Weiberschlucht das heißt Babyn Jar. In Kiew. In der Ukraine.
Ich stehe am Abgrund. Am 29. und am 30. September 1941 wurden 33.771 Juden hier an dieser Stelle erschossen. In großen Marschgruppen kamen die Juden. Aus der Stadt Kiew und aus der Umgebung. Freiwillig. In der Hoffnung auf Züge, die sie weiter in den Osten bringen sollten. Das hatten die Deutschen versprochen. Bereits in der Stadt an entscheidenden Kreuzungen Gestapo-Leute, die den Menschenstrom lenkten. Sie hielten sich im Hintergrund. Geordnet. Ein logistisches Großprojekt. Minutiös geplant. Präzise. Effizient. Ja, die Ukrainer haben geholfen. Bereitwillig. Mich interessiert aber die »Projektabwicklung«. Spezialisten. Gingen mit der Erschießung um, wie mit einem Großtransport, bestehend aus vielen Einzelteilen. Exakte Arbeitsteilung. Exakte Zeitplanung. Schichtdienst. Mechanisierung des Tötens. Großteils SS-Angehörige. Aber auch Wehrmacht.
Vorher »normale Deutsche«. Hinterher »normale Deutsche«. Die, die später nicht identifiziert und verurteilt wurden … also die Mehrheit … leben noch heute unter uns. Als geliebte Großväter. Viele, die irgendwann am Grab ihrer Großväter oder Väter standen, hatten keine Ahnung davon.
Ich stehe genau an dem Abgrund, an dem damals die Kiewer Juden heruntergestoßen wurden. Um unten in der Schlucht erschossen zu werden. Es ist November. Schneeregen. Lehmboden. Steile Schlucht. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich will nach unten sehen. Verliere das Gleichgewicht. Komme ins Rutschen. Rutsche. Genauso wie die Juden damals. Hinunter zum Boden der Schlucht. Verdreckt stehe ich auf und gehe zurück zur Metro. Blonde Ukrainerinnen schauen mich skeptisch an. Im Zug geht man auf Abstand. Man will sich nicht schmutzig machen.
Meine Großmutter. Nimmt mit einem Blick der Ehrfurcht ein Buch in die Hand. Erzählt, dass sie dieses Buch all die Jahre retten konnte. »Solche Bücher gibt ja heute nicht mehr, sagt sie«. Auf dem Titel steht in Goldprägung »Unser Heldenkaiser«. Sie erzählt dann mit glänzenden Augen von ihrem Vater. Kaiserlicher Offizier. Später Bahnhofsvorsteher. Beamter. Ein stattlicher Mann. Sonntags immer Spaziergang mit Degen. Sie erzählt vom Kaiser. Dann von den Braunen. Scheußliche Uniformen. Schlechte Umgangsformen. Schlechter Stoff der Uniformen. Die schreckliche Ruhrbesetzung durch die Franzosen. Von ihrem Vater als Erniedrigung erlebt. Wollte zu den Freicorps. Aber zu alt. Hat die »Ruhrschmach« an sie weitergegeben. Sie zieht ein weiteres Buch aus dem Bücherschrank. »Feind im Land«. Es steht noch ihr Mädchenname im Innentitel. Nein, sie war ganz sicher keine NationalsozialistIn. Sie stand für eine protestantisch-preußische Tradition. Sie glaubte an deutsche Tugenden. Für sie war »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen« keine Worthülle. Für sie war das eine Tatsache. Die Nazis haben alles vertan. Die Größe Deutschlands. Die Nazis waren in ihren Augen profan. Ohne Glanz. Ohne Würde. Das warf sie ihnen vor. Juden. Schreckliche Dinge. So war das eben… Dann schlägt sie die Frau im Bild auf, liest von irgendeiner hohen Heirat aus der hannoverischen Linie.
Ich denke nach. Deutschsein. Deutsche Tugenden. Deutsche Nation. Wann hat das begonnen? Viel später als gedacht. Norddeutscher Staatenbund ab 1866. Dann preußisches Kaiserhaus. Vorher zwar Römisches Reich deutscher Nation. Aber das war etwas Anderes. Bin kein wirklicher Geschichtskenner. Während in Frankreich und England schon kräftig an der Nationenwerdung gebastelt wurde, gab es in Deutschland Viel- bzw. Kleinstaaterei. Erst ab 1848 kann so allmählich von einer echten deutschen Nation gesprochen werden. Vielleicht sehen das Historiker anders. Kommt vielleicht daher so etwas wie ein immwährendes deutsches Minderwertigkeitsgefühl? Gute Geschichten wollen klar umrissene Helden, die zwischen Gut und Böse trennen. Die Tradition der starken Monarchen findet in Deutschland immer nur eine eher schwächliche Variante. Deutsches Kaiserhaus. Naja. Deutsche Kolonien. Naja. Wenn also Nationen so etwas wie Ideenwelten zur Ordnung der Welt sind, ist die in Deutschland verspätet und lange sehr schwach. Vor dem ersten Weltkrieg kommt mir Deutschland so vor, wie ein zu schnell gewachsener, altkluger Junge, der jetzt vehement und jähzornig auf sein Recht pocht. Flankiert von deutschem, völkischen Nationalismus: Wir mussten aufholen. Mangels glorreicher monarchischer Tradition kam das Argument der rassischen Stärke…
Mein Vater. Blond. Blauäugig. Erzählte mit Ehrfurcht von den deutschen Landsern. Er war noch zu jung für den Krieg. Zu jung für Volkssturm und all die anderen Dinge. War wohl gern gesehen bei den Nazigrößen der Heimatstadt. Eines Weihnachtens bekam er von meinem Großvater eine geschneiderte Kinder-Landser Uniform geschenkt. War stolz darauf. Es gibt Fotos davon. Hätte das tausendjährige Reich länger gedauert, wäre er sicher seinen Weg gegangen. Hat ins Bild gepasst. Germanisch. Deutsch. So hatte er Glück. Aber das sage ich und nicht er. Die Erlebnisse gaben dennoch Prägung. Für das ganze Leben. War immer konservativ. Nie ausgesprochen rechts. Immer unauffällig in der Mitte.
