#3 Die kalte Sophie und der Desperado

 

Am Samstag ist ein Freund in Panik und Not plötzlich aufgetaucht und wir sind eine Stunde lang in kaltem Nieselregen gestanden und haben versucht, seiner Angst zumindest ein wenig die Schärfe zu nehmen, dabei wurde es aber immer kälter und die Füsse immer nasser. Heute die zweite Nacht, von Hustenanfällen geschüttelt, das Fieber macht wirre Träume, Braunbären streifen durch Wälder, jemand sagt: das sind alles Desperados, keiner will sie haben. Wie die Flüchtlinge, sie wandern und wandern auf der Suche nach einer Heimat … Dann zünde ich die Kerze an in der Laterne vor dem Haus, mein Kopf ist heiß. Eine halbe Stunde nach Mitternacht, der 15. Mai hat grad angefangen, die kalte Sophie lächelt mich an unter nassen Haarsträhnen aus einem Regengesicht, bevor sie ums Hauseck herum verschwindet. Weißt Du noch, Papa, vor 13 Jahren bist Du genau um diese Zeit gestorben. Du hast immer gesagt, mein Geburtstag ist leicht zu merken, lauter Fünfer: 15.5.25, am Tag der kalten Sophie. Ich lese grad „Das Leben meiner Mutter“ vom Oskar Maria Graf, und es zieht mich hinein in die Geschichte der Vorfahren, auch meiner, und ich spüre, wie sich die Sprache mit meiner vermischt und zu mir spricht, aber auch aus mir heraus. Eine Gratwanderung. Es war Dein Lieblingsbuch. Er war kein pflegeleichter Mensch, der Graf, kein Heimatschriftsteller mit Blut und Bodenromantik. Er hat nirgends hingepasst, auch nicht in seine Heimat, ein Outlaw war er. Meine Heimat ist die Sprache, hat er gesagt. Ja, meine auch, mehr als alles andere.

Jetzt ist 12 Uhr mittags, High Noon, wie oft haben wir den Film wohl gesehen, Papa, der Cooper Gary mit seinem weichen Gesicht, eigentlich zu weich der Zug um seinen Mund, um ein harter Kämpfer und Held zu sein. Und warum hat er nicht diese dunkle Schönheit geheiratet, sondern die andere, die ihn beinahe verraten hat?  Papa, durch welche Zeiten und Räume fliegst Du jetzt, hast Du endlich gefunden, was wir alle ein Leben lang suchen? Kannst Du die großen blauen Flecken sehen, die der kriechende Günsel , den ich so liebe, ins Gras malt?

Beim Nachbarn steht ein hoher Kran, auf seinem Arm trägt er den Himmel, auch schwarze Wolken und beim schlimmen Gewitter hat er gestern geschwankt. Sie bauen da jetzt ein Haus hin gegenüber vom alten Bauernhaus, die Jungen wollen lieber in einem neuen Haus wohnen, das alte mögen sie nicht. Sie möchten ein schönes, schmuckes Häuschen, mit ein wenig Rasen drumherum, eine wohldurchdachte Anlage, eine gestaltete Oase. Eigentlich wollen sie alle Siedlungshäuser, Siedlungsgärten, abgemessenes, umzäuntes Glück, so kommts mir vor. So ein Mittelding zwischen Stadt und Land.

Ich hab Deine Gärten verwildern lassen, Papa. Die Schnecken haben immer alles gefressen, was ich angebaut habe und ich wollte nicht soviel töten müssen, um zu ein paar Köpfen Salat zu kommen. Jetzt wachsen bunte, wilde Blumen und Gräser, es gibt Ameisenberge und ich freue mich über alles, was sich ansiedelt. Ich weiß nicht, ob dir das alles so gefallen täte, vielleicht würdest du sagen: du bist halt eine Träumerin. Ja. Der alte Flieder am oberen Garten wächst immer noch, ich werd ein paar Zweige holen, weil er so gut riecht. Und den Rhabarber gibt es auch noch, Papa, wie alt der wohl schon ist, ich kenne ihn ein Leben lang. Ich werde Marmelade daraus machen. Und jetzt werd ich mir eine Kanne Tee kochen und ihn „englisch“ trinken, wie Du früher, mit Milch und Zucker und paarmal den Song hören von Willie Nelson, der Dir auch gefallen täte und mich dann mit dem Buch vom O.M.Graf ins Bett verziehen. Und ich werd mich fragen, ob Du auch gern so einer gewesen wärst und Dich nur nicht getraut hast … aber weißt Du Papa … das Herz ist ein ganz besonderer Kontinent und da drinnen sind wir Desperados, glaub mir.

Hier gehts zur Frau Kraulquappe:

 

4 Gedanken zu „#3 Die kalte Sophie und der Desperado

  1. Erneut einer dieser Texte, die an Intensität kaum zu überbieten sind … vielen Dank für diese Einblicke in Dein Seelenleben ! Ich frag´ mich grad, ob meine Töchter später dann mal … when I´m dead and gone …ähnliche Erinnerungen in sich tragen werden.

  2. „Desperados waiting for a train“. Wie viele Züge sind uns schon abgefahren! Wir warten immer noch. Irgendwann nimmt uns der letzte mit.
    In Erinnerung an deinen Papa! Ist eine starke Persönlichkeit gewesen.

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