Archiv für den Monat: März 2024

5. Brief an die Frauen

„Was willst du bei uns Männern“, haben sie zu mir gesagt, als ich fragte, ob auch ich mit dem Meister feiern könnte, als sie die Vorbereitungen für das Pascha-Mahl trafen. – Wo gäbe es denn sowas, dass eine Frau mit am Tisch sitzen möchte, wenn Männer zusammen ein Gastmahl hielten und ernste Gespräche führten?

Durch den jungen Johannes hatte ich überhaupt davon erfahren, dass dieses Mahl bereits zwei Tage vor dem Fest stattfinden sollte. Die anderen Freunde des Meisters hätten es nicht für nötig gefunden, mit mir darüber zu sprechen, so wie sie in letzter Zeit immer wieder versuchten, mich von ihm fernzuhalten.

„Hast du denn bei dir daheim keine Arbeit? Wo gehörst du überhaupt hin, was sagt deine Familie dazu, dass du dich tagelang herumtreibst? Überhaupt, wie willst du denn die Reden unseres Meisters verstehen, du, ein Weib?“ Und dann: „Wieso bist du denn noch nicht verehelicht, so wie sich das in deinem Alter gehört? Das ist gegen alle Sitte und Gesetz!“

Diese Reden habe ich immer wieder gehört, so dass ich nicht einmal mehr darüber ärgerlich werde. Ich denke, diesen Männern fehlt einfach jegliche Vorstellung, was eine Frau denken und empfinden kann. Sie haben nie etwas anderes gelernt, sehen sie die Frauen allgemein nur als Besitz irgendeines Mannes, als eine Ware, die vom Vater auf einen Ehemann übergeht, diesem dienlich zu seiner Lust und zur Verrichtung der häuslichen Arbeit. Ihr Wert bemisst sich dabei letztlich an der Anzahl der Söhne, die sie ihm gebiert.

Wie anders hat es doch unser geliebter Rabbuni ausgedrückt, als er sagte, die Maria, die bei ihm sitzen blieb, um ihm zuzuhören, hätte den besseren Teil erwählt als jene Maria, die es für wichtiger hielt, bei seinem Erscheinen in die Küche zu eilen, den Herd anzuschüren und sofort das Essen zu bereiten. O mein Jeschua, als du mir zum ersten Mal in die Augen blicktest und darin sofort gelesen hast, wonach meine Seele hungert, da wusste ich, wie das wahre Himmelreich zu finden ist! Die Tempelpriester mit ihren Schriftrollen und Gesetzestafeln haben sich so weit von alldem entfernt, was uns Gott näherbringt. Du hast dir ihren Unwillen und letztlich ihren tödlichen Hass damit zugezogen, dass du ihnen vorgehalten hast, dass einzig und allein die Liebe das wichtigste Gesetz ist. Kann ein Mensch allein schon durch die Zuneigung zu seinen Mitmenschen selig werden, ohne die Vermittlung der Priester und Schriftgelehrten? Es erschien mir durchaus so, als du den Gelehrten im Tempel die heiligen Schriften ausgelegt hast. Das wäre eine alles umwerfende Erklärung des Göttlichen und würde ihre Wichtigkeit und damit ihre Ämter in Frage stellen. Wie sollten sie nicht erzürnt darüber sein!

Mit welchem Neid sahen sie die Begeisterung der Volksmenge an, die dir bei deinem Einzug in Jerusalem zujubelte. Demütig und doch so voller Würde saßest du auf einem kleinen Esel und winktest ihnen zu, herzlich zugetan. In ihrer Begeisterung breitete sie ihre Gewänder vor dir aus, schwenkte Palmenwedel und grüßte dich als den Sohn Davids, ihren wahren König. Noch klingt mir ihr „Hosianna!“ in den Ohren, überdröhnt vom fürchterlichen „Kreuzige ihn!“  am Tag vor dem Pessach-Fest, als der römische Statthalter dich der johlenden Menge vorführen ließ, blutüberströmt von der Geißelung, die du in den Morgenstunden über dich ergehen lassen musstest, einen Kranz von Dornzweigen zur Verhöhnung auf den Kopf gedrückt, schweigend, ohne zu klagen oder um Begnadigung zu bitten. Pilatus wollte dich frei lassen, denn er hatte keine andere Handhabe gegen dich als die Anschuldigung des Hohepriesters, du hättest das Volk zum Aufruhr angestiftet, um sie als ihr König gegen die Besatzer zu führen. Nichts weniger hattest du im Sinn, das Reich, das du aufrichten wolltest, sei nicht von dieser Welt, hast du oft gesagt, ohne alle Gewalt wolltest du nur die Seelen der Menschen zu Gott führen.

