#25 La linea lumaca dell tempo

Die Kraulquappe und ich werden auch weiterhin parallel zueinander das aufschreiben, was uns an einem bestimmten, gemeinsam festgelegten Zeitpunkt grad so in den Sinn kommt. Dieser Punkt soll beweglich bleiben und darf sich im Raum der Zeit einen neuen Ort suchen. Ab heute ist sein Platz der Mittwoch um 16.35 Uhr, da bleibt er vorerst bis auf weiteres.

Es dämmert schon, und es ist erst halb fünf am Nachmittag. Es geht auf Allerheiligen zu. Vom alten Nußbaum fallen die Nüsse herab. Ich sammle sie auf und lege sie zum Trocknen dorthin, wo sie seit vielen Jahren immer schon liegen. Auf einem alten Gitter, auf das man früher, lang bevor es die heutigen Lattenroste gab, im Bett die dreiteiligen Roßhaarmatratzen legte. Mindestens einmal am Tag müssen die Nüsse hinum und herum gewendet werden, damit sie nicht schimmeln. Heuer klebt an sehr vielen noch die schon eingetrocknete, zähe Schale, die man schlecht runtermachen kann. In den letzten Jahren, die extrem trocken waren, gibt es viel Abfall und außergewöhnlich viele taube Nüsse, die man aber meist erst erkennt, wenn sie später aufgeknackt werden. An der Beschaffenheit seiner Früchte erkennt man, ob es dem Baum gut geht oder ob er leidet. Unser alter Walnußbaum hat schon viel ungute Wetterlagen erlebt, aber diese Trockenheit Sommer wie Winter scheint ihn besonders zu schmerzen. Seltsamerweise kommen seit einigen Jahren auch vermehrt die Elstern und picken mit ihren scharf geschliffenen Schnäbeln große Löcher in die Nüsse. Wer aber haufenweise die Nüsse feinsäuberlich in zwei Hälften gespalten hat, die unterm Baum heute herumliegen, entzieht sich vorerst noch meiner Kenntnis.

Nachts gehen die Geister durchs alte Haus, auf und ab … manch eine Hand greift nach dem Stiegengeländer, begleitet Stufe für Stufe schwere Schritte,  Balken knarren, leises flinkes Tappen auf Holzböden, etwas streift an Wänden entlang, Kinder wimmern, Sterbende atmen schwer … manchmal ein Seufzer, selten ein Lachen. Der Kater Herbert scheint nichts davon zu bemerken, er schläft seit paar Nächten auf dem Sand im Katzenklo, was nicht mehr viel Hoffnung läßt, daß er sich vom Kranksein wieder ganz erholen könnte. Er nimmt alles so, wie es kommt, rollt sich zusammen und schnurrt  seiner weiteren Bestimmung entgegen.  Ich spüre die Geister, wenn sie da sind. Sie kommen zu ganz unterschiedlichen Zeiten, im Hochsommer, zur Erntezeit oder jetzt im Herbst, auch manchmal tagsüber, aber am liebsten zur Zeit nach Mitternacht. Ich frage sie nicht, sie lassen mich in Ruhe und brauchen keinen Kontakt, ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt bemerken.  Es ist, als hätten die, die hier gelebt haben, so etwas wie eine Art Schatten hinterlassen, etwas Schemenhaftes, einen Abdruck ihrer selbst, eine Parallelwelt, ein Hauch nur. Sie gehen durchs Haus, immer wieder gehen sie durchs Haus, treppauf treppab.

Ich halte mich dann ganz still und mein Stift zeichnet Linien, immer nur Linien, Schneckenlinien, die sich schlängeln und kreisen, die Zeit läuft unter ihnen hindurch, dreht Spiralen und dreht sich und dreht sich um uns herum, wir rasen durchs Weltall, auch wenn wir uns nicht bewegen, rasen wir durch Raum und Zeit und auf dem Flug verglühen wir.

Wir hinterlassen eine Blutspur von abgeschlagenen Köpfen, die einzige Spezies werden wir sein, die sich selbst ausgerottet hat.

Mein Stift kreist und kreist, Blatt für Blatt füllt sich mit Linien der Zeit. Gestern, auf einer kleinen kulturhistorischen Wanderung hat sich eine steile Schlucht gezeigt unterhalb eines Hügels, auf dem einst eine Burg stand, deren Rittergeschlecht längst vergessen ist und eine kleine Kapelle, die sich an den Burgberg presst. Ein Ort der absoluten Stille, nur ein paar km von hier, ein Geschenk, dort endlich hinzufinden.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn …“ (Rilke)

Ja.

 

Und hier das Paralleluniversum der Kraulquappe und was ihr so in den Sinn kommt am Mittwoch um 16.35 Uhr

6 Gedanken zu „#25 La linea lumaca dell tempo

  1. Ich habe auf deinen Eintrag gewartet, ihn nun gefunden und beim Lesen voll mitgehen können, obwohl es manches nur bei dir gibt! Das mit den Nüssen ist hier genauso!
    Grüße zu dir in die geheimnisvolle Gegend

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