2. Brief an die Frauen

Jetzt ist es an der Zeit!

Gerade jetzt, während ich diesen Brief an euch Frauen in der fernen Zukunft schreibe, nur einen Steinwurf entfernt von meiner Zeit oder auch nicht, bin ich alt und blass. Blass werden mich die Jünger meines Sohnes lassen, blass werden mich ihre Nachfolger halten. Eine starke Frau darf keine Lebensgeschichte für die Nachfolgenden haben. Nur die Mutter des besonderen Sohnes soll sie sein und im Rauschen der Zeiten hinter dem Schatten ihres Sohnes unsichtbar werden.

Kein Wort über mich als Frau, als Liebende, als Mutter. Kein Wort über meine zwei Freundinnen – seine zwei weiteren Jüngerinnen am Kreuz und am Grab. Namen tänzeln von Jünger zu Jünger, von Schreiber zu Schreiber, nur unsere variieren. Wir sollen die drei Frauen hinter dem Schleier bleiben, unsere Geschichten nebulös.

Ich habe nicht aufbegehrt, auch nicht die zwei anderen Frauen. Wir haben vertraut.

Es gibt etwas Größeres in der Welt als alle Zwietracht und alles Trachten nach Macht und Haben.

Ich war die Frau, die Liebende und Geliebte, die Mutter, die Heilende, die Dienende, die Wandernde und die Jüngerin.

Ich war nie getrennt.

Bald schon gehe ich zurück in Mutter Erdes Schoß. Ich werde mich im Himmel fühlen, ich werde daheim sein – nach all diesem Wandern.

Zurück bei ihr, der großen Schöpferin, der unermüdlich Kreativen, finde ich erneut Trost, Schutz und Heilung.

Wie im Leben, so im Tod.

Ich war nie getrennt.

Ich werde nie getrennt sein.

Wir, die drei Frauen mit den variierenden Namen, wir, die drei Frauen in Gestalt und einst aus Fleisch und Blut, waren nie getrennt.

Ich sehe jetzt, was kommen wird. Es wird gewesen sein, wenn ihr mir durch meine Worte in eurem Jetzt begegnen werdet. Ihr werdet es Geschichte nennen.

Derweil die Frauen vermagdet, auf Äußerlichkeiten und Jugend reduziert wurden und werden, stets dem Mann zu Diensten, alles Göttliche, alle Rituale zu sinnentleerten vergoldeten Kälbern und Metaphern wurden, gab es auch immer die, die sich erinnerten, die nicht vergessen hatten und die Geschichte weiter webten. Die Bögen von einst zu jetzt schlugen. Die neue Bilder fanden, neue Skulpturen schufen, zeitlose Musik und Schriften erzeugten, die etwas erkannten, etwas Verbundenes, über die drei Zeiten hinweg, oft nur ungefähr erahnend und doch …

Solche werden es sein, die mich heilig sprechen; mich, die Blasse. Sie malen mir die Wangen rot, krönen mein Haupt. Schon werden sie mir zu Ehren Schreine an Wegesränder bauen, diese mit Blumen und Opfergaben durch alle Zeiten hindurch schmücken. Sie erschaffen edle Skulpturen für Kirchenräume,  formen meine Gestalt aus hellem und aus dunklem Holz. Widmen mir Monate und Feiertage, tragen Abbilder durch die Straßen, opfern Blumen, teilen reiche Ernten.

Ohne eine Mutter geht es nicht.

Unschuldig war meine Liebe.

Rein war die von keiner Schuld beschwerte Liebe zum schreinernden Mann. Unschuldig, unverdorben wie es manche Frauen und Männer durch alle drei Zeiten waren, sind und sein werden.

Mich werden sie die Unbefleckte nennen, mich zu einem Mysterium erklären. Als sei Liebe, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt nicht schon Mysterium genug! Ich hinter dem Schleier, hinter dem Schatten, im Nebel versteckt.

Es hat nichts genutzt!

Wir sind nicht getrennt- waren es nie, werden es nie sein.

Die Erde dreht sich, Bilder und Landschaften verändern sich, Menschen lernen langsam, viele erinnern sich schlecht.

Und doch, mehr und mehr Menschen erinnern sich. Jetzt. Mehr und mehr Frauen verbrennen die Schleier, treten aus Schatten und Nebel heraus.

Jetzt ist die Zeit.

Der Weg ist noch weit.

Ihr Frauen aber, die ihr nicht getrennt von mir, von Mutter Erde, Tara, Demeter und Inanna seid, die ihr versteht, dass alle eins sind, geht weiter in Schönheit und im Vertrauen.

Seid Frauen mit geradem Rücken, seid Liebende und Geliebte, seid Mütter oder Tanten, seid Gebärende und Schöpferinnen, seid Tanzende und Wissende, seid Dankende und Teilende, seid Träumerinnen und Handelnde, seid Heilende und Sehende, seid Streitende und Schlichtende, seid Erinnernde und Kämpfende.

Seid auch närrisch und wild.

Ihr seid nicht getrennt.

Jetzt ist es an der Zeit!

Die Geschichte schreibt sich, meine und deine auch; alles zu seiner Zeit.     

Text: Ulli Gau