Für den Räuber und Mörder Barabbas hat der Pöbel schließlich die Freilassung erschrieen, so wie es ihnen die Tempelpriester einredeten.   Du wurdest zum Sündenbock erklärt, doch unschuldig wie ein Lamm haben sie dich zur Schlachtbank geführt. Ohnmächtig musste ich es mit ansehen, eingekeilt in die Menge, ich konnte dir nicht helfen, meine Stimme konnte die anderen nicht übertönen. Ich war allein, die Freunde, die sonst jeden deiner Schritte begleiteten, hatten sich zerstreut und versteckt, vor Angst, sie könnten selbst angeklagt und verurteilt werden. Da eilte ich zu meinen Gefährtinnen, die mir immer geholfen hatten, den Meister und seine Freunde zu versorgen. Wir Frauen liefen wehklagend den Weg mit dir nach Golgotha, wir achteten nicht darauf, dass uns die römischen Soldaten immer wieder grob hinweg stießen, wenn wir ein paar Worte des Trostes an dich richten wollten. Das Schweißtuch, das dir eine von uns reichen konnte, durftest du schließlich auf dein geschundenes Gesicht drücken. Ich habe den Abdruck des Straßenstaubs und deines Blutes darauf gesehen, als du es ihr zurückgegeben hast. Mit deinen Blicken hast du uns getröstet, obwohl dir selbst ein grausamer Tod bevorstand. Der schwere Balken auf deinen Schultern, an den sie dich später hängen wollten, hat dich immer wieder zu Boden stürzen lassen, bis du fast nicht mehr aufstehen konntest. Schließlich winkten sie einen Mann heran, der dir helfen sollte, damit sie endlich mit der Hinrichtung fertig würden. Ich durfte nicht zu dir, nur deiner Mutter und dem Johannes haben sie erlaubt, beim Schandpfahl stehen zu bleiben, nachdem sie dich daran festnagelten und am Balken in die Höhe zogen. Sie dachten, Johannes wäre dein Bruder, ein Kind der Maria, darum durfte er bleiben. Ich hörte deine Schreie von weitem, die Schreie der beiden anderen Verurteilten, das qualvolle Ringen nach Atem, immer wenn sich die Körper der Gekreuzigten am Holz in die Höhe zu stemmen versuchten und dann erschöpft wieder daran herunter sackten.

Vergebens suchte ich nach deinen Freunden, von denen ich keinen erblicken konnte. Um die dritte Stunde hast du deinen Geist aufgegeben, geschwächt durch die Qualen, die man dir schon vorher bereitet hatte. Der starke Fischer Simon, den ich nach deiner Hinrichtung aufspürte, saß verschreckt in einem Kellerloch, raufte sich die Haare und riss sich die Kleider in Fetzten, heulend wie ein kleines Kind. Er schickte mich weg, aus Angst, dass ich sein Versteck verraten könnte.

Nun ruht dein Leichnam in einem Felsengrab, das dir Josef von Arimathia, ein guter Mann, überlassen hat. Ich werde mit meinen Freundinnen dort hingehen. Den Salbtopf habe ich schon besorgt, die anderen wollen Laken mitbringen. Es ist der letzte Liebesdienst, den wir unserem Rabbi erweisen können, ihn mit duftendem Öl zu salben und in sauberes Leinen zu betten. Meine Tränen sind versiegt, mit denen ich einst seine Füße gewaschen habe. Ich kann nicht mehr weinen.

Ich fürchte mich nicht, auch wenn Soldaten das Grab bewachen müssen, denn es geht das Gerücht, dass dein Leichnam gestohlen werden könnte. Noch als Toter jagst du ihnen so viel Furcht ein, obgleich du der sanftmütigste Mensch gewesen bist, den ich je gekannt habe. Die Römer, so brutal sie auch sind, fürchten die Toten und ihre Geister, die an ihnen Rache nehmen könnten, wenn das Grab nicht beschützt wird.

Eine Schwierigkeit gibt es jedoch noch: wie werden wir schwachen Frauen den schweren Stein vom Eingang der Grabeshöhle wälzen können? Die Soldaten werden uns sicher nicht helfen, es ist mir lieber, sie schlafen noch, jetzt, noch vor dem ersten Morgenlicht, sicher haben sie reichlich Wein getrunken, schon weil es ihnen unheimlich ist, nachts neben einem Grab auszuharren.

„Da seid ihr ja, Maryam, Veronika. Pst, wir schleichen uns an und sehen, ob wir uns nähern können. – Hört ihr, wie die Wachen schnarchen?“ „Sieh doch, das Grab! Es ist offen, es ist leer! Wo ist er, unser Rabbuni? Die Leichenbinden liegen auf der steinernen Bank. Wohin hat man ihn gebracht?“

Dort geht ein Mann, wohl der Gärtner, ich werde ihn fragen. Er dreht sich zu mir um.

Dieses Licht! Dieses grelle Licht!…

„Rabbuni!“ – „Halte mich nicht fest!“ – „Mein Rabbuni!“

Gelobt sei Gott! Er ist wahrhaft auferstanden, wie er gesagt hat, Halleluja!

Text: Margit Bischlager

4. Brief an die Frauen

Liebe Maria, Mutter des Jakobus,

eine Nachricht habe ich erhalten: Erinnere Dich!, stand darin; und: dass die Vergangenheit womöglich gar nicht hinter uns liegt und die Zukunft vor uns, sondern alles gleichzeitig existiert. Vielleicht ist das so, ich stelle es mir jedenfalls manchmal so vor. Also nehme ich den Ruf aus dieser Nachricht an, also versuche ich, Euch durch die jahrhunderteweite Geschichte nahezukommen, Euren Erfahrungen nachzuspüren, Euch in dieser Osternacht, an diesem Ostermorgen zu begleiten.

Ich stelle mir vor, dass es früher Morgen ist, Tagesanbruch; Ihr wollt zum Grab Jesu gehen und ihn salben – so ist der Brauch – sobald der Sabbat vorbei ist, an dem das vermutlich verboten war; und sobald es wieder hell genug ist, um den Garten mit dem Grab aufzusuchen. Ihr fröstelt in der Morgenkühle, zieht warme Tücher um Euch; Ihr habt Gefäße mit Salbölen bei Euch, alles, was Ihr benötigen werdet.

Ihr wart wichtig für diesen Jesus, wichtig in seiner Gefolgschaft – so wichtig, dass sie Euch erwähnen mussten, die Männer, die seine Geschichte aufgeschrieben haben, obwohl sie doch die Frauen gerne weggelassen, gerne unwichtig gemacht und verschwiegen haben. Besonders Dich, Maria Magdalena, haben sie hier und da genannt, Du also musst besonders wichtig gewesen sein – ihre Auslassungen wurden später gefüllt, mit Heiligenlegenden, mit Bildern – die Heilige mit dem Salbgefäß, die halbnackte Büßerin, von Männern fantasiert, von Männern gemalt.

