24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 10: Elke Engelhardt

Mutmaßungen über meine Mutter

Meine Mutter ist ein Gewebe, ein Netz, eine Spinne.
Meine Mutter ist eine Erzählung und ein vergessenes Lied.
Meine Mutter ist das Zittern meiner Hände und das Grübchen auf meiner Wange.
Meine Mutter ist eine Erfindung, die eine Empfindung ist.
Meine Mutter ist ein „es war einmal“.
Als meine Mutter noch ein „es ist“ war, war sie ein leuchtendes Gesicht voller Sommersprossen.

Ihre Mutter stach sich beim Nähen in den Finger. Blut fiel in den Schnee. Ein Kind mit blutroten Lippen, einem leuchtenden Lachen und einem Gesicht voller Sommersprossen wünsche ich mir, sagte sie.
Dich haben die Zigeuner vor unsere Tür gelegt, sagten ihre Geschwister. Sieh doch, niemand von uns hat diese seltsamen Punkte im Gesicht.
Das ist keine schöne Geschichte, sagte meine Mutter und trennte den Stoff ihrer Geschichte wieder auf.

Meine Mutter ist eine Wunde und ein Wunsch.
Meine Mutter ist ein Blick aus dem Fenster direkt ins Herz.
Meine Mutter ist eine feste Burg.
Meine Mutter ist ein Blatt im Wind.
Meine Mutter braucht eine Mutter.
Meine Mutter ist meine Mutter und ein Meer von Geschichten.
Meine Mutter ist tot.
Aber ihre Sommersprossen, Punkt für Punkt Beweise der Liebe, sind unsterblich.
Meine Mutter ist das Fehlen ihrer Sommersprossen.

Meine Mutter ist aus Blut und Schnee. Schön und schrecklich. Nahrhaft und giftig.
Meine Mutter ist ein Refrain, ein Seufzer, ein Angstschrei.
Viel mehr als nur ein Wort.

Es gibt Fotos von meiner Mutter. Meine Mutter mit ihren Eltern, meine Mutter im Krankenhaus. Es gibt Geschichten, die sie mir erzählt hat. Und all die Geschichten, die sie mir nie erzählt hat. Es gab den Alkohol.
Die Erinnerung an Auseinandersetzungen und an Vertrauen. An Trauer und Trost. An Fragen, die zu spät gestellt wurden, um noch Antworten zu erhalten. Als wären sie, wie ich, Einzelkinder, die sich Geschwister gewünscht hätten.
Meine Mutter ist ein Märchen und ein Tatsachenbericht. Die Erfüllung aller Bedürfnisse, die Vertreibung aus dem Paradies. Meine Mutter ist eine Erbschaft und eine Bürde. Ein Schloss mit sieben Siegeln. Meine Mutter ist ein vernachlässigtes Grab und eine schwächer werdende Erinnerung. Eine offene Wunde und die Dehnbarkeit des Narbengewebes.
Meine Mutter ist das Verbergen einer Nachricht und das Verborgene des Offensichtlichen. Meine Mutter ist eine Mutmaßung und eine Zumutung.
Meine Mutter ist.
Und bleibt.
Meine Mutter.

Text: Elke Engelhardt

5 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 10: Elke Engelhardt

  1. Die Mutter bleibt immer die Mutter, ob als Mutmaßung, Zumutung oder eine Frau mit Sommersprossen und die Tochter bleibt immer die Tochter, mit allem Guten und Schweren. Danke für deine Mutmaßung, die mich sehr berührt.

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