand hören wollte und hat sich zeitlebens einen Dreck drum geschert, wenn die Leute von ihr sagten, sie sei eine böse Frau. Sie ließ sich die Wurzeln nicht ausreissen, stark wie ein Baum erzwang sie sich das Leben auf diesem Hof, auf dem sie geschuftet hat wie ein Ackergaul.

Wenn ich bei einbrechender Dunkelheit mit dem Rad vorbeifuhr, hat sie mir zugerufen: „Gret, wo treibst Du dich denn wieder herum, heut ist kein Herr Molicht (Licht vom Herrn Mond), traust dich denn so allein durch den finsteren Wald? “ Und dann hat sie mir zugewinkt und wir haben uns angelacht. 96 Jahre ist sie geworden.

Ich mochte sie.

Still ist es.

 

Von einer, die auszog…

Ein paar Tage bin ich nun wieder daheim. Auf dem Bauernhof, da, wo alles anfing. Ein „Gütel“ nennt man so ein Anwesen wie das unsrige, wenn es zum „Gut“ nicht reicht, wenn es zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel ist. Das Weideland konnte grade so zwei Kühe ernähren und von der wenigen Milch trotzte die Großmutter noch so oft es ging ein wenig Butter ab, die sie dann zwölf km mit dem Fahrrad in die Kreisstadt auf den Markt brachte, um ein paar Pfennige für den Haushalt zu bekommen. Sieben waren es, zwei Mädchen und fünf Buben, die sie hier geboren und großgezogen hat.

Der Älteste wollte den Hof nicht, er und die zwei Schwestern heirateten woanders ein.  Einer war krank und ging zugrunde und zwei blieben im Krieg, gefallen an irgendeiner Front. Der Jüngste, mein Vater, übernahm den Hof.

Der Zweitälteste, der ihn kriegen sollte, ließ eine Frau und einen kleinen Sohn zurück, als er den Heldentod starb, meinen Cousin, den ich endlich, nach so vielen Jahren am Rhein besuche.

Ich werde liebevoll willkommen geheissen, jeder Wunsch wird mir von den Augen abgelesen, ich bekomme ein ausgeklügeltes Besichtigungsprogramm serviert, ich stehe auf der Fähre über den großen Fluss, flaniere durch wunderschöne alte Städte, werde ins Elsaß kutschiert und stundenlang durch die Churpalz gefahren, durch hügeliges Weinbergland,  viel plaudernde Freundlichkeit ringsherum, ich werde als die Cousine aus Bayern herumgezeigt. Ich bekomme Einführungen über russische Raumgleiter im Museum und über Kernkraftwerke, zu denen man niemals Atomkraftwerk sagen darf.

Über mir im offenen Verdeck des Wagens ein Himmel, der mir höher und weiter erscheint als im  Voralpenland, P. freut sich und legt ihn mir zu Füssen.

Und in allen Besichtigungspausen, beim Essen und am Abend in der Wohnung reden wir über früher…eigentlich reden wir pausenlos über früher. Und als ich im Dom zu Speyer an eine romanische Säule gelehnt dastehe, denke ich, wie weit man doch manchmal herumfahren muß, um zu erkennen, daß die ganze Reise nach draußen nur das eine Ziel hat, innen anzukommen.

Merkwürdig, P. fährt mich mit großem Aufwand in seiner Heimat herum und zeigt mir alles, gleichzeitig reden wir aber über meine Heimat, die wohl auch mal seine war. Und, obwohl er ein glückliches Leben hatte, zieht sich durch alles Erinnern eine kleine Wehmut, ich spüre sie in allen Antworten, die er mir auf meine Fragen gibt, aber vor allem in den Antworten, nach denen ich gar nicht frage.

Er hätte den Hof geerbt, wenn sein Vater nicht verschwunden wäre. Diese Tatsache sitzt zwischen uns im Auto und ich ahne die Zeichen einer alten Verbindung zwischen uns, wir teilen den Schmerz von verlassenen Kindern. Ein Hauch von Glück , durch dunkle, traurige Geschichten unserer Abstammung zu gehen und uns im hier und jetzt über alle Ungereimtheiten hinweg die Hände zu reichen.

