Archiv der Kategorie: 24 T (reloaded IX)

24 T. – Der Weg: Tag 24

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 24 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#24) – ©Michael Helminger

Gestern habe ich M. im Altersheim besucht, ich sollte besser sagen gesucht, denn sie war nicht in ihrem Zimmer. Sie sei mit den übrigen BewohnerInnen im Weihnachtskonzert, wo  im Haus, das wussten die betreffenden Pflegekräfte auch nicht so genau und reagierten genervt auf mein Fragen. Ich hab M. dann schließlich gefunden, weil ich die Tür zu einem Raum aufmachte, vor dem viele Rollatoren geparkt herumstanden. Alle saßen vor einem Fernseher, aus dem Weihnachtsgedudel  heraustropfte. Alle Augenpaare schauten mich an und als M. mich sah, kam sie sofort mit einer Betreuerin heraus, die sagte, ich dürfe sie gerne mitnehmen, denn es sei doch so schön, wenn mal jemand Besuch bekommt. M. strahlte mich an und schob ihren Rollator vor sich her zum Fahrstuhl. Als wir ausstiegen war sie so schnell ums Eck herum verschwunden, daß ich kaum nachkam. Auf dem Weg in ihr Zimmer lag eine Windel am Boden.  Ihr Zimmer war dann doch nicht ihr Zimmer, wir waren im falschen Stockwerk, ein sehr freundlicher junger Mann in Pflegedress geleitete uns dann zum Aufzug, wir kamen wieder an der Windel am Boden vorbei und M. sagte, das ist bestimmt meine, hob sie auf, klemmte sie unter ihren Arm und ging weiter. Ich mußte lachen, der freundliche Mann, der kaum Deutsch konnte, lachte mit und dann lachten wir alle drei. Im richtigen Zimmer angekommen mussten wir immer noch lachen. M. freute sich über die flauschige Decke und das Kissen für ihr Bett, das damit nicht mehr ganz so ausschaute wie ein Krankenhausbett. Irgendwann ging ich mit ihr zu einer Art offenem Speiseraum, wo das Essen ausgeteilt wurde und wir verabschiedeten uns. Sie sagte: Gell, du kommst wieder!

Dann bin ich ins Auto gestiegen, wollte ein wenig über Land fahren und habe mich auf den Straßen bei Eis- und Schneeregen zwischen grell illuminierten Häusern und absoluter Finsternis vollkommen verfahren. Um mich herum Ungeduldige, die von Ort zu Ort Geschenke überbringen und entgegennehmen mußten und sicher an jedem Ort schon sehnsüchtig erwartet wurden.

Als ich da so herumgefahren bin in der Nacht … der Heiligen Nacht … abgelenkt nur vom hin und wieder hektischen Scheinwerferlicht derer, die mir entgegenkamen oder die mich überholten, war es still um mich und in mir. Der Weg durch den Advent bringt keine Antwort auf unsere Fragen, sondern am Ende steht die Frage: was haben wir denn gesucht, auf was haben wir gewartet?
Wir irren weiterhin durchs Leben, wir verirren uns in großer Sehnsucht in Stockwerken und auf Straßen und in Phrasen und wissen immer genau, wer wann wo was falsch macht und wollen an das Gute glauben, warten auf das große Glück und sollten froh sein darüber, wenn wir es noch merken, daß es die eigene Windel ist, die vor uns am Boden liegt.

Ich habe diese Fahrt mit den vielen Umwegen in der Christnacht sehr genossen. Es ist wie eine Fahrt durch die Dunkelheit des Universums, Zeit und Raum verlieren an Bedeutung es ist wie ein Schweben und sich auflösen in der Unendlichkeit.

Es wurde dieses göttliche Kind geboren in Dir, in mir, in Euch und uns. Und wir haben in grenzenloser Freiheit die einfache Möglichkeit, dies zu ignorieren oder es als Tatsache anzunehmen, daß Gott in uns Mensch geworden ist. Was das bedeutet, muß jede r  ganz alleine für sich herausfinden, es ist ein Weg ins Ungewisse, man weiß nie, wo man da hinkommt, und man weiß nicht, was man dort dann vorfindet … das ist so, wenn man den Weg der Liebe geht, die Entscheidung nimmt uns niemand ab.