Aber davon wisst Ihr nichts an diesem Morgen. Nichts davon, dass Jesus nicht als Aufrührer in einem Nebensatz der römischen Geschichtsschreibung enden, sondern als Gott einer großen Weltreligion verehrt werden wird; seine Botschaft aufgeschrieben und weitergegeben und übersetzt und gelebt und interpretiert und entstellt, so dass Licht und Schatten sich unentwirrbar vermischen: Christliche Nächstenliebe und Kreuzzüge, großartige Kirchen und Klöster, kunstvoll ausgemalte Eingangsbuchstaben in heiligen Schriften, philosophische Denkgebäude, politische Machtkämpfe, Kirchenspaltungen, Hexenverbrennungen, Missionseifer, theologische Haarspalterei, Dogmen, Prunk und Pomp, sexueller Missbrauch, verbindende Gemeinschaft in Gottesdienst und Kirchenchor; überhaupt: herzzerreißend schöne Musik und großartige Kunstwerke, Märtyrer und Päpste und einfache Menschen voller Gottvertrauen, ach, das alles. Und es nimmt seinen Anfang hier, bei Euch, an diesem zarten Morgen.

Ihr seid unterwegs, Eure Schritte schwer von Trauer, Eure Gesichter gezeichnet von zwei durchweinten Nächten. Das Salböl in Euren Gefäßen ist kostbar. Ihr seid wohlhabende Frauen, ihr gehörtet zu denen, die Jesus und seinem Gefolge Unterkunft und Bewirtung anbieten konnten, habt sein Dasein als Wanderprediger unterstützt – und mitermöglicht. Anders hat er von Gott geredet als die Pharisäer und Gelehrten. War es seine Botschaft, die Euch begeistert hat, oder war es, dass er Euch Frauen wahrgenommen, ernstgenommen, gesehen und wertgeschätzt hat, als ganze Menschen? Habt Ihr bei ihm ein Gegenüber gefunden, wie ihr es gesucht und unter den Männern sonst nicht gefunden habt?

Ihr habt ihn verehrt und – mindestens Du, Maria Magdalena – auch geliebt. In Deinem Leid sehe ich das Leid aller Frauen, die erleben müssen, dass einem geliebten Mann Schmerz zugefügt, ein geliebter Leib verletzt, gequält, erschossen, von Granatsplittern zerrissen, vergiftet, in einem Straflager ausgehungert, gefoltert, an ein Kreuz geschlagen wird, sinnlose und grausame, widernatürliche Gewalt gegen Körper, die für den Austausch und das Lachen, für das Leben und die Zärtlichkeit geschaffen sind.
Jesu Leichnam jetzt zu salben bedeutet auch, dass Ihr ihn noch einmal berühren, von ihm Abschied nehmen, seinen Tod begreifen könnt, mit Euren Händen.

Ihr geht durch den hellen Morgen, da ist schon der Garten, da drüben das Grab. Beim Näherkommen seht Ihr, dass Eure Sorge um den schweren Stein, der mit dem es verschlossen war, ganz unbegründet war, er ist schon fortgerollt. Das Grab ist geöffnet, doch warum?

Zögernd tretet ihr ein, aber Jesus ist da nicht, dort, wo ihr ihn selber gesehen habt, an diesem grausamen Freitag, liegt niemand mehr. Stattdessen einer im weiß leuchtenden Gewand, der von Auferstehung spricht. Was geht in Euch vor?
Ich stelle mir vor, dass Ihr noch ganz am Anfang Eurer Trauer steht, an dem es noch nicht zu begreifen ist, dass ein Mensch wirklich tot ist. Könnt Ihr das Reden von der Auferstehung deswegen glauben? Habt Ihr es erhofft? Hat Jesus selber davon geredet, und es erschien ganz unvorstellbar? Oder vergrößert das Reden des Weißgewandeten Euren Schmerz, weil Ihr doch Abschied nehmen wolltet, Jesus noch einmal sehen und berühren?

Ich habe Bilder betrachtet, Ihr drei Frauen am Grab seid ein beliebtes Motiv durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte. Man hat großes Erschrecken in Eure Gesichter gemalt, ungetrübte Freude, ikonenhafte Gefasstheit – die mir am besten gefällt, weil sie der gefühlten Starre nach dem Tod eines Menschen ähnelt, und weil die Ikonengesichter immer wieder betrachtet werden können, ohne jemals ihr Geheimnis ganz preiszugeben.
Dennoch: Erschreckt Ihr? Flüchtet Ihr? Werdet Ihr es wagen, den Jüngern und den anderen Jüngerinnen von diesem Erlebnis zu erzählen, werden sie Euch überhaupt glauben, braucht Ihr selbst erstmal Zeit, zu verarbeiten, was Ihr da gehört habt?

Du jedenfalls – Maria Magdalena – gibst erst einmal nicht auf, den Leichnam zu finden. Den Gärtner, der ganz in der Nähe auf einmal zu sehen ist, fragst Du: Wo habt ihr ihn hingebracht – und als er Dich ansieht, erkennst Du, dass Du ihn selbst vor Dir hast, Jesus. Ich glaube, dass Du aufspringst und ihn umarmst, und ich glaube, dass er Deine Umarmung erwidert und Dir diesen Moment des Abschieds schenkt bevor er sagt, was mit „Berühre mich nicht“ für lange Zeit falsch übersetzt werden wird; denn was er sagt ist „Halte mich nicht fest“ – und dann lässt Du ihn gehen.

So wie Frauen zu aller Zeit getan haben, was zu tun ist: Ihre Männer gehen lassen – der Gottesherrschaft, dem Heldentod oder anderen großen Aufgaben entgegen – ihre Verletzten zu verbinden, ihre Toten zu salben, zu betrauern und zu begraben, weiterzuleben und vom Erlebten zu erzählen. Auch Ihr habt geredet, von der Auferstehung, von der Jesusbotschaft.  Apostola Apostolorum, so wirst Du, Maria Magdalena, irgendwann genannt werden, die Apostelin der Apostel.

