Still ist es draußen, im Dorf sind die Fenster schon dunkel, nur bei mir brennt noch Licht. Hin und wieder rast ein Auto über die schnurgerade Bundesstraße durchs Tal. Dichte Wolken bedecken den Himmel und verschlucken den Mond. Der Igel schiebt klappernd den leergefressenen Katzenteller vor sich her, dann verschwindet er im Gebüsch. Ein paar Rehe husten, irgendwas flattert aufgeregt durch die Luft, dann ist es wieder ruhig.
Wenn es ganz still ist, meine ich sie manchmal zu hören, die Schritte derer, die einst über das Pflaster der Kirche gingen vor unzähligen Jahrhunderten … die Armen barfuß, die Reichen mit Lederschuhen. Dieses Pflaster aus einer romanischen Kirche in Belgien brachte eines Tages ein Lastwagen zu uns und seit damals liegt es in unserem Hausgang und der Rest vor dem Haus und wenn ich auf der Hausbank sitze, dann stehen meine Füsse auf uraltem Kirchenboden. Und wenn ich durchs Haus gehe, durchschreite ich einen sakralen Raum. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke. Auch daran, wie Vaters Freund, unser Hausmaurer, geflucht hat beim Verlegen, weil ihm die Knie so furchtbar wehtaten. Jahrelang haben sie von dieser Prozedur gesprochen, viele Jahre ist er immer samstags gekommen, um das erhalten zu helfen, was die zerbröselnden Zeitläufte vom alten Haus noch übriggelassen hatten. Jetzt sind sie beide schon lange tot. Ein Foto gibt es von ihnen, da sitzen sie nebeneinander auf der Hausbank und spielen die Ziehharmonika. Früher hörte man an Sonntagen immer von irgendwoher eine Zugharmonie, wie mein Vater sie nannte.
Auch wurde in manchen Häusern gesungen, ich hab sie noch im Ohr, meine jetzt über 90jährige Nachbarin hat immer mit ihrer Mutter gesungen. Auch bei uns wurde viel gesungen, sie hatten alle dieses besondere Gehör und deshalb hielt das niemand für was Besonderes. Es gibt so Nächte, heute ist eine davon, da bin ich hellhöriger als sonst, ich höre sie, auch meinen Vater, der als Lehrbub sich hin und wieder eine Stunde zum Zitherlernen leisten konnte. Erst kürzlich habe ich seine vom Mund abgesparten Zithernoten gefunden, wehmütig wird mir da ums Herz. Ich höre sie singen und spielen, trotz großer Not und vieler Sorgen.
Die Jungen sind alt geworden und die Alten sind lange schon tot. Jetzt bin ich die Alte in diesem Haus.
Wenn ich so in die Nacht hinausschaue, dann fällt mir ein, daß irgendwo am Rand der Welt die Uralte sitzt und im großen Kessel unser Schicksal zusammenrührt, was oben ist kommt nach unten und umgekehrt. Sie rührt und rührt und verändert ständig die Gestalt. Wie der Mond wird sie immer dicker und runder und dann wieder dünn und dünner und bevor sie verschwindet nimmt sie wieder zu, eine unendliche Bewegung, und um sie herum tanzen die Sterne und manchmal greift sie nach einem und streut seinen funkelnden Staub auf die Weltensuppe.
Ich würde sie gerne besuchen und mich neben sie setzen und ihr aus meinem Rucksack ein Bündel Schmerzen und große Sorgen geben, damit sie sie unterrührt und was anderes daraus entstehen kann, ich würde ihr auch Glückskekse backen und als Würze mein Lachen mitbringen, weil es sich vielleicht dadurch etwas leichter rühren ließe.
Da fällt mir dieser riesengroße Topf in der Scheune ein und der lange, wuchtige Kochlöffel … wenn es mir gelingt, von ihr zu träumen, zeigt sie mir dann vielleicht, wie es geht, das Rühren und Wandeln …
Und hier schreibt die Kraulquappe
Was für ein schöner Gedanke!
Hoffen wir sie rührt eine große Prise Mitgefühl und Vernunft in die Weltensuppe.
Hab einen schönen Tag.
Ja, das tut SIE bestimmt, unaufhörlich, verteilen müssen wir die suppe halt selber, es wäre alles da… liebe Grüße!
Dein Text berührt mich sehr, liebe Graugans.
so schön, von Dir solche Worte zu bekommen, lieber Gestreifter!
Als ich letztens mal wieder durch den Wald stapfte, fiel mir (wieder einmal) Wolf Dieter Storl ein, der einst sagte: Dem Wald fehlen die Lieder … es stimmt, heute singt kaum noch Eine=r, wenn sie/er durch den Wald stapft und auch sonst nicht, nur in Chören, aber daheim, vor der Haustür ..? Aber wer sitzt denn auch noch vor der Haustür? Kaum jemand und schon gar nicht in den Städten. Ich vermisse das alles sehr.
Herzliche Grüße an dich, die du die Geschichten bewahrst.
Ein schöner Gedanke, liebe Ulli, daß ich eine Geschichtenbewahrerin bin! Vielleicht werden die Geschichten am besten bewahrt, wenn man sie weitererzählt! Liebe Grüße!
wunderschön geschrieben. Konnte selbst nie wohnen, wo es eine Hausbank gab. Gesang auf der Fahrt in den Urlaub, geh aus mein Herz und suche Freud…
Lg Wolfgang
so ein schönes Lied, habs so lang nicht mehr gesungen, hast Du zufällig den Text, möcht nicht googeln, von Mensch zu Mensch ist die Weitergabe schöner!
auch nur einzelne zeilen…
‚in dieser schönen Sommerzeit ‚
ich müsste auch nachschauen…
so sehr berührt mich dieser text, danke dafür. ich bin aus einer familie in der viel gesungen wurde, ich singe heute noch gern, mein mann ist mit enkel noch im männerchor. die lieder sind mir ein schatz, unsere enkel lernten alle mit uns, sie freuen sich und singen gelegentlich. bei geburten schenken wir immer ein lieberbuch mit kinderliedern, die eltern freuts. unser repertoire reicht von kinderlied bis folksongs.
Ja, Lieder sind Schätze, wie wunderbar, ein Liederbuch zu schenken!