Auch im Namen von Herrn Graugans, dem Blaubildzauberer, wünsche ich Euch und uns Frohe Weihnachten und wir danken Euch ganz herzlich für das Bemerken und das gute Bedenken unserer gemeinsamen Arbeit an „24 T. – Der Weg“. Es war eine herausfordernde Arbeit, ich bin mit den Texten durch Höhen und Tiefen gegangen, es war eine äußerst  intensive Zeit, die ich nicht missen möchte und es war eine beglückende Zusammenarbeit! Aber was wären wir ohne Euch, die Ihr aufmerksam daran teilgenommen habt, indem Ihr Euch Bild und Text zu Gemüte geführt habt!

Jetzt ruhen wir aus, essen was Gutes, gehen spazieren und bleiben einfach die, die wir sind. Viele liebe Grüße vom nördlichen Alpenrand, heute am Christtag mit klitzeblauem Himmel und strahlendem Sonnenschein! Gehabt Euch wohl und laßt es Euch gutgehen bis demnächst wieder hier in diesem Theater zwischen Himmel und Erde!

 

Lieblingslied

Oh, my love, we’ve had our share of tears
Oh, my friend, we’ve had our hopes and fears
Oh, my friends, it’s been a long hard year
but now it’s Christmas
Yes, it’s Christmas
Thank God it’s Christmas …“


 

 

24 T. – Der Weg: Tag 23

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 23 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#23) – ©Michael Helminger

Als Kind dachte ich, für jeden Menschen, der stirbt, wird dort oben am Himmel ein Licht angezündet. Eine schöne Vorstellung, etwas in mir hat nicht aufgehört, das heute noch zu glauben.
Wenn ich nachts hinaufschaue zum Himmel, und ich schaue oft hinauf, dann sehe ich diesen besonders hellen Stern, der ausschaut als wäre er aus Glas. Und immer denke ich an sie, meine Freundin mit den Jadeaugen. Damals, als wir uns begegnet sind, war es noch nicht üblich, so viele Freundschaften zu haben. Damals war das Wort „Freundin“ noch nicht so inflationär und dadurch eher bedeutungslos , man brauchte sich auch nicht zu schämen, nur eine einzige Freundin zu haben, weil es ganz selbstverständlich außer Familie und Arbeit die besondere Freundin war, mit der man jede freie Minute verbracht hat. Wir haben uns kennengelernt und wurden einander Herz und Seele.

Wir haben uns gesagt, wie wichtig wir füreinander waren, wie wir uns brauchten und einander sofort schon beim Abschied vermisst haben, wir schenkten uns Briefe mit Gedichten, ich bekam welche von ihrem Lieblingsdichter Friedrich Rückert und sie schrieb mir lange „Vorworte“ in die Bücher, die sie mir schenkte.

Wir haben nächtelang geredet, hörten stundenlang Musik, und wir liebten Walzer und konnten wunderbar tanzen, linksrum, rechtsrum … seit damals kann ich keine Chopinwalzer mehr ertragen und seit sie mir auf dem etwas verstimmten Klavier die Mondscheinsonate vorgespielt hat, kann ich die auch nicht mehr aushalten bis heute, weil ich so traurig darüber bin, daß ich einfach die Stelle nicht mehr weiß, an der sie sich immer verspielte und wir schon im Voraus gelacht haben.

Ich habe mich bis heute nie wieder so sehr verstanden und bedingungslos angenommen gefühlt in meinem ganzen Sein wie damals von ihr, meiner Freundin mit den Jadeaugen.

Wir hatten nur wenige Jahre in dieser Innigkeit, dann war die Freundschaft weg. Warum vergeht eine Freundschaft?

Sie vergeht  und anscheinend kann man nichts dagegen tun, wir sind nicht grandios gescheitert, das Ende hat sich Stück für Stück an uns herangeschlichen und eine Fremdheit hat sich ausgebreitet zwischen uns und wir saßen da und schauten auf Brachland, wo einst eine blühende Wiese war.
Es gab feinste Haarrisse, kaum zu merken und damals in Frankreich, als wir bei Vollmond an einem Fluß standen, da habe ich diesen leisen Knacks gemerkt, ich hatte plötzlich so ein Gefühl, daß etwas zu Ende ging, wir waren wie immer, und doch habe ich es gespürt. Wir haben nicht über das gesprochen, was sich in unseren Herzen zugetragen hat, wir sind uns einfach entglitten, immer weiter und weiter auseinander, wir konnten nichts mehr miteinander anfangen. Ich konnte sie nicht mehr aushalten und auch nicht mehr mögen, meinte ich jedenfalls.

