24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 18 #Irm und die Graugans

Kürzlich sagt der Moderator in einer Talkshow, er fände es sehr bedauerlich, daß man sich nicht mal mehr als befreundete Menschen „mal eben so“ anrufen könne, geschweige denn, besuchen … so ganz ohne Grund, und alle in der Runde nicken und bestätigen es. Ja, ein Ausdruck unserer Zeit, in der man jede Minute „effektiv“ verplanen muß, um nicht in Gefahr zu geraten, Zeit zu verschwenden.

Wir haben das gestern getan, meine Freundin Irm und ich. Sie kommt, einfach so, mitten in mein vorweihnachtliches Chaos hereingeschneit und wir setzen uns hin mit einem Tannenzweig und einer Kanne Tee. Dann lassen wir uns einfach reden, was so daherkommt.

Aus unseren Gedanken züngeln die Flammen, wir vergessen darüber, eine wirkliche Kerze anzuzünden. Ein altes Thema, das uns beide schon seit vielen Jahren beschäftigt, wird neu belebt durch einen aktuellen Dokumentarfilm: „Fatima – Das letzte Geheimnis“. Auf unterschiedliche Weise sind wir vom Katholizismus geprägt, hatten im Laufe des Lebens beträchtliche Auseinandersetzungen damit, Zweifel und Verzweiflungen und können doch, zumindest die spirituelle Seite, die weit über alles hinausragt, nie ganz verlassen … ein Thema für die Rauhnächte bahnt sich an …

Wie das so ist, wenn Kanne um Kanne Tee geleert wird und wir schmunzeln, weil meine Weihnachtsplätzchen krachen beim Hineinbeissen, bewegen sich die Gedanken weiter und weiter in diesem Wunder einer völlig zeitlosen Begegnung … was wissen die Menschen in diesem Land eigentlich von Weihnachten … eine ehemalige Bischöfin schreibt ein Buch für Kinder, um ihnen die frohe Botschaft zu erklären … denn die Kirchen sind zwar überfüllt an Weihnachten, aber wer weiß es, daß das Heil, nach dem wir uns alle sehnen, von einem kleinen Kind in tiefster Armut ausgeht, dessen Eltern man verjagte, weil sie nirgends erwünscht waren … vor ein paar Tagen war eine Mutter mit schwerster Depression, barfuß, im vor Angst vollgenässten Nachthemd, in ein Flugzeug gesetzt worden, hier in Bayern, in Deutschland, und abgeschoben nach Albanien, wo sie die Blutrache befürchten muß … meine Güte.

Und Dein Projekt, die „24 T. – Mutmaßungen …“,  wie geht´s damit … oh ja, gut ist es gelaufen, obwohl ganz viele Angeschriebene sich einfach nicht gemeldet haben,  nicht jeder mag auf einer fremden Bühne als Gast gerade bei diesem Thema ihr/sein Gesicht offen zeigen, ist schon in Ordnung.

Irm sagt:

„Als ich diesen Titel gelesen habe war es mir, als würde ein schwerer Mantel mich umfangen. Er zieht mich in eine Schattenwelt, die sich in mir auszubreiten droht. Unangenehm düster und schuldbelastet erscheint die Geschichte dieses Landes, das mich beheimatet. Irgendwie ein kollektives, schlechtes Gewissen, das sich mir aufdrängt. Vergessen all das andere, das mich in einem unglaublich reichen Land leben und trotz aller Ecken und Kanten in Freuden sein und tun lässt.

Deutsch sein – eine zutiefst eingepflegte Unsicherheit:

dürfen wir uns an unseren Talenten und Tugenden und deren Auswirkungen erfreuen – oder müssen wir den Blick dahingehend schärfen, dass ebendiese uns in zwei Weltkriege befördert haben? Welche dieser deutschen Tugenden sind denn an dieser Stelle von so großer Bedeutung?

Geht es nicht vielmehr darum, den Fokus auf das eigene Gedankengut zu legen. Das könnte eine schmerzhafte Wunde sein und dennoch lohnt es vielleicht, dieses Weh genauer zu erspüren. Gibt es vielleicht eine andere Seite der Medaille? – und könnte diese Vielschichtigkeit aus diesem Labyrinth von Schuld, aufgebaut in Generationen, einen Weg in eine andere Freiheit kennzeichnen?

