In der aktuellen Ausgabe der „Lettre International“ (Nr. 146) steht ein Text, der mir seit Wochen im Kopf herumgeht. Karl Heinz Lüdeking schreibt über Caravaggios Bild vom ungläubigen Thomas. Da ich Caravaggio verehre, ist mir dieses Bild lang schon bekannt, aber da es in mir ziemlich zwiespältige Gefühle auslöst, d.h. es gruselt mich bei seinem Anblick, hatte ich noch nie das Bedürfnis, es im Original zu sehen. Das hat sich geändert durch diese unglaublich intensive Abhandlung und wenn man nach Potsdam nicht so weit fahren müsste, dann wäre ich längst schon davor gestanden. K.H. Lüdeking schaut sich das Gemälde genau an, sehr genau, und schildert, was er darin sieht. Ich sehe förmlich mit seinen Augen und das, was mir sonst meist unangenehm ist an den meisten Betrachtungen und mich an das Sezieren eines Kunstwerks erinnert, hier werden mir jeder Blick und jede Deutung, auch die wirklich unglaublichsten möglichen Zusammenhänge zur Offenbarung. Es geht in diesem Bild letztendlich um die leibhaftige Auferstehung, ein Lieblingsthema , wenn nicht DAS Thema von mir und wie ich finde, eigentlich das zentrale Thema des Christentums.
Noch nie ist mir aufgefallen, wieviele Ohren sich mir entgegenstrecken, wenn ich das Bild betrachte und den Riss hatte ich zwar gesehen, aber ihm keinerlei Bedeutung beigemessen. Und noch so viel mehr sehe ich plötzlich und staune. Eine grandiose Textarbeit! Drei Sätze Lüdekings habe ich mir unterstrichen:
“ … Daß Bilder darauf angewiesen sind, gesehen und gedeutet zu werden. Das geschieht, indem wir das Bild aus einer externen Position betrachten …
Seine Identität erwächst aus den Sinnzuschreibungen derer, die es anschauen.
Das Bild wird nur deshalb zu dem, was es ist, weil wir es ihm sagen.“ …
Der fast volle Mond hängt irgendwo ganz oben im Geäst der großen Kiefer fest und sein Licht tropft wie flüssiges Silber am Stamm entlang nach unten in die Nebelschwaden , die ein riesiges Erdmaul beim Ausatmen ausstößt, hinein. Oben drüber rasen weiße Wolken Richtung Salzburg und verschlucken die Flieger, die über dem Flughafen auf- und absteigen.
Gerade habe ich darüber gelesen, was mit den Kindern in Gaza derzeit passiert … was überall passiert während dieser so unglaublich unsinnigen, grundlosen und vermaledeiten Kriege, die niemals irgendwas Gutes bringen, sondern nur Leid und Tod und Verderben. Einer will, was der andere hat und wenn er es nicht bekommt, haut er ihm die Schaufel auf den Kopf. so fängts im Sandkasten an und so geht es weiter. Die Unsinnigkeit dieses Abschlachtens ist mir schier unerträglich.
Eine andere Art Kriegsführung, unblutig aber durchaus schmerzhaft, findet derzeit im sogenannten „Container“ statt, „Big Brother“ hat Leute eingeladen, denen man sagt, sie seien prominente Realitystars, was im TV im Lauf der Zeit ein neuer Berufszweig geworden ist, bei dem man viel Geld verdienen kann. Diese Promis werden, je nach derzeitiger Bedeutungslage mit viel Geld angelockt und lassen sich 14 Tage lang rund um die Uhr von Kameras beobachten, während sie unsinnige Spiele spielen und ständig mit Essensentzug bestraft werden. Und wir im Publikum dürfen unsere voyeuristischen Triebe ausleben und bei Brot und Spielen zusehen und wie sich die 14 BewohnerInnen gegenseitig demütigen und ausstechen und sich fertigmachen lassen. Der Preis ist schwer erkämpft, wer übrigbleibt, kassiert am Ende mind. 100000 Euro. Ein junger Mann weint bitterlich, ihm sind welche Felle auch immer, weggeschwommen. Auch andere weinen, mal mehr, mal weniger. Sie möchten alle befreundet sein, sind aber Feinde, das Geld ist die Gottheit, die absolute Unterwerfung fordert … auf die Knie mit Euch! Sie leben von Nudeln mit Ketchup und Kartoffeln mit Mayonaise und oft von gar nichts, manchmal bekommen sie Musik, dann dürfen sie tanzen. Meine Güte, zu was Menschen bereit sind, sich selbst und anderen anzutun, es läßt mich ratlos zurück.
Manchmal denke ich an den Advent, der bald wieder kommt und vollkommen bedeutungslos ist im großen vorweihnachtlichen Konsumrausch. Seit Ende August stehen Lebkuchen in den Geschäften herum, längst schon auch Stollen, Schokoladennikoläuse, alles, was das Herz begehrt ist schon da und kann konsumiert werden, alles ist käuflich . Auf welche Ankunft soll denn da noch gewartet werden. Beim Nachsinnen ist mir das Wort „Heldenreise“ eingefallen. Eine Art Parabel für das, was ist, war, sein wird. Eine Reise durch Leben, Tod, Leben und ein Rückwärtsgehen, um nach vorne zu kommen.
Aber es ist noch Zeit, es liegt noch soviel Herbst vor uns., die Zeit ist noch nicht reif für den Advent. Erste Proben vom jungen Apfelmost, bernsteinfarbenes, leicht perlendes Glück fließt ins Glas, alle Arbeit darum herum ist vergessen bei diesem ersten Schluck. Wie ein Blick ins Paradies. Ein Prost auf Euch alle da draußen und ein großes Dankeschön an unsere alten treuen Apfelbäume.
Prost, liebe Kraulquappe, hast auch schon was geschrieben, gell!
Kurz bevor ich deinen Beitrag las, dachte ich: Trotz allem, das Leben ist schön! In diesem Sinne, liebe Graugans, proste ich dir zu, aber mit Kaffee, der Tag ist noch jung.
Herzliche Grüße, Ulli