Die Jahre vergingen, manchmal trafen wir uns zufällig auf irgendwelchen Festen  und ihre Jadeaugen sahen mich an und sie waren so voller Traurigkeit, daß es mir einen Stich ins Herz gab, aber sie lachte und plauderte charmant und ich sah, daß sie immer magerer wurde … wir konnten nicht zueinander kommen … das Wasser war viel zu tief…
Als ich erfahren habe, daß sie schwer krank war, konnte ich sie nicht besuchen, ich konnte einfach nicht.  Und ich weiß auch nicht, warum ich ihr dann doch diesen sehr langen Brief geschrieben habe. Ich wußte, daß sie krank war, aber ich ahnte nicht, wie sehr … oder ahnte ich es doch … ich schickte den Brief ab.
Ich hatte ihr geschrieben, daß wir die Freundschaft nicht halten konnten, aber die Liebe ist geblieben. Und daß ich am Himmel immer den hellsten Stern suchen würde und an sie denken …
Und ihr Mann hat ihn ihr vorgelesen und er überbrachte mir später ihre Worte: „Darauf habe ich noch gewartet“, dann ist sie gestorben.

Wie merkwürdig das ist, wir konnten uns nicht mehr aushalten als Freundinnen und ich mag sie eigentlich so lange schon nicht mehr und ich frage mich , warum alles so gekommen ist, warum wir uns so verletzt haben … da meine ich manchmal, ihre Stimme zu hören: bitte, nicht aussprechen, laß es sein, jetzt ist alles gut …

Wenn ich zu den Sternen hinaufschaue, dann quillt mein Herz schier über vor Sehnsucht und ich spüre diese tiefe lebenslange Liebe zu ihr, die anscheinend nie mehr vergehen mag, außen haben wir alles verloren, aber innen drin sind wir ein Herz und eine Seele geblieben.

.

 

24 T. – Der Weg: Tag 22

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 22 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#22) – ©Michael Helminger

Wintersonnwend ist gekommen.
Die Wichtel sind müde und sitzen im Moos.
Wer sucht mich, wenn ich verlorengehe ?
Wo kann ich überwintern?
Alles beginnt von Neuem
und war doch gar nicht vorbei.
Alles beginnt und hat
doch nie aufgehört zu sein.
Nicht wahr?
Der Rabe zeigt sein wahres Gesicht.
Das Licht ist wieder da
und war doch gar nie weg.
Das Nichts ist nicht denkbar
und doch ist alles nichts.

Der Baum sieht mit Erstaunen
das große blaue Sofa in seinem
Geäst.

Magst Du mit mir den Sternentanz tanzen?


24 T. – Der Weg: Tag 21

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 21 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#21) – ©Michael Helminger

Vor vielen Jahren kam einmal ein fremder Wanderer zu unserem Haus. Er blieb stehen und fragte meinen Vater höflich, ob er sich auf der Hausbank niedersetzen dürfte, um ein wenig auszuruhen. Natürlich dürfe er das, sagte mein Vater. Und er brachte dem völlig erschöpften Fremden auch gleich unsere kostbaren Kracherln (Limonade) zum Trinken. Weil dieser sofort gierig die Flasche austrank, brachte der Vater noch eine zweite und eine dritte zum Mitnehmen. Normalerweise wurde sehr sparsam mit diesen wunderbaren Waldmeister- oder Himbeerkracherln umgegangen, denn es gab sie nur ganz selten. In diesem Fall hätte der Vater auch noch mehr gebracht, aber der Fremde lehnte ab und bedankte sich für das, was er bekommen hatte. Er habe kein Geld dabei, sagte er, aber er werde sich irgendwann erkenntlich zeigen. Und dann stand er auf und machte sich weiter auf den Weg.

Er kam von weither und mußte noch weit gehen, so hat  er gesagt.

Wenn mein Vater später davon erzählte, sprach er immer voller Wertschätzung über diese Begegnung und immer sprach er von der außergewöhnlichen Freundlichkeit dieses fremden Mannes.

