Archiv für den Tag: 2. Dezember 2018

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 2 #Stefan Heyer

Olsztyn: Agnieszka

Einmal im Monat fuhr sie mit dem Fernbus nach Olsztyn. Ihre Eltern lebten noch dort. Meistens fuhr sie um 18.45 Uhr ab München. Es gab auch andere Verbindungen. Doch dann müsste sie umsteigen. Mit etwas Glück war sie um 14.20 dann in Olsztyn. Gerädert. Doch die Busfahrt war günstig. Ein Flug ging zwar schneller. Doch dann müsste sie ab Warschau schauen, wie sie weiterkommt. Wenn sie heim fuhr, hatte sie nicht viel Gepäck dabei. Sie arbeitete im Krankenhaus. Verdiente nicht schlecht. Mehr als in Polen. Hatte Deutsch gerne gelernt. Wollte raus.
Früher war Olsztyn Ostpreußen gewesen, hatte zu Deutschland gehört. Deutsche gab es fast keine mehr in Olsztyn. Während und nach dem Krieg waren sie geflohen. Agnieszka hatte nichts gegen die Deutschen. Hatte gerne ihre Sprache gelernt. Ihre Eltern hatten es nicht so gern gehabt, dass sie Deutsch lernte. Sie hätte daheim bleiben sollen. In Masuren war außer im Sommer wenig los. Im Sommer kamen viele Touristen. Die Seen waren wunderschön. Im Winter lag viel Nebel und Schnee. Da kamen keine Touristen. In Olsztyn gibt es jetzt sogar einen Flughafen. Nur selten billige Tickets. Der Flughafen war nicht neu. Alter Militärflughafen. Agnieszka mochte ihn nicht. Der CIA hatte ihn wohl öfter mal benutzt für besondere Missionen. Flüge aus Afghanistan waren dort gelandet. Agnieszka mochte den Winter in Masuren nicht. Selten war Sonne zu sehen. Kälte kroch in die Glieder. Wodka trank sie nicht. Ihre Generation trank kaum Wodka. Wodka tranken die Alten. Die Jungen hatten Ziele. Wollten Geld verdienen. In England. In Deutschland. Schöne Klamotten tragen. Schöne Autos fahren. Urlaub in Italien machen.
Den Sozialismus hatte sie nicht kennengelernt. Sie war zu jung dafür. Wollte davon auch nichts wissen. Vom 2. Weltkrieg wollte sie auch nichts wissen. Früher hatte es in Olsztyn viele Juden gegeben. Um die 500 müssen es gewesen sein, bevor die Nazis kamen. Für die Juden hatte sie sich immer interessiert. Früher gab es eine Synagoge. Zerstört. Vom jüdischen Friedhof ist kaum noch was zu erkennen. Ist aber nicht zerstört worden. Agnieszka geht gerne dort spazieren. Geblieben ist das Leichenhaus.
Wenn Agnieszka heim kommt, gibt es immer Piroggen. Oder Fisch. Wenn Vater einen gefangen hatte. Fisch gab es dauernd. Den vermisste sie in München am meisten. Der war ihr in der großen Stadt viel zu teuer. Und oft nicht frisch genug. Zander. Barsch. Hecht. Sie war nicht wählerisch. Nur frisch musste er sein.

 

Text: Stefan Heyer
Blog: ORANGEBLAU