3. Brief an die Frauen

Heißer Wüstenwind schiebt den Vorhang zwischen den Zeiten zur Seite … eine Frau geht in großen Schritten auf einen Felsen zu, rotgoldener Schimmer der untergehenden Sonne läßt ihn aufleuchten, bevor das schwarze Tuch der Nacht sich über ihn legt. Durch einen schmalen Spalt schlüpft sie in eine kleine niedrige Steinkammer und setzt sich auf den Boden. Sie weint. Wer bist Du, sage ich.

Man nennt mich „Die Händische“. Von der Großmutter habe ich die Gabe geerbt. Kinder hören auf zu weinen, wenn ich sie mit meiner Hand berühre, Wunden hören auf zu bluten, das Fieber geht weg. Und ich kann sehen, was kommt. Alle wollen es wissen, aber wenn ich ihnen das Schlimme sage, dann schlagen sie mich und ich werde verjagt. Wenn es etwas Schönes ist, dann schenken sie mir Honigwein. Manche kommen heimlich und flüstern mir ihre Not ins Ohr. Oft kann ich nicht helfen, denn ich sehe das Schicksal voraus, kann es aber nicht ändern, das verzeihen sie mir nicht.

Einer geht herum, der hat auch eine Gabe, er hat den guten Blick. Er spricht oft in Rätseln, Gelähmte stehen wieder auf, Taube hören, Kranke werden gesund, wenn er sie ansieht. Ich vertraue ihm und daß ER Gottes Sohn ist und der Retter der Welt, das verstehe ich nicht, aber ich glaube es, denn ich sehe es in seinen Augen.

Ich bin am Haus vorübergegangen, in dem er mit seinen Gefährten sitzt und das Brot bricht und den Wein trinkt und dann sah ich alles, was geschehen wird, den Schmerz, die Pein, die Qualen, die sie ihm zufügen werden und wie schrecklich er am Kreuz sterben wird. Bald schon, wenn der Morgen heraufdämmert, wird er seinen Weg zu Ende gehen und sein Schicksal wird sich erfüllen.

Und dann bin ich gelaufen, hierher an diesen Ort, den niemand kennt, außer ich und Er.

Hier warte ich, denn er wird kommen, auch das sehe ich. Und ich werde seinen Kopf in meinen Schoß betten, kalter Schweiß wird über sein mageres Gesicht laufen und in mein Gewand sickern und er wird nach Blut und Angst riechen. Ich werde meine große breite Hand auf seine Stirne legen und leise die Melodie meiner Großmutter summen. Dieser kleine schmächtige Mann wird da liegen wie ein zitterndes Kind, das Zuflucht sucht und sich am Rock der Mutter festhält und wir werden nichts sagen, wir brauchen keine Worte für das Unabänderliche. Und dann, kurz bevor der Morgen graut, wird er aufstehen und gehen. Ich sehe ihm nach und dann dreht er sich nochmal um, es ist noch finster, aber ich kann seine Augen erkennen, sie sagen: ich komme wieder.

Ja, ich weiß, wenn alles vorbei sein wird, wenn sie Deinen geschundenen toten Leib vom Kreuz geholt haben dann wirst Du mir erscheinen und Dein Strahlen wird mir sein, wie die Morgensonne und die Zärtlichkeit in Deinen Augen wird mein Herz ausleuchten für immer. Und dann werde ich zu Dir sagen: Nein, berühre mich nicht!  Ich verstehe nicht, warum, aber ich muß es sagen. Du wirst Deine Hand auf Dein Herz legen und sagen: Erzähle es allen. Sie werden mir nicht glauben, werde ich sagen.

Und dann wirst Du vor mir verschwinden, nur ein Strahlen wird im Raum bleiben.

Es ist Karfreitag, plötzlich hat sich der Vorhang wieder geschlossen, das Zeitenfenster hat der Wüstenwind zugeweht. Ich hätte ihr gerne noch zugerufen:  auch mir bleibt vieles rätselhaft, aber ich glaube Dir, ferne Schwester. Ob sie mich hört?  Jetzt ist die Stunde, zu der sie IHN  vom Kreuz holten, Frauen nahmen ihn in ihre Obhut, haben ihn gesalbt und in ihre Liebe gebettet.

Und ich sitze da und lege meine großen, breiten und alten Hände auf meine Wunden.

Text: Margarete Helminger