Aber davon wisst Ihr nichts an diesem Morgen.
Ihr steht noch immer im Garten, Ihr seid erschüttert und verwirrt von dem, was Ihr da gerade erlebt habt. Und dann geht Ihr, langsam, zurück. Hin zu den anderen.

Text: Greta

3. Brief an die Frauen

Heißer Wüstenwind schiebt den Vorhang zwischen den Zeiten zur Seite … eine Frau geht in großen Schritten auf einen Felsen zu, rotgoldener Schimmer der untergehenden Sonne läßt ihn aufleuchten, bevor das schwarze Tuch der Nacht sich über ihn legt. Durch einen schmalen Spalt schlüpft sie in eine kleine niedrige Steinkammer und setzt sich auf den Boden. Sie weint. Wer bist Du, sage ich.

Man nennt mich „Die Händische“. Von der Großmutter habe ich die Gabe geerbt. Kinder hören auf zu weinen, wenn ich sie mit meiner Hand berühre, Wunden hören auf zu bluten, das Fieber geht weg. Und ich kann sehen, was kommt. Alle wollen es wissen, aber wenn ich ihnen das Schlimme sage, dann schlagen sie mich und ich werde verjagt. Wenn es etwas Schönes ist, dann schenken sie mir Honigwein. Manche kommen heimlich und flüstern mir ihre Not ins Ohr. Oft kann ich nicht helfen, denn ich sehe das Schicksal voraus, kann es aber nicht ändern, das verzeihen sie mir nicht.

Einer geht herum, der hat auch eine Gabe, er hat den guten Blick. Er spricht oft in Rätseln, Gelähmte stehen wieder auf, Taube hören, Kranke werden gesund, wenn er sie ansieht. Ich vertraue ihm und daß ER Gottes Sohn ist und der Retter der Welt, das verstehe ich nicht, aber ich glaube es, denn ich sehe es in seinen Augen.

Ich bin am Haus vorübergegangen, in dem er mit seinen Gefährten sitzt und das Brot bricht und den Wein trinkt und dann sah ich alles, was geschehen wird, den Schmerz, die Pein, die Qualen, die sie ihm zufügen werden und wie schrecklich er am Kreuz sterben wird. Bald schon, wenn der Morgen heraufdämmert, wird er seinen Weg zu Ende gehen und sein Schicksal wird sich erfüllen.

Und dann bin ich gelaufen, hierher an diesen Ort, den niemand kennt, außer ich und Er.

Hier warte ich, denn er wird kommen, auch das sehe ich. Und ich werde seinen Kopf in meinen Schoß betten, kalter Schweiß wird über sein mageres Gesicht laufen und in mein Gewand sickern und er wird nach Blut und Angst riechen. Ich werde meine große breite Hand auf seine Stirne legen und leise die Melodie meiner Großmutter summen. Dieser kleine schmächtige Mann wird da liegen wie ein zitterndes Kind, das Zuflucht sucht und sich am Rock der Mutter festhält und wir werden nichts sagen, wir brauchen keine Worte für das Unabänderliche. Und dann, kurz bevor der Morgen graut, wird er aufstehen und gehen. Ich sehe ihm nach und dann dreht er sich nochmal um, es ist noch finster, aber ich kann seine Augen erkennen, sie sagen: ich komme wieder.

Ja, ich weiß, wenn alles vorbei sein wird, wenn sie Deinen geschundenen toten Leib vom Kreuz geholt haben dann wirst Du mir erscheinen und Dein Strahlen wird mir sein, wie die Morgensonne und die Zärtlichkeit in Deinen Augen wird mein Herz ausleuchten für immer. Und dann werde ich zu Dir sagen: Nein, berühre mich nicht!  Ich verstehe nicht, warum, aber ich muß es sagen. Du wirst Deine Hand auf Dein Herz legen und sagen: Erzähle es allen. Sie werden mir nicht glauben, werde ich sagen.

Und dann wirst Du vor mir verschwinden, nur ein Strahlen wird im Raum bleiben.

Es ist Karfreitag, plötzlich hat sich der Vorhang wieder geschlossen, das Zeitenfenster hat der Wüstenwind zugeweht. Ich hätte ihr gerne noch zugerufen:  auch mir bleibt vieles rätselhaft, aber ich glaube Dir, ferne Schwester. Ob sie mich hört?  Jetzt ist die Stunde, zu der sie IHN  vom Kreuz holten, Frauen nahmen ihn in ihre Obhut, haben ihn gesalbt und in ihre Liebe gebettet.

Und ich sitze da und lege meine großen, breiten und alten Hände auf meine Wunden.

Text: Margarete Helminger

2. Brief an die Frauen

Jetzt ist es an der Zeit!

Gerade jetzt, während ich diesen Brief an euch Frauen in der fernen Zukunft schreibe, nur einen Steinwurf entfernt von meiner Zeit oder auch nicht, bin ich alt und blass. Blass werden mich die Jünger meines Sohnes lassen, blass werden mich ihre Nachfolger halten. Eine starke Frau darf keine Lebensgeschichte für die Nachfolgenden haben. Nur die Mutter des besonderen Sohnes soll sie sein und im Rauschen der Zeiten hinter dem Schatten ihres Sohnes unsichtbar werden.

Kein Wort über mich als Frau, als Liebende, als Mutter. Kein Wort über meine zwei Freundinnen – seine zwei weiteren Jüngerinnen am Kreuz und am Grab. Namen tänzeln von Jünger zu Jünger, von Schreiber zu Schreiber, nur unsere variieren. Wir sollen die drei Frauen hinter dem Schleier bleiben, unsere Geschichten nebulös.