Lange Zeit später, ich weiß nicht, waren Monate oder Jahre vergangen … hielt eines Tages ein Auto vor dem Haus. Es stieg jemand aus und klopfte an die Türe. Mein Vater machte auf und erkannte sofort, wer da vor ihm stand, es war der Fremde von damals. Dieser überreichte ihm  einen Mantel als Dank dafür, daß ihm mein Vater damals was zum Trinken gegeben hatte. Dann verabschiedeten sie sich, der freundliche Mann stieg ins Auto und fuhr weg. Mein Vater wusste nichts von ihm und hat ihn auch nie wieder gesehen.

Den Mantel hat er in Ehren gehalten und ihn viele Jahre getragen, es war ein warmer Mantel aus hellbraunem Wollstoff mit einem Teddyfutter und einer Kapuze und passte ihm wie maßgeschneidert. Später hing er noch Jahre nach Vaters Tod im Schrank, bis seine Nähte sich auflösten und er praktisch von selber zerfallen ist.

 

24 T. – Der Weg: Tag 20

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 20 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#20) – ©Michael Helminger

Heute, einen Tag vor Wintersonnwend sitzen die Wörter wie die Vögel mit zerzaustem Gefieder auf der Hochspannungsleitung. Gedanken springen zwischen den Drähten hin und her …

Am Nachmittag im Supermarkt suche ich das Regal mit dem Katzenfutter, das jetzt zum anderen Ende umgeräumt wurde und irre durch den ganzen Markt, zwischen Menschen hindurch, denen man ihre verzweifelte Lage anmerkt, die dann entsteht, wenn man so kurz vor Eventbeginn noch nicht alle Geschenke zusammen hat. Männer stehen ratlos vor Töpfen und Pfannen und silbernen Tischdecken … ein dicker junger Mann fragt ein kleines, mageres Mädchen nach der Kleidergröße der Mutti und hält einen lilafarbenen Pullover mit V-Ausschnitt in die Höhe … eine junge Frau wühlt in einem Haufen Hausschuhen und schreit ihr Kind an, das ständig irgendein Spielzeug daherschleppt, das Kind wirft zornig alles durch die Gegend und schreit auch … ein anderes Kind läuft elternlos irgendwo herum, den Mund schokoladenverschmiert und rennt einer Frau vor die Füße und mit dem Mund an die weiße Hose … es schreien jetzt mindestens vier Kinder  … ein Mann schreit ins Handy, daß es ihm jetzt endgültig reicht, er schleudert eine Pfanne zurück auf einen Haufen und geht mit finsteren Blicken zum Ausgang. Ich gehe am Kühlregal vorbei, da liegen drei kleine Hasen mit abgezogenem Fell, mit angelegten Löffelohren und daneben eine Großpackung Schweinezungen. Plötzlich schäme ich mich so vor den kleinen Hasen und den armen Schweinen und vor der ganzen Schöpfung.

Ich stehe ratlos da und weiß nicht, soll ich weinen oder lachen und mir fällt ein, daß mein Vater meiner Mutter mal Gabeln, Messer und Löffeln an Weihnachten geschenkt hat, weil wir immer zu wenig Besteck hatten. Und mir hat er vor ca. 45 Jahren einen Dampftopf geschenkt und an einem der nächsten Weihnachten einen Staubsauger … lieber Papa, beide sind noch in Betrieb, der Dampftopf schwächelt aber schon beträchtlich, der kann den Dampf nicht mehr halten, trotz neuem Dichtungsring.

Und dann steh ich so da und hinter mir bewegt sich ein Einkaufswagen bedenklich nahe an meine Kniekehlen heran und da fällt mir diese uralte Fernsehserie wieder ein mit diesem Bumerang. Wenn man ihn losfliegen ließ, wurde die Zeit angehalten, alle Bewegungen waren wie eingefroren, während er flog. Und ich denke mir, wenn ich so einen Bumerang jetzt hätte, würd ich ihn werfen und während dessen würde ich diese ganzen Decken und Kissen auf den Boden legen, ein paar Kerzen anzünden, den Restposten Tannenzweige dazu, alle Regale wegschieben, ein paar Zimtsterne  und paar Flaschen Glühwein zur Nervenberuhigung … und dann käme der Bumerang an und alle, wirklich alle hier in diesem Markt würden sich hinsetzen und sich erstaunt ansehen und dann würde man plaudern miteinander, und dann würde sicher jemand zum Singen anfangen, egal was, ich würde unbedingt  „Maria durch ein Dornwald ging“, „Es ist ein Ros´entsprungen“ singen und „An der Saale hellem Strande“,  und wir täten einfach sitzen und singen und irgendwann käme Bluetooth Verstärkung und dann tanzten wir wilden schweißtreibenden  Rockn Roll wie die Verrückten bis spät in die Nacht…

