Archiv für den Tag: 3. Dezember 2018

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 3 #Andreas Wolf

My Spanish Heart

Nach meinen Gedanken zum Deutschsein befragt, fiel mir komischerweise als erstes eine Geschichte über das Spanischsein ein, die handelt von meinem Großvater, geboren in Granada, der in den zwanziger Jahren nach Deutschland auswanderte, wo er meine Großmutter kennenlernte, sie heirateten, dann wurde meine Großmutter schwanger, wie man das damals eben so machte, alles hübsch der Reihe nach. Nun war mein Großvater der Meinung, seine Kinder müssten unbedingt auf spanischem Boden geboren werden. Sonst wären die ja gar keine richtigen Spanier. Sie fuhren also pünktlich zum Entbindungstermin nach Spanien, eine sehr anstrengende, aufreibende Reise, ein erzwungener Aufenthalt in Paris, meine Großmutter wird plötzlich schwer krank, trotzdem reisen sie weiter, als sie endlich in Spanien sind, kommt das Kind tot zur Welt. Sie begraben es in spanischer Erde. Wären sie nicht losgefahren, wären sie einfach zuhause geblieben, wer weiß, da hätte das Kind vielleicht leben können.

Meine Großeltern bekamen dann noch sechs Kinder, das vorletzte war meine Mutter. Alle wurden in Deutschland geboren, wenigstens von dem Wahn war mein Großvater geheilt.

Meine Großmutter, dieselbe Frau, die ihr erstes Kind tot in Spanien zur Welt gebracht hatte, war für mich als Kind der wichtigste Mensch überhaupt, meine Liebe zu ihr ist bis heute grenzenlos, ich lernte von ihr alles, unter anderem das Sprechen, wofür ich dann im Dorf bei uns schon schnell den Titel „Saupreiß“ verliehen bekam. Dass das verhasste saupreißische Idiom, dessen ich mich offenbar befleißigte, diese Sprache von Schweinen, dieses unerträglich schweinische Gegrunze, das ich unablässig absonderte, in Wahrheit das eigentliche, ganz normale Deutsch war, lernte ich erst später, in der Schule, da war meine Großmutter schon tot. Und auch der bayrische Opa, der immer am schlimmsten darüber gewütet hatte, dass sein Enkel eine falsche Sprache sprach, die meisten seiner grotesken Verwünschungen verstand ich gar nicht, auch er lag damals schon im Grab, als sich in der Schule mein vermeintliches Defizit, mein schreckliches Stigma plötzlich in etwas Gutes verwandelte. Ich redete und schrieb die von der Lehrerin erwünschte Sprache. Eine Sprache, die gar nicht Saupreißisch hieß, sondern schlicht und einfach Deutsch. Diese komische Sprache, mit der sich all die anderen so furchtbar schwer taten, ich konnte sie, ich hatte gar keine andere, nur die hatte ich gelernt, von meiner spanischen Großmutter.

 

Text:  Andreas Wolf
Blog:  Wald und Höhle