Ich habe nicht aufbegehrt, auch nicht die zwei anderen Frauen. Wir haben vertraut.

Es gibt etwas Größeres in der Welt als alle Zwietracht und alles Trachten nach Macht und Haben.

Ich war die Frau, die Liebende und Geliebte, die Mutter, die Heilende, die Dienende, die Wandernde und die Jüngerin.

Ich war nie getrennt.

Bald schon gehe ich zurück in Mutter Erdes Schoß. Ich werde mich im Himmel fühlen, ich werde daheim sein – nach all diesem Wandern.

Zurück bei ihr, der großen Schöpferin, der unermüdlich Kreativen, finde ich erneut Trost, Schutz und Heilung.

Wie im Leben, so im Tod.

Ich war nie getrennt.

Ich werde nie getrennt sein.

Wir, die drei Frauen mit den variierenden Namen, wir, die drei Frauen in Gestalt und einst aus Fleisch und Blut, waren nie getrennt.

Ich sehe jetzt, was kommen wird. Es wird gewesen sein, wenn ihr mir durch meine Worte in eurem Jetzt begegnen werdet. Ihr werdet es Geschichte nennen.

Derweil die Frauen vermagdet, auf Äußerlichkeiten und Jugend reduziert wurden und werden, stets dem Mann zu Diensten, alles Göttliche, alle Rituale zu sinnentleerten vergoldeten Kälbern und Metaphern wurden, gab es auch immer die, die sich erinnerten, die nicht vergessen hatten und die Geschichte weiter webten. Die Bögen von einst zu jetzt schlugen. Die neue Bilder fanden, neue Skulpturen schufen, zeitlose Musik und Schriften erzeugten, die etwas erkannten, etwas Verbundenes, über die drei Zeiten hinweg, oft nur ungefähr erahnend und doch …

Solche werden es sein, die mich heilig sprechen; mich, die Blasse. Sie malen mir die Wangen rot, krönen mein Haupt. Schon werden sie mir zu Ehren Schreine an Wegesränder bauen, diese mit Blumen und Opfergaben durch alle Zeiten hindurch schmücken. Sie erschaffen edle Skulpturen für Kirchenräume,  formen meine Gestalt aus hellem und aus dunklem Holz. Widmen mir Monate und Feiertage, tragen Abbilder durch die Straßen, opfern Blumen, teilen reiche Ernten.

Ohne eine Mutter geht es nicht.

Unschuldig war meine Liebe.

Rein war die von keiner Schuld beschwerte Liebe zum schreinernden Mann. Unschuldig, unverdorben wie es manche Frauen und Männer durch alle drei Zeiten waren, sind und sein werden.

Mich werden sie die Unbefleckte nennen, mich zu einem Mysterium erklären. Als sei Liebe, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt nicht schon Mysterium genug! Ich hinter dem Schleier, hinter dem Schatten, im Nebel versteckt.

Es hat nichts genutzt!

Wir sind nicht getrennt- waren es nie, werden es nie sein.

Die Erde dreht sich, Bilder und Landschaften verändern sich, Menschen lernen langsam, viele erinnern sich schlecht.

Und doch, mehr und mehr Menschen erinnern sich. Jetzt. Mehr und mehr Frauen verbrennen die Schleier, treten aus Schatten und Nebel heraus.

Jetzt ist die Zeit.

Der Weg ist noch weit.

Ihr Frauen aber, die ihr nicht getrennt von mir, von Mutter Erde, Tara, Demeter und Inanna seid, die ihr versteht, dass alle eins sind, geht weiter in Schönheit und im Vertrauen.

Seid Frauen mit geradem Rücken, seid Liebende und Geliebte, seid Mütter oder Tanten, seid Gebärende und Schöpferinnen, seid Tanzende und Wissende, seid Dankende und Teilende, seid Träumerinnen und Handelnde, seid Heilende und Sehende, seid Streitende und Schlichtende, seid Erinnernde und Kämpfende.

Seid auch närrisch und wild.

Ihr seid nicht getrennt.

Jetzt ist es an der Zeit!

Die Geschichte schreibt sich, meine und deine auch; alles zu seiner Zeit.     

Text: Ulli Gau 

1. Brief an die Frauen

Die Frauen sind da, um verschwiegen zu werden.

Jahr für Jahr nähen sich die Schmerzen in mich ein, die Trauer, die Not, die Ohnmacht. Dann lerne ich, sie auszuhalten, sie als etwas anzusehen, was mich zusammenhält. Als wäre ich eine Wunde, die die Welt aufrecht erhält.

Ich bin ihm gefolgt, weil er dem Schmerz etwas entgegen zu setzen wusste. Wut und ganz viel Liebe und Mut. Plötzlich war da mehr als die Traurigkeit. Plötzlich gab es einen Weg, der gegangen werden musste. Als wäre ich ein Baum, der plötzlich Wurzeln schlägt, die ihn verbinden mit anderen Wurzeln. Ein ganzes Wurzelgeflecht.

Als würde das Leben uns bloß streifen und alles was wirklich ist, liegt unter der Haut, unter dem Boden, unterhalb dessen, was man sieht. Und doch ist es das, was uns ausmacht.

Der Ausweg, denken wir, ist eine Tür, die ins Offene führt, nach außen. Dabei ist der Ausweg in uns. Er wird mit uns geboren. Ist immer schon da. Verborgen. Innerhalb. Also außerhalb dessen was wir sehen.

Es war die Schönheit meiner Gedanken die sie verstörte.

Text: Elke Engelhardt

Erinnere Dich … Schwester

Bald fliegen die Glocken nach Rom, dann ist es still.