Wir sitzen im Auto und fahren durch unsere Erinnerungen.

Auf dem Michaelsberg erfahre ich von einer geheimnisvollen Geschichte über einen ehemals dort hausenden grausligen Drachen und ich freue mich so darüber, an diesem Ort gelandet zu sein, weil Drachen älter als die Welt sind und ich ihre Spur verfolge…P. versteht zwar nicht, was ich meine, aber plötzlich weiß ich, er würde mich beschützen vor allem Bösen. Und ich weiß, daß ich den großen Bruder, den ich mir so gewünscht hätte, ein Leben lang schon hatte, ohne es zu wissen. Ich sehe seine Hände an und sehe die Ähnlichkeit. Alle in unserer Familie haben diese eher großen Hände, warm und trocken. Arbeitshände, die zupacken können. Ich mag unsere Hände, auch meine, die ein wenig zu weich sind um ständig zuzupacken.

Und als wir zum Auto gehen auf dem Drachenpfad, da hätte sich beinahe die Hand der kleinen Schwester in die des großen Bruders geschoben.

Ich treffe dann auch noch den Stiefvater meines Cousins und irgendwann verabschieden wir uns, nicht ohne die feste Zusage, doch nochmal in die „alte Heimat“ zu fahren, ja, gerne , bei uns ist die Türe offen, wir sind auch in der Seele verwandt. Vollbepackt mit vielen Geschichten und noch mehr offenen Fragen, mit Umarmungen und guten Wünschen und ein paar Tränen im Augenwinkel mache ich mich auf den Weg.

Am Ende meiner Reise verfahre ich mich total im Gewirr unbekannter Straßen und stehe vor einer verschlossenen Pforte. Ein freundlicher Fremder bittet mich herein, führt mich in ein kleines verzaubertes Gärtchen und überläßt mich für ein paar Stunden  einem goldenen Nachmittag und meinen Gedanken, die durch mich hindurchziehen wie die weißen Wolken über mir am blauen Himmel.

Märchenhafte Geschichten von zwei Kindern und dem Verschwinden seines Vaters, ihrer Mutter…der gemeinsame Großvater, der die eine Mutter vertreibt und die andere anspuckt, der große Krieg, die weinende Großmutter…die Hand im Butterfass…und zwei , die alt geworden sind und sich liebhaben wie Brüderchen und Schwesterchen…

aus einem kurzen Schlummer erwacht sehe ich rings um mich herum wunderschöne Rosen, die sich duftend in einem Sommerlüftchen wiegen…

ja, es war eine schöne Reise, weit hinaus und doch hinein und wohin man auch fährt und was man auch sucht…ich glaube, letztendlich findet man immer nur sich selbst…

bedächtig nicken die Rosen ihre Zustimmung, ich danke dem freundlichen Fremden für das Glück in seinem Garten und dann fahre ich heim.

 

