Mein Sinn ist heute voll mit den Eindrücken des gestrigen Abends. Ich bin so voller Gefühle und muß mir noch mühsamer als sonst die Sätze darüber zurechtformen, vorsichtig, behutsam über eine Begegnung erzählen, die mir zu kostbar ist, um sie mit unbedachten Worten zu entzaubern.
Der Heimatverein einer unserer Nachbargemeinden, bei dem wir Mitglied sind, hatte eingeladen zu einem Abend mit Dieter Wieland. DER Dieter Wieland, eine Art Hausgott meines Vaters, der leidenschaftlich alle seine Filme im Bairischen Fernsehen gesehen hatte und die Bücher „Grün kaputt“ und „Bauen und Bewahren auf dem Lande“ so sehr und oft in der Hand hatte, daß schon die Seiten herausgefallen waren. Auch mich begleitet diese weiche, leicht melancholische Stimme, in der er in den siebziger Jahren über die katastrophale Zerstörung des Bauernlandes mit Flurbereinigung und der ersehnten Verstädterung, angeblich pflegeleichte Oberflächen, große Fenster, asphaltierte Dörfer, Glasbausteine, Eternitfassaden, monotone Rasenflächen und viel viel Krüppelkoniferen sprach. In seinen Filmen wollte er „den Zustand vor der Zerstörung, die Zerstörung und dann den Zustand nach der Zerstörung und was dann entstand“ zeigen, so sagt er. Den Blick schärfen für das, was mal war und was dann daraus entstand. Eine seiner Antriebsfedern sei ein Spruch von Hilde Spiel gewesen: „Wenn man es hinnimmt wie es ist, dann heißt das , daß man sein Land nicht mehr liebt!“ Er hat viel Ärger bekommen, und ist heftigst angegriffen worden, auch mein Vater hatte es mit haufenweise Unverstand und Kopfschütteln zu tun, wenn er bei jeder Gelegenheit Dieter Wielands Filme zitierte, weil er dachte, vielleicht glauben sie dem Mann im Fernsehen mehr als ihm. Weit gefehlt. Der Nachbar saß da und schimpfte, daß schließlich der Bauer auch mal nach der Stallarbeit eine heiße Dusche wolle., worauf mein Vater sagte: aber die kannst Du doch auch ins alte Bauernhaus hineinbauen, aber das hat nichts genützt, Abreißen und neu bauen war die Devise, mit großen Fenstern. Ein Lieblingssatz von meinem Papa war: Da wollen sie alle diese großen Fensterlöcher, möglichst nach Süden und was passiert dann? Dann werden diese Fenster sofort mit Stores zugehängt, weil ja niemand reinschauen soll und überhaupt ist es ja im Sommer viel zu heiß.
Die meisten Filme von Dieter Wieland kann man inzwischen auf YouTube anschauen, die Bücher gibt es auch immer noch, und leider sind sie alle hochaktuell, die Zerstörung auf dem Land schreitet in schrecklichen Ausmaßen voran und ich bin sicher, das gilt nicht nur für Bayern. Wenn ich übers Land fahre und die Zersiedelung sehe, all die Solitärbauten … ein Zeichen unserer Zeit … Solitär-… all die Scheußlichkeiten, der Jodlerstil (ein sehr treffliches Wielandvokabular), nach wie vor der Deutschen Lieblingspflanze, die Krüppelkonifere … ich könnte die Liste der unbedachten Grauslichkeiten endlos weiterführen … wenn ich mir vorstelle, durch diese abstoßenden Haustüren zu müssen, nach dem Durchschreiten der widerlichen Schotter – „Gärten des Grauens“, da wundert es mich keineswegs, daß so viele Menschen in Depressionen verfallen. Geld allein ändert natürlich keineswegs das Bewußtsein. Wir bräuchten eine neue Aufklärung, sagt Wieland, wahrscheinlich hat er Recht, aber bis die kommt, sind alle alten Häuser abgerissen.
Einer meiner Lieblingssätze: „Alte Häuser brauchen Liebe, wie alles, für das wir Gefühl aufzubringen vermögen. Das ist vielen lästig geworden.“ (D. Wieland)
Und gestern Abend sitzen wir im vollen Pfarrsaal in Waging am See. Unser lieber Freund und Vereinsvorstand wollte uns eine Freude machen und hat uns Plätze reserviert am Tisch zwischen dem Chefredakteur der wunderbar aufmüpfigen oberbairischen und weit darüber hinausreichenden Zeitschrift „MUH“, einem Journalist der FAZ, dem Leiter des Landesverbands für Heimatpflege, der gerade einen grandiosen Artikel in der MUH über den bedauernswerten Zustand des vor fünfzig Jahren gegründeten Denkmalschutzes geschrieben hat und … mir gegenüber sitzen ein sehr freundlicher alter Herr mit Gattin. Dieter Wieland, ich erkenne sofort seine Stimme, alt geworden, aber immer noch so wohlklingend wie früher. Wir sehen den Film: „Unser Dorf soll häßlich werden“ aus dem Jahr 1973 und danach sitzt Dieter Wieland auf der Bühne und erzählt.