Ich träume mich, wie jedes Jahr in die alte Geschichte hinein, vom Leben und schrecklichen Sterben eines Mannes, der, von Gott geschickt, sein Kreuz als Mensch durch ein Leben schleppt und von der Liebe spricht, die letztendlich den Tod überwindet.

Ich traue dieser Geschichte, weil es eine gute Geschichte ist und weil sie wahr und wirklich ist, wie alle guten Geschichten. Dem, was im Lauf der Jahrtausende daraus entstanden ist, vor allem den religiösen Machtzentren, die sich daraus gebildet haben, traue ich keineswegs.

Wenn ich versuche, mich in diese Geschichte hinein zu träumen, dann sehe ich Männer, die Frauen sind auch da, aber sie bleiben schemenhaft, haben kaum Worte, huschen wie Schatten durch die Bilder, waschen IHM die Füsse, stehen weinend unterm Kreuz … machen ihre Arbeit leise und bleiben im Hintergrund. Immer schon habe ich den Wunsch, sie zu befragen, sie, die Frauen um Jesus. Ich würde gerne mit einer Frauengruppe nach Israel reisen auf den Spuren der biblischen Frauen, das macht aber dieser furchtbare Krieg nicht mehr möglich und deshalb wird es eine Traumreise.

Ich stelle mir vor, daß die Zeitebenen parallel existieren, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, nur getrennt durch eine Membran, die man durchdringen kann, wenn man ausreichend Traumkraft dazu mitbringt. Ich frage ein paar heutige Frauen, bei denen ich diese Kraft vermute, ob sie mitträumen wollen: Ich glaube, daß wir uns mit den Ahninnen verbinden können, weil wir ja ihr Erbe in uns tragen. Wir könnten versuchen, uns zu erinnern, an was auch immer … an Bilder, Gerüche, Töne, Farben, Worte … würden wir sie verstehen?  Wäre es möglich, auf einer Art Traumpfad uns mit den Frauen um Jesus in dieser Geschichte zu verbinden? Können wir Fragen stellen … oder … würden wir befragt?

Ich frage also ein paar Frauen, ob sie sich vorstellen könnten, sich da hinzuträumen, zu einer Art „Kanal“ zu werden und dann das Gesehene oder Gehörte in Worte zu kleiden und aufzuschreiben, ganz egal was da so daherkommt durch Zeiten und Räume, alles darf/muß Fragment bleiben und vielleicht ists ja auch nur ein leises Raunen…

Ja, das haben die Befragten sofort verstanden, die Resonanz berührt mich und ich harre der Dinge, die da kommen werden. Ich fühle mich mit den Frauen, die hier mitmachen, ganz stark verbunden und nenne die Texte „Brief an die Frauen“, egal von welcher Seite sie kommen und was sie uns sagen wollen. Mit Einverständnis der mitwirkenden Träumerinnen schalte ich bis einschließlich Ostermontag die Likes und auch die Kommentarfunktion hier aus und wir bleiben vorerst anonym, um uns hinter die vielen namenlosen Frauen von damals zu stellen und um überhaupt das Geheimnis und den Zauber dieser Kontaktaufnahme zu wahren.

Ich werde in den folgenden Tagen Brief um Brief hier veröffentlichen.

 

 

 

 

#44 Ranunculus ficaria und der Kikeriki

Heute um 4.06 Uhr war Frühlings-Tag-und Nachtgleiche. wir gehen auf Ostern zu.

Auf der Bundesstraße liegt schon wieder ein plattgefahrenes graubraunes Fell … ein Feldhase, jetzt ist er nur noch ein kleines Häuflein Elend. Beim Weiterfahren sehe ich in einiger Entfernung auf der Wiese rechts von der Straße fünf lebendige Hasen sitzen. Beim Näherkommen steigen drei davon als Bussarde senkrecht in die Luft, ein weiterer  entpuppt sich als Katze vor einem Mausloch und der fünfte der Gruppe hoppelt schließlich als Hase nach irgendwohin in Richtung Gebüsch.

Um den alten Nußbaum herum wächst in großen Mengen „der Kikeriki“, auch Gefingerter Lerchensporn genannt, wie ein Teppich breitet er sich um den Baum herum aus. Man kann ihn mit etwas Geschick langsam aus der Erde ziehen, er hat eine einzige, lange weiße Wurzel, die uns als Kinder sehr faziniert hat, schaut sie doch aus wie ein langer Wurm. Große Sträuße haben wir damit gebunden.

Unter unserer Kiefer entdecke ich eine Kolonie Veilchen. Mein ganzes Leben lang kamen immer am gleichen Platz im Frühling die Veilchen, man konnte sie schon paar Meter vorher riechen. Dann blieben sie jahrelang aus und ich suchte vergebens nach ihnen, denn ein Frühling ohne sie war mir nicht vorstellbar, aber jetzt sind sie wieder da und im Verströmen ihres Duftes senkt sich ein tiefer Frieden in mein Herz.

Ich liebe den Fernseher und wenn genug Geld da wäre, dann hätten wir längst den  mit dem größten Bildschirm, den es gibt! So viele Spielfilme,  Dokumentationen, Reportagen  und interessante Gespräche hätte ich ohne Fernseher niemals gesehen.  Und ich stimme Werner Herzog zu, der sagt: „Ich sehe ab und zu Trash-TV… ich will wissen, in welcher Welt der Sehnsüchte ich lebe.“ Ja, so geht es mir auch.

Natürlich ist ein Fernseher kein Ersatz für das Kino und manche Filme leiden unter dem kleinen Format, in das sie gezwängt werden, aber so viele Filme, die mich interessieren, hätte ich nie gesehen, weil sie in den erreichbaren Kinos nicht gezeigt werden. Auch DVDs sind keineswegs ein Ersatz, aber: in der Not frißt der Teufel Fliegen, nicht wahr!