Canzun de Sontga Margriata

Drachen seien älter als die Welt, hat mal wer geschrieben, ja, das glaube ich sofort.
Auf der ganzen Welt gibt es Drachen. Auch hier, in Oberbayern, sollen sie vorkommen, dachte man wenigstens in alten Zeiten und erzählte sich Geschichten. An mehreren Orten soll es den „Tatzelwurm“ gegeben haben und wenn man mal den ganzen romantischen Monsterkitsch weglässt, der ihm aus Gründen der Touristenbegruselung angedichtet wurde, dann wird dahinter in Drachengestalt eine mächtige, Alte Kraft sichtbar. Über das Land ist ein dichtes Netz von Kirchen gespannt, die der Hl. Margarete geweiht sind, und die führte den Drachen an lockerer Leine. Die Hl. Margarete, eine der Drei Ewigen, mächtige Zauberin, Fee, Hüterin der Alten Wilden Kraft, die zwar gezähmt, aber an sehr lockerer Leine an ihrer Seite tänzelt, ja, Margarete, die mit dem Drachen tanzt! Kirchen wurden nur an Orten mit besonderen Kräften gebaut. Wie alles zusammenhängt: Linien der Kraft, heilige Orte, die Drachenspur…niemand kann heute mehr sagen, um was es da genau geht, das, was an Wissen über die Mysterien der Alten Kräfte übrigblieb, nachdem unzählige weise Frauen und Männer im Mittelalter verbrannt oder förmlich abgeschlachtet wurden, das haben die Winde der Gezeiten verweht.
Heute können wir nur noch behutsam die sogenannten Orte der Kraft aufsuchen und versuchen, zu spüren und zu horchen und uns nicht dem reisserischen Erlebnisdrang hingeben…denn wir finden nur uns selbst und wir bekommen das, was wir mitbringen…und doch…es gibt schon sehr besondere Orte, wo wir die Chance bekommen, ein wenig genauer zu spüren, was ist…es ist nicht zu erklären, was genau da passiert. Ich ahne es mehr als ich es weiß, ich muß der Spur der Margarete folgen, oder ist es die Spur des Drachens und ich weiß nicht einmal, wo es mich hinbringen wird…im Höchstfall zu mir, so hoffe ich.
„Erkenne dich selbst“, stand im Orakel von Delphi und soll die Antwort auf die Großen Mysterien sein.
Auf der Spur der Margarete bin ich zur uralten Geschichte der Sontga Margriata gestossen, in vorchristlicher Zeit soll sie auf einer Alm am Kunkelspass in der Schweiz gelebt haben und es gibt dieses geheimnisvolle Lied über sie in rätoromanischer Sprache…da arbeitet eine „Diale“ (räroroman. für ein feenartiges, nichtmenschliches weibl. Wesen), eine mächtige Zauberin verkleidet als Sennbursche auf einer Alm ganz hoch droben und weil sie nicht respektiert wird verschwindet sie…alles Glück geht mit ihr fort…

Leopoldine und Herr Ritz

Es wurde später nie über sie gesprochen, sie wurden „zugewiesen“, das heißt, jeder Haushalt musste welche nehmen, sie wohnten wohl ein paar Jahre bei uns, dann starben sie und wurden vergessen. Keine Spuren haben sie hinterlassen, ein paar wenige Fotos sind von ihnen übriggeblieben und eine Art Gesellenbrief, und ein Poesiealbum, sonst nichts, auch kein Grab, das wurde bald aufgelöst, als mein Vater nicht mehr bezahlen konnte. Aber ich weiß noch, wo das Grab war und ich stelle hin und wieder eine Kerze auf die leere Fläche im Friedhof, dort, wo sie begraben sind, unsere „Flüchtlinge“. Diese Ausdrucksweise ist mir unangenehm, ich empfinde es als demütigend, so von Menschen zu sprechen, die verjagt worden sind.

Leopoldine Ritz, und ihr Bruder, von dem nicht einmal der Vorname bekannt ist, weil sie immer „Herr Ritz“ zu ihm sagte, müssen kurz nach Kriegsende zu uns gekommen sein, sie wurden bei uns im „Stübel“ untergebracht, das ist in einem alten Bauernhaus wie dem unsrigen die Kammer gegenüber der Stube, wo sich das Leben abspielte, dazwischen liegt der Hausgang. Mittels einer sehr gewagten Ofenrohrkonstruktion und eines alten, rauchenden Ofens wurde das Stübel mehr schlecht als recht beheizbar gemacht, auch haben sie selber gekocht darauf. Mein Vater sagte, sie hätten schon recht armselig bei uns  gehaust. Ich kann mich nur noch sehr undeutlich erinnern daran, daß „die Poldi“ mir ziemlich unsanft die Haare kämmte, sie passte auf mich auf, fuhr mich mit dem Kinderwagen spazieren, aber das war schon Mitte der Fünfzigerjahre, der Herr Ritz war schon verstorben und als ich 1959 eingeschult wurde, da war die Poldi auch schon lange tot.