Meine Mutter. Aus Pommern. Pietistisches Elternhaus. Freie evangelische Gemeinde. Gibt des Kaisers was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist. Die Strenggläubigkeit bewahrte vor Nazi-Anhängerschaft. Eine Großtante, die in den frühen 30er Jahren als evangelische Diakonisse nach Amerika ging. Im Namen des Herren. Eine Tante die als Diakonisse nach dem Krieg in der DDR verblieb. Meine Mutter macht ihre Ausbildung in der noch jungen DDR. Kehrt nach einem Verwandtenbesuch aber nicht zurück. Zwei Jahre später werde ich geboren. In meiner Kindheit Pakete für meine Tante in die DDR. Ich musste immer einen Brief schreiben. Jedes Mal eine Tortur. Kannte sie ja gar nicht. Die Pakete hatten einen doppelten Boden. Da hinein kamen die guten Sachen. Die gute Schokolade. Als Kind hätte ich sie gern selber gegessen. Aber das durfte ich nicht laut sagen.
Protestantismus. Pietismus. Kant. Und ich. Pietismus kommt von Pflichtgefühl, Pflichtbewusstsein, Ehrfurcht, Frömmigkeit. In meiner Familie die vorherrschende Glaubensrichtung. Ich kann Frau Graugans nie erschöpfend erklären, was der Pietismus beinhaltet. Ich kann nur sagen, wenn ich einen Pietisten vor mir habe, erkenne ich ihn. Ich habe Antennen, ein »Gefühl« dafür. Pietismus mit seinem Pflichtgefühl gehört für mich nicht nur zu meiner Familie. Pietismus gehört zu Deutschland. Ein Stallgeruch.
In einem Quergedanken fällt mir Moritz Schreber ein, mit seiner Erziehung zur »Triebableitung«. Auch er hat etwas mit Pietismus und Deutschsein zu tun. Pietismus meint: Das körperliche, lustvolle verneinen. Immerwährende Verantwortlichkeit gegenüber »dem Herrn«, relative geistige Freiheit gegenüber »den Herren der Welt«. Verantwortung für das eigene Tun übernehmen, persönlich seinem Gott gegenübertreten.
Da begegnet sich der strenggläubige Pietist und der Aufklärer Kant. »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« oder auch »Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu werden, sondern um unsere Pflicht zu erfüllen.« Ja, wenn ich darüber nachdenke, komme ich aus dieser Gemengelage, glaube ich, daß dies zum Deutschsein zumindest in einer Facette gehört. Ich kann tun, was ich will, der leichtfüßige Papillon werde ich wohl nie werden…
Ein Ostpaket. Zu meinem Geburtstag 2018 erhielt ich von lieben Freunden ein Ostpaket. Mit Produkten, die zumindest markentechnisch ihren Ursprung in der ehemaligen DDR haben. Ich fragte, wie es war, wenn sie damals »Westpakete« erhielten. Eigentlich wollte ich fragen, wie das Leben in der DDR überhaupt war. Eigentlich war mir aber auch klar, dass es hier keine erschöpfenden Antworten geben kann. Das ist wie zur Zeit der »Westpakete«, wenn ein Foto meiner Tante zurück kam. Für meine Mutter eine Freude und sofortiger Anknüpfungspunkt. Für mich nur die Unmöglichkeit mit diesem Foto etwas zu verbinden. Fremde Erinnerungen, nicht meine Erinnerungen. Auch erkenne ich einen Unterschied in deutscher Wahrnehmung. Abgehängtsein ist ein Wort. Da ist nicht persönliches Abgehängtsein gemeint. Dafür gäbe es keinen wirklichen Grund. Da ist kollektives Abgehängtsein gemeint. Nicht wirklich angekommen sein. Eine Empfindung, die ich nicht haben kann, denn ich bin ja schon immer da… habe dadurch bereits meinen »Erbplatz«; bin kein neu hinzu gezogener.
Mutmaßungen über das Deutschsein? Nein, Mutmaßungen über das Deutschsein kann ich nicht liefern, liebe Frau Graugans. Wenn, dann Mutmaßungen »im« Deutschsein. Wenn ich den Versuch machte wäre es das gleiche wie jener aus Sparta, der sagte, alle Spartaner wären Lügner, obwohl ja bekannt war, dass die Menschen aus Sparta lügen… Hat jener jetzt gelogen oder nicht? Eine Form der Selbstreferenzialität. Viele fühlen sich dazu berufen. Weil sie glauben, man könne von außen in sich hineindenken. Draufsichten des Glashauses, in dem man selber sitzt. Drin sitzen und Draufschauen geht aber nicht gleichzeitig.
Deshalb überlasse ich das Draufschauen lieber anderen, die meinen, dieser Spagat wäre schaffbar und liefere weitere Gedanken am morgigen Tag …
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