Und nachher verlassen alle den Saal und wir sechs Leute bleiben sitzen und reden einfach weiter, und wir erzählen uns gegenseitig unsere Geschichten und dann geschieht das, was man niemals planen kann, wir unterhalten uns und wir verstehen uns, weil wir Ähnliches empfinden und für die gleiche Sache eintreten. Und wir haben lang nichts mehr zum Trinken, das ist völlig egal, weil wir einfach erzählen und zuhören und erzählen. Dieter Wieland und seine Frau sind freundlich und menschenzugewandt und solche Gespräche sind pures Glück. Irgendwann sagte er zu seiner Frau, glaubst du nicht auch, wir sollten dann mal ins Bett gehen? Da war es schon lang nach Mitternacht. Aber bevor wir uns dann langsam auf den Weg machten, hab ich zur abgrundtief scheußlichen Decke des Pfarrsaals hinaufgewunken und gesagt: Schau Papa, Du hast ihn so verehrt und hast immer gesagt, das ist ein ganz besonders Guter, und jetzt sitz ich ihm gegenüber und freu mich auch für Dich mit und dann sag ich:
Herr Wieland, ich glaub, ich soll sie jetzt grüßen von meinem Papa!
Damit das aber nicht zu peinlich wird für alle und dem Papa oben im Himmel hinter der Pfarrhausdecke und ich sowieso schon mit den Tränen kämpfe, gehe ich erstmal aufs Klo und dann verabschieden wir uns alle voneinander. Und wie das so ist, nach so einem wundervollen Abend, stehen wir noch vor der Türe und die Gespräche hören erst auf, als es regnet und mit guten Wünschen trennen wir uns in die schwarze Nacht hinaus … und Herr Graugans geht auf die Suche nach dem Auto, das geheimnisvollerweise nicht mehr da zu stehen scheint, wo er es abgestellt hatte.
Und da träumt die liebe Kraulquappe
Das ist ja wunderbar, was ihr da gestern erlebt habt in Waging, welch große Freude, und wer hätte das gedacht, dass ihr so lang und gut ins Gespräch kommt – ganz sicher hat dein Papa das mitbekommen, dass seine Tochter da irgendwie einen Kreis schließen konnte, den er damals nur als Halbmond in seinen Händen hielt. 💙
„„Alte Häuser brauchen Liebe, wie alles, für das wir Gefühl aufzubringen vermögen. Das ist vielen lästig geworden.““
Das trifft den Nagel auf den Kopf. Was haben wir geschafft und gerackert in der Corona-Zeit. 130 Jahre alte Holzböden von Hand abgeschrappt, geschliffen und geölt. Und die Treppen im Treppenhaus. Kreuz geschmerzt, Knie geschmerzt. Aber was sind die Kosten und das Weh gegen die Schönheit und das liebevolle Knarren des befreiten Holzes. Die anheimelnde Atmosphäre, die einen gerne das Haus betreten lässt und das liebe Gäste wohlig empfängt.
Dieter Wielands Beiträge sind mir teilweise bekannt.
Vielen Dank für deinen Beitrag und herzliche Grüsse
Robert
Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mich dein Beitrag wärmt. Danke dafür.
Herzensgrüße an dich 🌺
Das ist gut, liebe Ulli, Dein Herzensgruß wärmt mich auch!
Ich hatte nie zuvor von Herrn Wieland gehört (lebe zu weit nördlich) und hab gleich bei Wikipedia gelesen und bin auf den Begriff der „Wurstzipfelfenster“ gestoßen, dem Artikel zufolge auch ein Begriff von ihm.
Darunter kann ich mir nun so gar nichts vorstellen.
Können Sie es erklären, bitte? Sie scheinen da vom Fach zu sein.
Als die Liebe lästig wurde.
Wie schön das ist, von solchen Begegnungen zu lesen, und dann auch noch so „nahe geschrieben“, dass ich so gut wie dabei war – ich hätte auch mitreden können, denn diese Zerstörung gibt es ja nicht nur in Bayern …
Liebe Grüße, Andrea