Wie haben sie damals nur alle miteinander gelebt? Meine Großeltern waren ja auch im Haus, ungefähr gleichaltrig wie die Geschwister Ritz. Der Herr Ritz hat wohl nie das Stübel verlassen, saß immer auf dem Sofa Jahr und Tag. Haben sie denn überhaupt miteinander gesprochen? Ich glaube nicht. Meine Mutter, die Hausherrin, von den Eltern meines Vaters weder erwünscht noch gemocht, sie war ja auch einFremdling, und geredet wurde eh nicht viel. Und dann noch diese Not, der kleine Hof hat nichts abgeworfen, es gab nie genug Holz zum Heizen, Großvater und Vater mussten zusätzlich arbeiten gehen und die Frauen mochten sich nicht sehr und schon gar keine Fremden wollte man im Haus. Mein Vater schimpfte auch, wie alle, über diese „Flüchtlingsweiber“, vor allem die bei unseren Nachbarn, die sich Gänse hielten, die sie mit Kartoffeln stopften um ihnen dann, wenn sie fett genug waren, mit angeblich stumpfen Messern weißgottwielang die Krägen durchzusäbeln, langsam und qualvoll. Meine Güte, ja, grausig, und keiner hat aber was unternommen, vielleicht hätte ja mal wer das Messer schleifen können. Naja, aber das war halt so „bei denen“. Ach, die waren auch nicht schlimmer als der reiche Wirt, der als Metzger zum Nachbarn kam und die Schweine ewig schrieen, bis er sie endlich abgestochen hatte, diese Schreie verfolgen mich ein Leben lang.

Untereinander hatten sie anscheinend keinen Kontakt, die Verjagten. Ein gemeinsames Schicksal macht noch lang keine Freundschaften.

Heute sitze ich manchmal im Stübel im alten Haus und schau mir das Foto an vom Herrn Ritz und frage mich heute, erst heute, selber eine Alte werdend, wie es ihm denn so ergangen sein muß, was hat er gelesen, wer war er denn, von ihm weiß ich gar nichts, schade, ich sehe das Bild eines gepflegten alten Herrn mit gescheiten und ein wenig traurigen Augen. Seine Schwester konnte wenigstens das Zimmer verlassen, aber er, was hat er gemacht, die langen Tage und Nächte, an einem Ort, wo er hingejagt wurde und nur gezwungenermaßen geduldet? Nichts weiß ich, nichts, gar nichts. Geboren und gelebt haben beide in Neutitschein. Ein verblichenes Poesiealbum existiert noch, keinen hat es interessiert, ob ich meine Kinderkritzeleien dort hinein schmierte, sie hatten andere Probleme wahrscheinlich, wir mussten irgendwie überleben.

Ich zünde eine Kerze an im Stübel, dort, wo der kleine Tisch stand und der armselig geflickte Teppich lag, auf den Herr Ritz die Füsse in den peinlich sauberpolierten Schuhen stellte, sitzend auf dem Sofa. Heimat. Fremde. Heimat.

Längst sind alle Spuren verweht, auch wir werden verwehen über kurz oder lang und doch hänge ich jetzt endlich die Bilder der Verjagten auf hier in diesem alten Haus, wo sonst.

Heimat. Fremde. Heimat.

 

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Schattenspiel

Das Buch „Unruhestifter“ von Fritz J. Raddatz jetzt ausgelesen.

Ein ganzes Leben vor mir ausgebreitet, begehbar wie ein Labyrinth aus Steinen, gelegt an irgendeinem Strand, der mir unbekannt ist, vielleicht auf Sylt, auf „seinem“ Sylt,  das Meer spür- und hörbar, der Wind fährt mir in die Haare, über mir und durch mich hindurch kreisen klagende Möwen, das große Wasser ist wie es immer ist, es rollt vorwärts und rückwärts und manchmal scheint es stillzustehen.