Nächste Woche kommt auf ARD eine Serie über Kafka, Regie führt David Schalko und der Kameramann ist der großartige Martin Gschlacht und die Besetzung aller Rollen ist so grandios, das kann nur gut werden, ich freue mich sehr darauf! Filme, in denen Martin Gschlacht die Kamera führt, will ich alle sehen, weil es immer besondere Filme sind. Erst kürzlich hat er den silbernen Bären auf der Berlinale bekommen. Ob ich mir den Film „Des Teufels Bad“ anschauen werde ist noch nicht sicher. Allein die Ausschnitte, die ich bisher gesehen habe, sind mir so unter die Haut gegangen und lösen Reaktionen in meinem Innenleben aus, die ich kaum ertrage. Es geht um Frauen, um das Weinen der Frauen, um die Qual von Frauen, was ihnen angetan wird und was sie sich gegenseitig und selber antun und das ist nicht einfach so eine Geschichte von früher, einer anderen Zeit, die man sieht und froh ist, daß es heute anders ist. Das Schlimme daran ist, daß es um die Wahrheit und die Wirklichkeit  eines  Lebens als Frau geht und das es uns jetzt betrifft … wenn wir es wagen, uns zu er – innern.

Es gibt im bairischen Deutsch einen alten Ausdruck, fast vergessen ist er schon:  das „Innerwerden“.  Wie immer kann man das nicht gut übersetzen, es bedeutet ungefähr sowas wie : man erfährt was Neues, aber es ist wichtig und intensiv gemeint.

Wenn ich also sage, daß ich in diesem Film was innerwerde, daß wir was innerwerden, was deshalb so schmerzt, weil es an etwas rührt, was wir als eine Art Kollektivschmerz schon in uns tragen … dann weiß ich nicht, ob ich diesen Film aushalte. Der Kameramann sagte, er hat weinen müssen.

Ein unglaublich schöner Tag ist heute und ich lege die geliebte alte Platte von Reinhard Mey auf und spiele das Frühlingslied

„…die Mädchen tragen ihre Mäntel offen
und Männer wagen einen schnellen Blick.
In allen Augen blüht ein neues Hoffen,
auf Liebe und ein kleines Stückchen Glück…“

 

Heute auf der Streuwiese:
Das Scharbockskraut

 

und da blühts bei der  Kraulquappe

# 43 Der Alfons, der Bussard und die Buschwindröserln.

In der Laterne vor dem alten Haus brennt schon die Kerze und die Türe ist offen, wir freuen uns auf Besuch. Der Alfons kramt noch ein bisserl im Auto herum und als er mit Gastgeschenk im schwarzen Stoffbeutel aufs Haus zu geht, da lächelt er und mir ist, als würde das Haus auch lächeln und seine Arme ihm entgegenstrecken. Meistens tut das Haus gar nichts, wenn es jemand betritt, zumindest merkt man ihm nichts an. In seltenen Fällen scheint es jemand, der oder die es betreten, nicht zu mögen, dann verhält es sich kalt und abweisend und eine Art Düsternis kriecht aus den Ecken und es wird dunkel, auch wenn das Licht brennt. Und manchmal, da lächelt es aus allen Ritzen und ein warmer, goldener Schimmer der Freude legt sich über die Dinge und über die Menschen, die um den Tisch herum sitzen..

Ja, und so war dieser Abend dann auch. Der Alfons ist ein lieber Mensch, wir verstehen uns gut und aus diesem Kontakt ist im Lauf der Jahre immer mehr eine Herzensfreundschaft geworden. Wir sitzen da, essen und trinken und lassen die Geschichten kommen und gehen. Es gibt soviel zum Erzählen, so viele Fragen, so viele Antworten, ein wohltuendes Reden, so, als würden wir schon hundert Jahre hier sitzen und die nächsten hundert dazu.  Und wir sind umarmt von meterdicken Mauern, selten, daß ein Gast und das Haus sich so mögen. Und wir gehen in den großen Raum hinaus, in dem früher die Schmiede meines Vaters war. Auf dem Weg zum hinteren Teil des Hauses hängen unzählige alte Schlösser und Hellebarden lehnen an der Wand … übriggeblieben von einem Auftrag einer Burg. Alfons schaut alles mit glänzenden Augen an, sein Vater war auch Kunstschmied und Musikant, genau wie meiner. Die ehemalige Schmiede hat Herr Graugans umgebaut zu  Fotostudio, Buchbinderwerkstatt etc. und zu seinem Firmenbüro, wir sagen aber nach wie vor Werkstatt dazu. Als wir wieder ins Vorderhaus gehen, fällt mir auf, wie schön die Dinge werden, wenn jemand sie im Vorbeigehen mit liebevollem Blick streift. Sogar die Spinnweben sind nicht wegzudenken, sie gehören zum Ensemble und runden es erst so richtig ab.

Das Allerschönste ist ja, wenn man so beieinander sitzt, wenn man die gleiche Sprache spricht und dann hin und wieder lachend feststellt, daß es doch nicht dieselbe ist, weil die ca. 15 km, die zwischen unseren Heimatorten liegen, tatsächlich zu wörtlichen Unterschieden in den Regionaldialekten geführt haben. Es tut unglaublich gut, mal einen Abend lang die ganz normale hiesige Alltagssprache zu hören, ohne die ständige Anpassung an das, wie ich es nenne „Nordsprech – Syndrom“, das krampfhaft verhindern soll, daß man der Sprache das Südliche anhört. Das angestrebte, weil intellektuell höherstehend vermutete nördlich angehauchte Hochdeutsch scheint umso leichter erreichbar, je mehr man Wörter wie „mega“ und „lecker“ benutzt und nicht mehr schauen, sondern nur noch „kucken“ darf und was sonst noch an „unfassbar“ gescheiter Sprachvielfalt so daherkommt.