Verantwortung für das weitere Ausmaß von Deutschsein versus ängstliches Betrachten von Deutschsein. Im Gegensatz zu Stolzsein für etwas – fern des eigenen Wirkungsbereiches – das scheinbar auf Neid und Angst vor Verlust und so einiges mehr fußt.

Auch wenn ich es manchmal nicht mehr hören kann – so scheinen mir Haltung und ein wertschätzendes Menschenbild, die Formeln für Frieden und Freiheit, sowie daraus folgende Zufriedenheit und Wohlstand zu sein und nicht so sehr die Pflicht, Pünktlichkeit, Sauberkeit und dergleichen, die uns so gerne beim Deutschsein zugeordnet werden.

Wenn ich mir für Weihnachten was wünschen könnte, so würde ich mich an Mitmenschen in meiner Heimat erfreuen, die sich mit einem Lächeln begegnen und die unglaublich anstrengenden Regelwerke wie:  schön, sauber geputzt und dekoriert, ordentlich und gepflegt im Äußeren und superfleissig in der Arbeit – einfach mal ins Kammerl sperren und die Seele baumeln lassen!

Ich freue mich auf ein weiteres Jahr in diesem wunderbaren Land mit dieser abwechslungsreichen Landschaft und mit Menschen, deren Herzen mich mit einer Großzügigkeit hineingelassen haben UND nicht zuletzt auf zauberhafte Märchen und Geschichten, welche ich auch immer mit Deutschsein verbinde!“

Es ist finster geworden, ich zünde die Kerze in der Laterne vorm Haus an und begleite Irm zum Auto … auf bald! Ja, auf bald , das ist alles noch nicht  zu Ende gedacht, nein, natürlich nicht, ich bleib dran! – ruft sie mir noch zu und fährt weg. Die Sterne funkeln auf einmal so stark wie noch nie in diesem Winter und der Schnee glitzert, wie die Augen meiner Freundin, wenn sie lächelt.

 

 

3 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 18 #Irm und die Graugans

  1. Ich mag diesen Text sehr, liebe Frau Graugans. Das Schwere eingebettet in die Wärme einer langen Freundschaft. Ein wenig ist es ja auch mit dem Deutschsein so: es hüllt das Grauenhafte heimatlich wärmend ein, mit all den „zauberhafte Märchen und Geschichten“, Landschaften und befreundeten Menschen und Dichtern, die mit mir eine gemeinsame Sprache sprechen. Ich wäre ja nicht ich, würde mich, zum Beispiel, dieses Gedicht von Trakl nicht seit Kindesbeinen begleiten. Ist es deutsch? Griechisch? ist es nicht beides?

    Grodek.

    Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
    Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
    Und blauen Seen, darüber die Sonne
    Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
    Sterbende Krieger, die wilde Klage
    Ihrer zerbrochenen Münder.
    Doch stille sammelt im Weidengrund
    Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
    Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
    Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
    Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
    Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
    Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
    Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
    O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
    Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
    Die ungebornen Enkel.

    1. Schön hast Du das gesagt, liebe Gerda … und auf Trakls Spuren gehe ich manchmal durch Salzburg , dort sind sie in Goldschrift in Mauern und Steinen eingraviert … Gasse für Gasse … von Gedicht zu Gedicht …
      Alles ist es, dieses Gedicht, weil das Herz darin pocht, auch heute noch, ich höre es schlagen. Seit vielen Jahren verfolgen mich seine Worte: „Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt“ … und sie erschließen sich mir nicht wirklich, geben ihr schmerzendes Geheimnis nicht preis…

  2. Liebe Gretl, nun höre ich auch einmal wieder den König von Deutschland und lächeln meine Gänsehaut hoch und runter dabei,der Fuß, der wippt und Erinnerungen steigen auf, danke dafür. Ja, das ist eben auch Deutschland, Rio Reiser, Ton, Steine, Scherben, Tote Hosen, Ärzte und …
    Herzwärmend dein Text, die Begegnung von dir und deiner Freundin, ihrer Beschreibung was das Thema spontan bei ihr ausgelöst hat und dann alle diese Fragen, über die es lohnt weiter nachzudenken. Genau, es ist eben noch nicht alles zuende gedacht.
    Deinem Weihnachtswunsch schließe ich mehr sehr gerne an und gell, am Freitag … ob deine Freundin auch dabei sein wird?
    herzliche Frühabendgrüße an dich
    Ulli

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