Und so betrete ich das Labyrinth, von dem es heißt: „Auf die Mitte weise den Umherirrenden hin“! Ich begegne den Großen der Literatur, erlebe das, was auch meine Existenz maßgeblich beeinflusst: die Liebe zum geschriebenen Wort. Verirre mich in Ränkeschmieden, Konkurrenzgebaren, politischen Verstrickungen, einer geht mit auf diesem Weg, ein Schatten unter Schatten, brillianter Literat, voller Leidenschaft an der Rede, schnell, schnell, wir rasen, nach allen Seiten befreundet, nach allen Seiten verfeindet, zu tiefer Liebe fähig und doch überall Unruhe stiftend, große Erfolge, vielen Hilfe gebend und mit Häme überschüttet…weiter, weiter, rasend schnell…fast schon hinein in die Erlösung versprechende Mitte, da müssen wir nochmal ganz hinaus an den Rand, ein paar mal wieder von Vorne beginnen, so sieht es aus…wieder weiter und weiter durch tiefe Freundschaften, Gespräche, in die einer sein ganzes Sein werfen kann, in denen es Antworten gibt obwohl im Kopf sich noch gar keine Fragen herausgebildet hatten…Zeit, viel Zeit für Freundschaften inmitten von permanenter Zeitlosigkeit, in der Lebenshetze Inseln, Schlösser der Glückseligkeiten, wunderbare Abendessen, wunderbare Gespräche immer wieder. Ich traue mich nicht, nachzusinnen, wie lange es wohl her ist, daß sich wer für meine innersten Gefühle, meine Gedanken zum Lauf der Welt, wann mich überhaupt mal wer fragt, was ich über irgendwas denke…aus reinstem Interesse und mit der verfügbaren Zeit, abwarten zu können, bis ich es ausformuliert habe und – den Ball auch zurückzuwerfen? Nein, nicht nachdenken, weitergehen durch fremde Freundschaften, große Karriere im Literaturbetrieb, Begegnungen mit Augstein, Grass, Ledig-Rowolt, Tucholsky usw. usw. viel lesen, viel schreiben, viel sprechen –  mit dem vorauseilenden Schatten…

Endlich – die Mitte! Dort , in den Sand gekratzt ein Satz von Fernando Pessoa, er nennt sich ein „Buchwesen“ und sagt vom „gelesenen Leben“:

„Was ich fühle, wird, ohne daß ich das wollte, gefühlt, damit aufgeschrieben werden kann, daß es gefühlt worden ist. Was ich denke, steht sogleich in Worten da, untermischt mit Bildern, die es zerstören, ausgebreitet in Rhythmen, die etwas anderes sind. Über der Mühsal, mich selber wieder zusammenzusetzen, habe ich mich zerstört.“

Was kann nach der Mitte noch kommen? Der Weg geht da wieder hinaus, wo wir hereingekommen sind. Sind wir durch ein Buch gegangen oder durch ein Leben? Tagebücher hat er noch hinterlassen, erst als diese Arbeit beendet war, sagte er öffentlich, sein Leben sei jetzt „ausgeschritten“, das haben doch alle gehört, wo waren die Freunde, die Lieben seines Lebens, warum zog ihn denn niemand vom Abgrund weg, so wie er es unzählige Male bei anderen gemacht hat? Wie wenig wissen wir voneinander, wie wenig können wir tun, um einen davor zu bewahren, daß er in die Schweiz fahren muß, um dort den Schierlingsbecher zu trinken? Wie wenig. Ich meine, schon in diesen Erinnerungen, die er ja vor über zehn Jahren schrieb, zwischen den Zeilen eine Traurigkeit zu spüren, so wie ein kühler Hauch an einem lauen Abend…ein wenig hat es mich da und dort gefröstelt in der Schilderung dieses übervollen Lebens…

Das Labyrinth ist wieder geschlossen, der Schatten bleibt kurz stehen und scheint mir zum Abschied zuzuwinken, bevor er im Meer verschwindet.

Seien Sie gegrüßt, Fritz J. Raddatz, wo immer Sie jetzt sind, es war mir eine Ehre, mit Ihnen durchs Labyrinth zu schreiten!

„Der Mensch, den Schatten schon erregen, empfindet immerfort als Last, daß seiner Unrast er erlegen“. Paul Wunderlich übergab dieses Zitat von Baudelaire seinem Freund, weil er ihn erkannte.