Wir hatten es schön mit dem Alfons und haben geredet, wie uns der Schnabel gewachsen ist und wir werden das sicher bald wieder so machen. Nachdem wir uns um Mitternacht verabschiedet hatten, lag auf dem Sofa der vergessene schwarze Stoffbeutel mit dem Aufdruck „Chor“ herum … wie war das … man läßt was liegen, dann kommt man bald wieder zurück, oder? Wär schön, freu mich schon!

Beim Radlfahrn kommen kalte Windböen und jagen mir Regentropfen wie Eiskugerln ins Gesicht. Ich mag dieses Wetter im März, ich brauch nicht immer Sonnenschein und ich liebe es, durch den Sturm zu sausen und mich von der wilden Kraft der Elemente tragen zu lassen.

Auf der Eberesche, ganz oben, sitzt der Bussard. Ich sehe ihn jetzt täglich. Heute schaut er zu mir runter, schaut mir direkt in die Augen und bleibt sitzen, während ich an ihm vorbeifahre.

 

Auf der Streuwiese heute:

Buschwindröserl (Anemone nemorosa)

 

Da schreibt die Kraulquappe.

# 42 Himmelaufsperren

Die frühjahrsmäßige Verprimelung hat bereits begonnen, landauf landab stehen sie in Töpfen und Schalen tonnenweise herum und sollen mit ihren grellen Farben angeblich gute Laune machen.  Ob das was nützt bei denen, die von früh bis spät über einfach alles schimpfen müssen? Man könnte einen Container voller bunter Primeln über sie ausschütten, es würde nichts nützen. Und ein scheußliches Haus bleibt immer ein scheußliches Haus, auch tonnenweise Wegwerfblumen machen es nicht schöner. Was ich auch noch nie verstanden habe ist das sofortige Wegwerfen nach Absolvieren der angezüchteten Blühpflicht. Manchmal bekomme ich abgeblühte Exemplare, man sagt dann, ich hätte ja einen grünen Daumen. Oder weil ich doch am Land lebe und soviel Grund ums Haus herum, da gäbe es ja mehr Möglichkeiten als in der Stadt, wo man nur einen Balkon hätte usw. Also, mein Daumen ist keineswegs grüner als der von der übrigen Spezies und ich sage dann: geh halt spazieren und vergrab die Primeln unter irgendwelche Büsche oder im Wald, Du brauchst dazu nur eine kleine Schaufel. Es macht mich traurig, wenn lebendige Wesen in die Abfalltonne geworfen werden, nur weil sie nicht mehr blühen.

Manchmal sprechen mich alte Menschen an und sagen: Du sammelst doch Geschichten, mir ist da was eingefallen, was früher immer so erzählt wurde, Du kannst es bewahren, bevor es verschwindet. Ich höre sie mir gerne an, die alten Geschichten, aber bewahren kann ich sie nicht, und ich sage immer wieder, erzählt sie Euren Enkelkindern, denn Geschichten werden bewahrt, indem man sie weitererzählt. Ich höre immer wieder, daß „die Jungen“ nur in ihr Handy starren, die würden nicht zuhören. Meine Erfahrung mit jungen Menschen ist eine ganz andere. Abends, an einem knisternden und funkensprühenden Feuer, da verschwinden die Handys ganz schnell, weil sie beim Zuhören stören und beim Singen.

Das Bewahren ist eine zweischneidige Sache: Ein altes Bauernhaus bewahrt man nicht, indem man es abträgt und in irgendeinem Bauernhofmuseum wieder aufbaut, sondern, indem man drin lebt. Ein schönes altes Geschirr hat keinen Sinn hinter Glas in der Vitrine, sondern, wenn eine köstliche Speise von fröhlichen Menschen bei festlichem Mahle daraus gegessen wird.

Tiere bewahrt man nicht, indem man ihre Natur bricht und ihnen ihre wilde Würde nimmt und sie in Käfige sperrt, mögen diese auch noch so groß sein. Und Sprache wird nicht bewahrt, indem man sie in Wörterbüchern zur Erinnerung verliert, sondern ausschließlich nur dann, wenn man sie spricht.

Auf der Straße rollt wieder mal mit grauenhaftem Getöse eine lange Kolonne Panzer. Ein Geräusch, das mir durch Mark und Bein geht. Ich sitze auf dem Radl und versuche zu entkommen, auf dem Feldweg hin zum Wald, in die Gegenrichtung. Und ich sehe vor mir den Bussard, der oben auf dem noch nicht eingesammelten Schneezeichen am Wegrand sitzt, ganz still und bewegungslos. Beim Anblick dieser Majestät steigen mir die Tränen in die Augen … wie schön dieses Land ist, wie dankbar ich bin, daß ich eine Heimat habe und wie gut doch unser Leben hier ist … und wie schnell alles vorbei sein kann, wenn erst mal die Panzer nicht nur durchs Tal rollen, sondern auch schießen.

Der Bussard sieht mich kommen und hebt sich lautlos hinauf und schwebt mit ausgebreiteten Schwingen, von der Luft getragen, in den Himmel. Im Wald ist ein Geräusch, das sich wie Husten anhört, wahrscheinlich ein Reh.

Als ich an der saueren Wiese entlang radle, beschließe ich, heuer dort eine Jahresuhr zu gestalten, indem ich gleichzeitig zu den Mittwochsbeiträgen hier im Blog ein Foto veröffentliche, das zeigt, was grade so wächst auf dieser Wiese. Da sie anscheinend nur im Spätherbst gemäht wird, kann man gut die dort heimische Flora im Jahresablauf bestaunen. Darauf freue ich mich sehr und mache auch gleich ein Bild von diesem geliebten Zauberwesen, das mit seinen Blüten den Himmel aufsperrt.

Sei willkommen und gegrüßt, Himmelsschlüsserl!

 

Und da streift die Kraulquappe durch die Welt!