Und ich steh da und lache und die Tränen laufen mir übers Gesicht … manche schauen mich komisch an, die meisten merken nichts, ein kleines Kind hört auf zu schreien, lacht mich an und streckt mir eine schleimige halbe Banane entgegen. Es hat mich verstanden und ich sage zu ihm, gell wir würden herumhüpfen und tanzen … tanzen sagt es …dann zerrt die Mutter es weg und nimmt mir die Schleimbanane wieder ab.


 

24 T. – Der Weg: Tag 19

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 19 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#19) – ©Michael Helminger

Dieses Bild erinnert mich an das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“, es ist mir unmöglich, mich davon zu lösen, unter allem, was ich denke, spielt diese Melodie weiter und weiter. Auch im geliebten Weihnachtsoratorium hat Bach sie eingebaut, aber hier im Choral in der ersten Kantate mit dem adventlichen Text: „Wie soll ich Dich empfangen?“ Tod und Geburt sind eins … auch auf dem Bild wächst diese Pflanze in alle Richtungen und sieht doch aus wie das Leiden Christi.
Ich stelle ihm ein Lieblingsgedicht zur Seite, das mich schon mein Leben lang begleitet:

Gebet

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.

Und wandele immer in die Nacht…
Ich habe Liebe in die Welt gebracht,
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab ein Leben müde mich gewacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.

O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest.
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt,
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

Else Lasker – Schüler

24 T. – Der Weg: Tag 18

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 18 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#18) – ©Michael Helminger


Ich gehe in der Spur der Raben

Wenn die klägliche Suche nach dem Sinn unserer Existenz zu dem trostlosen Ergebnis führt, daß es keinen gibt, wir also in diese Welt gespien werden, ohne zu wissen warum … kaum, daß wir bemerken am Leben zu sein, dieses auch schon wieder vergeht, wir also verfallen und nach kürzester Zeit wieder verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen – sehnen wir uns panisch danach, diese unsere kurze Zeit bewußt zu leben und auszukosten. Wir suchen verzweifelt nach dem undefinierbaren Jetzt. Darin wollen wir uns einrichten, es ausfüllen bis zum Rand und wir wollen es erspüren und genießen und wir arbeiten hart daran, im Jetzt anzukommen. Wir zwingen uns zur augenblicklichen Erspürung und müssen erkennen, daß das Jetzt – eingeklemmt zwischen Vorhin und Dann –  gar nicht existiert.

Wenn wir den Augenblick, den Moment, das Nun im Jetzt, bewußt erleben könnten, meinten wir, daß er sich dann weiten würde. Hofften wir.

Damit würde sich diese kläglich kurze Zeit dehnen, länger werden und wir nicht gar so schnell wieder in dieses abscheulich angstmachende, grenzenlose Nichts geschleudert werden.
Hoffen wir und ahnen heimlich die Vergeblichkeit dieses Ansinnens.

Das Einzige, was uns bleibt, ist Gelächter, sage ich.
„Also“ – sagt der Rabe und dreht sich zu mir um –
„wenn Du Klarheit suchst,
brauchst Du nicht  mir hinterher zu laufen,
denn auch bei mir entsteht aus vielen Fragmenten
zuweilen Chaos!“

Am Wegrand sitzt der rote Kater Willie und schaut mich sonderbar an.

 

24 T. – Der Weg: Tag 15

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 15 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#15) – ©Michael Helminger

Wie all die Gärten ringsherum wurde auch das Kruzifix am Straßenrand winterfest gemacht. Den lebensgroßen Christus hat man mit einer Plastikplane umhüllt, die unterhalb der Knie des Leidenden mit einer Schnur fest verschnürt ist. Vor jeglicher Unbill des Wetters ist er nun geschützt, es blättert ihm keine Farbe ab und er behält, wohlig warm verpackt, seine Fassung.
In ein paar Monaten, kurz vor Ostern wird er dann, so Gott will, wieder ausgewickelt.